28. Die Selbstaufmunterung nach überstandener Gefahr half oft, wieder Mut zu fassen. Nach der Explosion des Labyrinths hatte das funktioniert. Jetzt nicht.

Kepler sah zur Seite. Sie waren vierundzwanzig, als sie aus Gondwana aufbrachen. Dann hatten sie noch Hefaisoii aufgelesen. Und jetzt waren sie zu siebt. So grotesk waren Keplers Verluste noch nie gewesen, schon gar nicht innerhalb von nur drei Tagen. Das hier war kein Krieg, das war ein Gemetzel.

Auf die Idee, den toten Bogenschützen zu begraben, kam niemand, und Kepler wollte keine Zeit verlieren. Er brauchte nicht auf den Mähdrescher zu klettern, um festzustellen, dass der Kampf in den Bergen immer noch tobte. Das war in der kristallklaren Morgenluft auch von hier aus erkennbar. Genauso wie die Tatsache, dass die Heftigkeit dieses Kampfes abgenommen hatte. Entweder gewannen die Syths die Kontrolle zurück, oder aber sie wurden nach und nach ausgelöscht. Kepler wünschte sich das Zweite und war vom Ersten überzeugt.

Er ging der Gruppe voran los, nachdem er die Glock eingesteckt und den Rucksack geschultert hatte. Das Gewehr hielt er in den Händen. Nicht im Anschlag, aber mit dem Zeigefinger am Abzug. Darr ging neben ihm, die anderen dahinter. Sie sprachen leise. Sie hörten sich nicht direkt fröhlich an, aber allmählich auch immer weniger niedergeschlagen.

Der zweite Flug-Gool hatte sich durch den Aufprall mit Sicherheit in kleine Stücke zerlegt. Kepler wollte jedoch wissen, mit was für einem Feind er es jetzt zu tun hatte, deswegen führte er die Gruppe zum Kadaver des ersten fliegenden Gools. Zehn Meter davon entfernt blieb er stehen. Schon von hier aus war es grausam. Das nicht vom Magensaft weggeätzte Gras schimmerte rot. Von Hefaisoii waren nur einige gelbliche geleeartige Klumpen übriggeblieben und seine Beinprothese. Sie war auch blutverschmiert. Die Unterhaltungen verstummten.

Zu Keplers Zeit war es andersherum. Man war wegen eines gefallenen Kameraden schwermütig gewesen und hatte beim Anblick des toten Feindes zumindest Genugtuung geäußert. Die Gondwaner hatten vorhin entsetzt auf die Leiche des Bogenschützen geblickt, doch der Anblick des Gools machte sie viel schwermütiger. Sie schienen den toten Bogenschützen vergessen zu haben, der unbegraben an der Feuerstelle liegengeblieben war.

Das war wohl reine Selbstschutzreaktion, in einer Welt, die innerhalb weniger Jahre fast vollständig entvölkert worden war. Darr nicht, aber andere Menschen dieser Zeit haderten mit dem Tod anderer offenbar viel weniger als Kepler.

Richtige Soldaten taten das nie. Sie akzeptierten den Tod, er war Teil ihres Daseins. Aber auch wenn sie es selten offen zeigten, sie hassten ihn abgrundtief.

Kepler hatte nie einen toten Kameraden vergessen. Und im Prinzip hatte er stets ähnlich wie die Gondwaner gehandelt. Wie unzählige Male zuvor schob er auch jetzt die Trauer in sich hinein und begrub sie unter nüchternem Denken.

Darr sah auf den Flügel. An der unteren Kante war die Flugmembran angesengt. Der Wissenschaftler richtete den Blick stirnrunzelnd auf Kepler.

"Wie haben Sie das Feuer so schnell entfacht?", wollte er wissen.

"Kalkt es bei Ihnen im Hirn?", fragte Kepler zurück. "Das ist einfache Physik."

"Ihre Gegenfragen haben einen zweifelhaften Scharm", behauptete der Wissenschaftler ein wenig aufgebracht. "Ich bin für globale Probleme zuständig, Sie für temporäre. Also erklären Sie es mir einfach, damit ich mich fortbilde."

"Wasser hat eine höhere Dichte als brennendes Fett, deswegen sank es auf den Boden der Steinkuhle", folgte Kepler der Bitte. "Dort verdampfte es augenblicklich, weil das Fett beim Brennen mehrere hundert Grad heiß ist. Dabei dehnte das Wasser sich schlagartig aus und schleuderte das Fett hoch."

"Eigentlich logisch", meinte Darr nach einigen Sekunden.

Kepler enthielt sich eines Kommentars und sah nach links.

"Homeroii, du hast noch nie mit der Pistole geschossen. Übe ein bisschen."

Der wortgewandte Bogenschütze trat vor und richtete die Glock auf den toten Gool. Die ersten drei Schüsse gingen daneben. Die nächsten zerrissen den Flügel, mit dem das tote Monster sich selbst bedeckt hatte.

"Wie geht das eigentlich?", fragte Kepler und deutete auf den Kadaver.

"Die Syths können in die Gool-Larve einen Teil der DNA ihres Wirtes übertragen", antwortete Darr. "Deswegen rennen manche Gools auf vier Pfoten. Die, die in einem Tier gezüchtet wurden. Habe ich doch schon zweimal erklärt."

"Ich meinte etwas anderes, aber jetzt weiß ich es", sagte Kepler, auf die ausgefransten Löcher blickend. "Die Syths haben eine Larve wohl in einen Flughund eingepflanzt. Wenn nur zwei solche Monster gemacht wurden, haben wir hoffentlich was Größeres verhindert", meinte er. "Toii, brate das Ding weg."

Die Gruppe zog sich zurück. Toii blieb nach zwanzig Metern stehen und pulverisierte die Überreste des fliegenden Monsters mit der Lichtbogenwaffe.

"Dirk", begann Darr nachdenklich die Stirn runzelnd, "Sie hat es nicht angegriffen. Ob das daran lag, dass Sie sich mit Polyglukol eingeschmiert haben?"

"Hoffentlich."

"Wie sind Sie auf die Idee gekommen?", wollte Darr wissen.

"Es gibt viele Tiere, die Duftstoffe für die Abwehr einsetzen."

"Sie können in vielen Dimensionen denken und völlig unterschiedliche Dinge miteinander verknüpfen", sagte Darr. "Wie haben Sie das gelernt?"

"Bevor Sie mich holten, um die Zukunft zu retten, war ich damit beschäftigt, die Vergangenheit zu demolieren", antwortete Kepler und sah ihn an. "Menschen sind oft perfider als jedes Monster. Um zu überleben muss man noch böser sein. Und manchmal halt arglistiger."

"Sie wollen trotzdem unbedingt zurück", entgegnete der Wissenschaftler.

"Und zwar so schnell wie möglich", bestätigte Kepler nachdrücklich.

"Wegen Lisa?", vergewisserte Darr sich. "Wirklich nur ihretwegen?"

"Klar, sonst würde ich hier Urlaub machen", gab Kepler zurück. "So sind sie, kommen daher, wickeln dich ein und dann musst du Probleme lösen, die du sonst nie gehabt hättest", ergänzte er murrend. Dann lächelte er. "Seltsam ist nur... ich habe es lieber so herum, als keine Lisa."

"Das verstehe ich nicht", teilte Darr ihm ratlos mit.

Er hatte die Wahrheit gesagt. Kepler tat es ihm gleich.

"Ich auch nicht", sagte er. "Überhaupt nicht. Ich liebe Lisa einfach."

Er führte die Gruppe an den Nil. Fliegende Gools hatten als Feinde den Vorteil, dass sie im Hellen vom Weiten gesehen werden konnten. Sollten die Syths noch extravagantere Versionen gezüchtet haben, zum Beispiel auf Basis von Schlangen oder Skorpionen, wären diese im Gras nicht auszumachen.

Und wieder grämte Kepler das Verhalten der neuzeitlichen Menschen. Nur das von Darr nicht, weil der Wissenschaftler sich mit aller Macht seine Verhaltensweisen aneignen zu wollen schien. Die anderen, obwohl sie die Verhältnisse dieser Zeit sehr gut kannten, bewegten sich überhaupt nicht vom Fleck, hatte Kepler das Gefühl. Am Tag zuvor hatte ihnen wohl die Angst zu einem flotteren Tempo verholfen, heute, trotz des Todes des Bogenschützen und der Drachengefahr, schleppten sie sich mehr hin, als dass sie marschierten. Oder gerade weil sie sich vor einer neuerlichen Begegnung mit Monstern oder Außerirdischen fürchteten. Sogar Toii, der eigentlich als moderner Krieger geschaffen worden war, schien es auf dem direkten Weg zu den Bergen nicht eilig zu haben.

Kepler nahm erneut eine Veränderung in der Umgebung wahr. Das Leben in der Savanne hatte sich noch mehr zurückgezogen. Die Hoffnung, dass nur die fliegenden Monster der Abriegelung des Stützpunktes entkommen waren, löste sich damit immer mehr auf. Jemand aus einer anderen Welt, oder wahrscheinlich mehrere davon, waren wieder unterwegs. Kepler hielt das Gewehr bereit.

Das Gelände stieg leicht an und nach zwei Stunden hatte die Gruppe mit Mühe und Not gerade mal fünf Kilometer zurückgelegt, und Kepler dachte wieder darüber nach, die Reise allein mit Darr fortzusetzen, als ihm noch etwas auffiel, das nicht gänzlich in die Umgebung passte. Er blieb stehen.

"Darr, gibt es Menschen in dieser Gegend?", wollte er wissen.

"Direkt hier eigentlich nicht, nein", antwortete der Wissenschaftler. "Sonst streifen auf dem gesamten Kontinent kleine nomadische Gruppen herum."

"Was sind das für Leute?", wollte Kepler wissen.

"Die waren schon immer der gleichen Auffassung über die Maschinen wie Sie", erklärte Darr. "Man nennt sie Verstoßene, weil sie sich nicht der allgemeinen Ordnung fügen wollten. Sie existierten quasi außerhalb der Zivilisation."

"Wie stehen sie mit den Syths?"

"Genauso wie alle anderen", antwortete Darr. "Mit den Gools ebenfalls."

"Na die Viecher würden einander killen, wenn sie keine Beute fänden", mutmaßte Kepler. "Aber Ihr Kenntnisstand ist falsch. Diese Verstoßenen sind hier."

"Wo?", fragte Darr erstaunt und sah sich verdattert um.

"Na da." Kepler deutete nach vorn. "Die drei Büsche da links und die beiden am Ufer. Und die Hyänen, die uns seit zwanzig Minuten verfolgen."

Darr hatte nicht die geringste Ahnung wovon er sprach. Nachdem der Wissenschaftler sich genauer umgesehen hatte, runzelte er zweifelnd die Stirn.

"Was ist mit den Büschen und den Hyänen?", wollte er wissen.

"Die Büsche wachsen nicht so nah am Wasser und im Allgemeinen wandern sie auch nicht", antwortete Kepler. "Und Hyänen bewegen sich anders."

"Die Büsche haben sich bewegt?", staunte Darr. "Habe ich nicht gesehen."

"Dann basteln Sie sich eine Brille sobald wir in Ofir sind."

"Eine was?"

"Eine Sehhilfe wie die Syth-Maske, nur ohne Maske, es sind optische Linsen in einem Drahtgestell. Man setzt sie sich auf die Nase und sieht gleich klug aus."

"Was sind Sie denn so brastig heute?", wollte Darr wissen. "Und wieso sollte uns jemand hier auflauern?"

"Weil, werter Weltenretter, sich hinter dieser Anhöhe ein Tal befindet und darin ein Wäldchen steht", gab Kepler zurück. "Dort warten bestimmt welche auf uns, und die hier werden in unserem Rücken sein. Das nennt man umzingeln. Zu welchem Zweck es die Verstoßenen allerdings tun wollen, ist mir unklar."

"Was denn für ein Wald?", fragte Darr immer mehr verwirrt.

"Sie haben ein Satellitenbild für mich gemacht. Selbst auch darauf gesehen?"

Trotz Keplers ziemlich erbosten Tones blickte Darr nach wie vor nicht nur nicht überzeugt, sondern sogar sehr deutlich skeptisch. Bevor die Anmerkung kam, dass es möglicherweise Sinnestäuschungen waren, hervorgerufen durch russische Aufputschmittel, hob Kepler einen kleinen Stein auf und schleuderte ihn in den nächsten Dornstrauch. Der Stein verschwand in den Ästen und es gab dabei ein seltsam dumpfes Geräusch. Trotzdem schien der Wissenschaftler ernste Sorgen um Keplers geistige Gesundheit zu bekommen. Beruhigend hob er die Hand und lächelte dabei ungekonnt einschmeichelnd.

"Dirk, bitte, wir sollten eine Pause machen", schlug er sanft vor.

Kepler sah nach Norden.

"Na gut, solange der Olymp noch raucht", erwiderte er, "pausieren wir mal im Schatten dieses Busches da."

Er hängte das Gewehr über die Schulter und Darr atmete sichtlich erleichtert durch. Auf ein Handzeichen des Wissenschaftlers hin schlossen die anderen zu ihm auf und zusammen folgten sie Kepler. Während die Gruppe sich auf Darrs Gesten hin übertrieben gleichgültig und ehrlich erleichtert niederließ, baute Kepler sich vor dem Dornstrauch auf.

"Komm raus", befahl er.

Nichts passierte. Nur der Wind raschelte mit den kauzig-grünlichen Ästen des Busches. Kepler beugte sich und sammelte eine Spinne ein, die in ihrem Nest, das sie zwischen mehreren großen Grashalmen aufgespannt hatte, auf Beute wartete. Es war eine harmlose kleine Webspinne, aber die meisten Menschen empfanden Abscheu vor diesen Tieren.

"Wohin willst du sie haben?", erkundigte Kepler sich.

Der Busch ignorierte ihn weiterhin. Er warf die Spinne in die unteren Äste.

Mit einem angewiderten Aufschrei sprang ein Mann hoch und schüttelte sich ziemlich wütend. Die an seinem Rücken befestigte Pflanze ließ ihn wie ein Stachelschwein wirken. Der Mann pfiff schrill, dann zog er einen Kurzbogen hervor und einen Pfeil. Er spannte die Waffe innerhalb eines Atemzuges und richtete die Pfeilspitze auf Keplers Brust. Im selben Moment sprangen vier weitere Männer hoch, die sich als Büsche getarnt hatten, einer fast direkt neben dem ersten, die anderen drei einige Meter weiter links. Während sie näher kamen, spannten sie wie der erste ihre Kurzbögen. Allerdings zielten sie nicht auf Kepler, sondern auf die Gruppe.

Die Männer wussten, was sie taten. Während die Gondwaner verdattert auf sie blickten, zogen die ihren Kreis enger ohne sich darum zu scheren, dass sie überlegene Syth-Waffen sahen. Ihr Kalkül ging auf, wie vor Angst gelähmt, machten die Gondwaner keine Anstalten, sich zu wehren.

Kepler musterte die Männer schnell. Sie waren klein, hager, blickten grimmig und entschlossen. Der größte Unterschied zu den Gondwanern war, dass sie Vertrauen in sich selbst hatten. Und dass sie sich stetig weiter entwickelten, um zu überleben. Ihre Tarnung war sehr gut und die Enden ihrer Bögen waren zurückgebogen. Dadurch hatte die Waffe einen erheblich höheren Wirkungsgrad.

Augenscheinlich misstrauten die Verstoßenen dem Rest der Welt uneingeschränkt. Wahrscheinlich, weil sie sie gut kannten. Nur Keplers Aufmachung und sein Verhalten irritierte sie. Seine Augen auch, der Mann vor ihm starrte ihn verdattert an. Kepler hob die Hände an und zeigte deutlich, dass sie leer waren.

"Frieden", rief er. "Ich bin keine Syth."

Das war dem Bogenschützen auch so klar. Darüberhinaus hegte er keine Sympathien. Weder für Kepler noch für die anderen.

So zügig er seine Entscheidung traf, Kepler sah sie an der winzigen Bewegung des gekrümmten Ellenbogens. Er drehte sich schnell. Im selben Moment ließen die Finger des Mannes die Sehne los und der Pfeil surrte an Keplers Brust vorbei. Kepler schlug in der Drehung mit dem rechten Bein aus. Sein Stiefel traf den Verstoßenen unter dem Kinn und warf ihn rücklings auf die Erde. Kepler duckte sich und zwei weitere Pfeile flogen über ihn hinweg. Während er sich wieder aufrichtete, riss er das Gewehr von der Schulter und schlug den zweiten Schützen mit dem Kolben nieder. Einer der Verstoßenen links von ihm hatte den nächsten Pfeil schon eingelegt. Kepler war mit einem Satz bei ihm, warf den Oberkörper zur Seite, um dem Pfeil zu entgehen, schlug mit dem rechten Fuß in die linke Kniekehle des Mannes und beförderte ihn anschließend mit einem Tritt gegen den Hinterkopf auf den Boden. Das ausgestreckte Bein nutzte Kepler als Hebel, um den nächsten Sprung zu verlängern. Er schwang dabei sein linkes Bein und als er auf der Erde aufkam, schlug sein linker Fuß ins Gesicht des nächsten Verstoßenen. Der fiel nieder und Kepler schleuderte das Gewehr mit dem Kolben voran auf den letzten Gegner. Er verfehlte dessen Kopf, weil er das Gewehr am Trageriemen festhielt, verhinderte aber einen gezielten Schuss, der Pfeil bohrte sich links von Kepler und zehn Meter hinter ihm in die Erde. Der Verstoßene fasste seinen Bogen beidhändig an und holte aus. Kepler parierte den Schlag mit dem Gewehr, indem er es senkrecht vor sich hielt, und ging dabei auf ein Knie. Der Bogen federte zurück, als er gegen das Gewehr prallte und das drehte den Verstoßenen etwas. Kepler schlug mit dem Kolben gegen sein linkes Knie und sprang auf. Sein Gegner beugte sich infolge des Schlages, und er richtete ihn mit einem nach oben gerichteten Tritt ins Gesicht wider auf. Der Mann ließ den Bogen fallen und packte sich unwillkürlich mit beiden Händen an den Kopf. Kepler schwang sich hinter ihn. Er brauchte nur eine Bewegung, um das Gewehr an die linke Schulter zu hängen. Dann riss er mit der linken Hand den Kopf des Verstoßenen an den Haaren nach hinten und schlug ihm dabei gegen die Knöchel. Der Mann fiel auf die Knie. Kepler griff zum Messer. Im nächsten Augenblick legte er die Klinge an den Hals des Verstoßenen.

Zwei weitere als Hyänen getarnte Verstoßenen waren mittlerweile direkt hinter der Gruppe. Darr und Toii waren die einzigen, die sich in der Zwischenzeit gefangen hatten. Die Glock beachteten die Verstoßenen nicht, wohl in Ermangelung der Kenntnis, was sie war. Die auf sie gerichtete Lichtbogenwaffe ignorierten sie nach kurzem erstauntem Zögern und richteten ihre Bögen auf Kepler.

"Lasst fallen", rief er ihnen zu.

Die beiden Männer richteten ihre Waffen auf die anderen. Kepler sah, wie Toiis und Darrs Rücken sich anspannten.

"Darr, Toii – nicht schießen!", schrie er. "Waffen runter!" Er sah zu den Verstoßenen. "Ihr auch! Wir sind alle Menschen, wir müssen uns nicht gegenseitig umbringen." Er schwieg kurz. "Aber ich töte euch, wenn ihr das nicht einseht."

Einer der Männer senkte den Bogen und entspannte ihn. Der andere richtete seine Waffe nach links in die Weite, blieb aber schussbereit.

"Wer seid ihr?", verlangte er zu wissen.

Die Sprache der Verstoßenen unterschied sich deutlich von der der Zivilisierten. Sie war so einfach wie zu Keplers Zeiten. Und die Aussprache des Verstoßenen hörte sich wie das beste Oxford-Englisch an.

Kepler grinste, ließ seine Geisel los, trat einen Schritt zurück und steckte das Messer ein, legte jedoch die Hand die Glock. Nachdem Kepler seinen Kameraden losgelassen hatte, senkte der Verstoßene seinen Bogen.

"Goii", rief Kepler. "Dein Auftritt."

Der Gondwaner stand auf und ging leicht geduckt und sich umblickend zu dem Verstoßenen. Augenblicke später, nachdem sie leise einige Worte gewechselt hatten, entspannte der Verstoßene seinen Bogen und nickte. Kepler drehte sich zu den Männern, die er niedergeschlagen hatte. Sie waren wieder bei sich und hatten die Entwicklung der Situation verfolgt. Halb aufgerichtet lagen sie auf der Erde und die Hand eines jeden steckte in der Kleidung.

Kepler reichte einem der Männer die rechte Hand. Der Verstoßene quittierte die Geste mit einem erstaunten Blick. Kepler hielt die Hand ausgestreckt. Nach zwei Sekunden wollte der Verstoßene sie ergreifen. Dann hielt er inne.

"Ich bin nicht krank", sagte Kepler und genoss dabei, richtiges Englisch zu sprechen. "Die Augen sind nur eine Eigenheit meines... äh... Stammes."

"Wirklich?", zweifelte der Verstoßene. "Wo kommst du denn weg?"

"Von sehr weit her. Du kennst den Ort nicht."

"Warum sprichst du dann so wie wir?", fragte der Verstoßene misstrauisch.

"Weil ich das kann."

Der Verstoßene lächelte verstohlen. Dann ergriff er immer noch zögernd Keplers Hand. Kepler half ihm hoch. Die anderen Verstoßenen erhoben sich auch.

So wie sie blickten, hatte Kepler erreicht, was er wollte. Anscheinend sogar noch mehr. Ob dank der Sprache, oder weil er die Männer im Kampf besiegt hatte, die Verstoßenen sahen ihn fast schon kameradschaftlich an. Zu den anderen blickten sie weiterhin recht abfällig und nickten ihnen auch nicht zu, als die Gondwaner sie zurückhaltend begrüßten.

Es dauerte noch einige Minuten. Dann ließ der Verstoßene, mit dem Goii gesprochen hatte, den Gondwaner einfach stehen und ging zu Koii. Mit dem Bürgermeister sprach er etwas respektvoller, als er das mit Goii getan hatte, und er winkte abweisend, als der junge Mann hinzutrat und sich wohl als Unterhändler betätigen wollte. Nach einigen weiteren Minuten winkte der Verstoßene Darr zu sich. Die drei Männer unterhielten sich noch eine Weile.

"Wir bringen sie zum Lager", rief der Anführer des Stoßtrupps dann.

Er verließ Darr und Koii und ging zu Kepler. Als er vor ihm stehenblieb, neigte er langsam etwas den Kopf.

"Du handelst schnell", sagte er fast schon anerkennend.

"Wer nicht handelt, wird behandelt", gab Kepler zurück.

"Das ist wohl wahr." Der Mann neigte wieder den Kopf, diesmal mit einer noch größeren Achtung. "Ich bin Chirok."

Trotz einer anderen Endung erinnerte wieder ein Name dieser Zeit an die griechische Mythologie aus Keplers Epoche. Diesmal an einen edelmütigen Zwitter.

"Der Zentaur, oder was? Bist aber halb Hyäne, nicht halb Pferd", murmelte Kepler und sah den Mann erheitert an.

"Wie ist dein Name?", fragte der, sachlich die Belustigung ignorierend.

Kepler stutze erstaunt. Bis jetzt hatte sich jeder zwar vorgestellt, aber niemand hatte seinen Namen wissen wollen. Darr kannte ihn nur, weil Kepler ihn selbst genannt hatte. Der Verstoßene war der erste in dieser Zeit, der danach fragte.

Weil er Griechisch nicht beherrschte, konnte Kepler die englische Bedeutung seines Namens nicht übersetzen. Er überlegte, was zu Dolch passen könnte, und gönnte sich den Spaß, sich für den griechischen Gott des Krieges auszugeben.

"Momentan heiße ich Ares", antwortete er.

Auch während des Marsches verhielten die Verstoßenen sich ganz anders als die Gondwaner. Sie blickten sich unentwegt um und waren bereit, innerhalb eines Augenblicks auf eine Bedrohung zu reagieren. Ob aus Respekt, oder weil sie wegen seiner Augen verwirrt waren, hielten sie Abstand zu Kepler.

Er brach aus der Formation aus, als die Gruppe den Gipfel einer Anhöhe passierte. Areía ging sofort zu ihm und blieb ebenfalls stehen.

Kepler überblickte aufmerksam das schmale Tal hinter dem Hügel.

Im Westen, bestimmt irgendwo unweit von hier, entsprang einer unterirdischen Quelle ein Nil-Zufluss. Er war keine fünfzig Meter breit, aber im Tal gedieh entlang seiner Ufer ein Galeriewald. In einer Gegend, die sonst trocken und waldlos war, schuf ein Fluss lokal völlig andere Bedingungen. So wie es hier der Fall war, der Wald war dicht und das Tal leuchtete in sattem Grün.

Der Stützpunkt war nah, der Kampflärm in den Bergen war hier deutlich zu hören, doch der Wald eignete sich als Versteck sehr gut. Als Hinterhalt auch.

Chirok sah über die Schulter und lief zu Kepler. Der in seinem Bogen eingelegte Pfeil unterschied sich optisch allerdings kaum von denen, die in Gondwana mithilfe von Maschinen hergestellt wurden.

"Ist etwas nicht in Ordnung?", erkundige Chirok sich.

"Nein, alles okay", antwortete Kepler.

"Alles was?"

"Alles gut. Was benutzt ihr als Pfeilspitzen?", interessierte Kepler sich.

"Hier gibt es überall Ferrum. Wir haben gelernt, es sehr hart zu machen."

Kepler nickte und ging los. Chirok überholte ihn und setzte sich wieder an die Spitze der Kolonne. Kepler blieb dahinter. Areía schritt neben ihm und schielte ständig aus dem Augenwinkel zu ihm.

"Was ist denn?", wollte Kepler nach einer Weile wissen.

"Du benutzt nicht nur Waffen", meinte Areía dahin, "du bist selbst eine."

Für ein Kompliment hörte sich das ein wenig zu distanziert an.

"Fasziniert es dich oder hast du daran etwas auszusetzen?", fragte Kepler.

"Ich bin beeindruckt", erwiderte Areía.

Die Frage für diese Antwort hatte Kepler zwar nicht gestellt, er bedankte sich trotzdem. Areía nickte nur erhaben. Aber der Kampf mit den Verstoßenen schien ihr wirklich imponiert zu haben.

"Kannst du jedes Ding zum Kämpfen benutzen?", wollte sie wissen und unterstrich die etwas unpräzise Formulierung mit einer ausholenden Handbewegung.

"Ja", antwortete Kepler. "Nur die Savanne selbst nicht direkt."

Seine Vermutung erwies sich als richtig, im Wald warteten weitere bewaffnete Verstoßene. Sie kamen zwar mit den Bögen in den Händen zwischen den Bäumen hervor, aber sie hielten die Waffen nach unten. Chirok befahl allen stehen zu bleiben. Seine Männer flankierten die Gruppe, während er zum Wald lief.

Kepler musterte die Verstoßenen. Darr tat dasselbe, und zwar prüfend, Areía und Toii neugierig, Homeroii erstaunt, Koii mürrisch und Goii angespannt.

Kepler war zwar nur kurz in Vineta und Gondwana gewesen, jedoch hatte er in beiden Städten keine Anzeichen dafür gesehen, dass Frauen in der zivilisierten Gesellschaft eine größere Rolle spielten. Bei den Verstoßenen taten sie es. Die in der Reihe der Schützen stehenden Frauen hielten gelassen und routiniert Bögen in den Händen. Ruhig, bestimmt und selbstbewusst trugen sie zusammen mit den Männern die Last ihres Lebens und ihres Krieges. Und darin lag die Stärke der Verstoßenen. Vielleicht hatten sie sogar begriffen, dass eine Frau oft eine sehr viel bessere Sicht der Dinge zu leisten imstande war. Vorausgesetzt, sie wusste was sie wollte.

Die Frau, die hinter der Reihe der Bogenschützen zusammen mit einem herrisch wirkenden Mann aus dem Wald trat, tat das. Ihr Gesicht hatte einen willensstarken Ausdruck, ihr Blick war ruhig, kalt und nachdenklich betrachtend.

Ihr Körperbau unterschied sich nicht von anderen Menschen dieser Zeit, und ihre Augen waren genauso braun. Damit hörten die Gemeinsamkeiten auf. Ihr kurzes Haar stach geradezu ins Auge – es war rot. Wie eine winzige Flamme leuchtete es vor dem grünen Hintergrund der Bäume und betonte ihre viel hellere als bei anderen Afrikanern, fast schon blasse, Haut. Auch die Gesichtszüge dieser Frau ähnelten denen der Menschen von Vineta.

Wie andere Verstoßenen-Frauen hielt sie sich sehr gerade, und der grazile Hals unterstrich ihre würdevolle, aber nicht abweisend wirkende Haltung. Sie trug einen schmalen Kopfreif, der schnörkellos und nicht verziert war. Ihr üppiger Busen wurde von einem knappen dunklen Top bedeckt, der flache Bauch war frei und die enge Hose gab die Form ihrer langen Beine und der runden Hüften unverfälscht wieder.

So ähnlich waren auch die anderen Frauen bekleidet. Dieser Aspekt ihrer Erscheinung diente wohl dazu, die Männer etwas aufzumuntern. Vielleicht auch dazu, ihnen vorzuhalten, wofür sie kämpften. Oder die Kleidung war einfach nur bequem und hier so üblich. Zumindest sahen die Männer ihre Gefährtinnen nicht länger als für Bruchteile von Sekunden direkt an. Mit Gewöhnung hatte das jedoch überhaupt nichts zu tun. Weil man sich als Kerl an solche Anblicke gar nicht gewöhnen konnte. Bewundern und Respektieren konnte man jedoch auch ohne zu glotzen. Schielen reichte dazu völlig aus.

Areía sah prüfend an sich herunter, warf einen Blick auf Kepler, spitzte die Lippen und machte den Rücken gerader. Kepler fand, dass sie auch in ihrem schmutzigen Overall nicht schlechter als die weiblichen Verstoßenen aussah.

Der Anführer der Verstoßenen hielt einen kurzen Zepter in der Hand. Diese Insignie der Macht war ein knorriger Ast, unverziert, aber von unzähligen Berührungen poliert. Als Chirok bei ihm war, grüßte der Anführer ihn erhaben und freundlich indem er den Zepter hob.

Während die beiden Männer sich unterhielten, hörte die Frau ihnen zu, aber gleichzeitig sah sie sich aufmerksam um. Sie musterte Koii und ihr Gesicht nahm einen frostigen Ausdruck an. Als sie Darr ansah, verengten ihre Augen sich überrascht. Dann wanderte ihr Blick zu Kepler und blieb an ihm haften.

Der Anführer und Chirok waren mit ihrem Gespräch fertig und warteten geduldig, bis sie ihre Betrachtung beendet hatte. Die Frau sagte etwas, der Anführer winkte daraufhin. Darr ging mit einem recht diplomatischen Lächeln vor, Koii folgte ihm sichtlich unwillig. Goii winkte der Frau und lächelte sie an. Sie schien seine Begrüßung nicht wahrgenommen zu haben. Der Gondwaner musterte sie beinahe anzüglich weiter. Einer von Chiroks Bogenschützen, der neben ihm stand, rammte ihm daraufhin den Ellenbogen in die Seite und funkelte ihn drohend an. Goii senkte erbost den Blick.

Während der Anführer mit Koii und Darr sprach, sah die Frau wieder zu Kepler. Ihre schmale Hand hob sich und ein zierlicher Finger deutete Kepler in einer herrischen Geste vorzutreten. Als die Frau die Hand senkte, lächelte sie ihn jedoch ziemlich herzlich an. Areía zog grimmig die Augenbrauen zusammen und folgte Kepler, als er sich in Bewegung setzte.

"Du heißt Ares, hat Chirok gesagt", konstatierte sie. Der Ton ihrer Stimme war rau, aber sie klang melodisch, und, von einer winzigen Spur kalter Schärfe abgesehen, sogar fast sanft. "Bist du krank?", erkundigte die Frau sich sachlich.

Kepler sah sie schief an.

"Unter uns beiden Mutanten – nö", murrte er.

"Nicht gleich aufbrausen", rügte die Frau ihn mild. "Ich wollte nur sichergehen", teilte sie ihm mit. "Sieht nett aus. Willkommen."

Im Augenwinkel sah Kepler, dass Areías Blick finster wurde. Beinahe bedrohlich machte sie einen Schritt nach vorn, als ob sie Kepler abschirmen wollte. Der Blick der Verstoßenen verhinderte dieses Vorhaben abrupt.

"Ich bin Kassana", stellte sie sich explizit Kepler vor.

Er verkniff sich jeglichen Kommentar und streckte einfach die Hand aus.

Kassana stutzte. Dann, bevor Kepler etwas sagte, ergriff sie seine Hand. Ihre Hand fühlte sich weich an, aber sie drückte kräftig. Dann lächelte sie.

Ihre Lippen wurden wieder schmal, als sie Koii anblickte.

"Ich gewähre euch Unterschlupf", bot indessen der Anführer unverbindlich an.

"Danke", gab Koii kalt zurück ohne ihn oder die Frau anzusehen. "Aber wir ziehen gleich weiter."

"Das werden wir nicht", widersprach Kepler unmissverständlich und sah Kassana bittend an. "Ich brauche Informationen."

"Bekommst du", versprach sie mit einem angedeuteten Lächeln. "Wenn du uns auch welche gibst. Und jetzt lasst uns von der offenen Fläche verschwinden."

Von den Bogenschützen eskortiert, ging die Gruppe in den Wald hinein. Dort gab es kein geordnetes Lager, die Verstoßenen versteckten sich im Dickicht, um sich auszuruhen. Toii sah sich interessiert um, als die Bogenschützen hinter den Bäumen verschwanden. Goii tat erst so, als ob er wie zu Hause wäre, auch wenn die Blicke der Verstoßenen ihm deutlich zeigten, dass er es nicht war. Deswegen folgte er mit unbeteiligtem Blick Koii, der sich missmutig unter einen Farnbusch setzte. Homeroii hockte sich einige Meter von ihm entfernt hin und sah sich neugierig um. Toii war wohl völlig unfähig, auch nur eine ähnliche Abneigung zu empfinden wie Koii. Wahrscheinlich fühlte er sich im Gegensatz zu ihm sehr wohl, er befand sich fast unter seinesgleichen. Aber er war auch loyal, deswegen setzte er sich neben den Bürgermeister hin.

Kepler und Darr folgten Kassana und dem Anführer und wurden ihrerseits von Areía begleitet, die Koiis zum Bleiben auffordernden Blick geflissentlich ignoriert hatte. Als Kassana ihnen mit einer Hand unter einem großen Baum deutete Platz zu nehmen, setzte Areía sich zwar hinter Kepler, aber ganz dicht bei ihm hin. Kassana quittierte das mit einem amüsierten schmalen Lächeln und setzte sich im Schneidersitz Kepler gegenüber. Einige Augenblicke später kam Chirok mit einem weiteren Mann und drei Frauen dazu. Sie nickten ihrem Anführer und Kassana respektvoll zu und setzten sich im Halbkreis um sie herum.

Einige Zeit verging in der Vorstellung. Männernamen endeten bei den Verstoßenen mit einem k, bei den Frauen so wie bei den Zivilisierten mit einem a, jedoch ohne das í davor. Der Anführer stellte zuerst die drei Frauen vor, die wie Chinok kleinere Schützenkompanien befehligten, dann den Mann, der dieselbe Funktion innehatte, und zum Schluss sich selbst. Er hieß Enok. Sobald er die Formalitäten erledigt hatte, überließ er Kassana das Reden.

"Was willst du wissen, Ares?", erkundigte sie sich neutral-freundlich.

"Wir müssen nach Khartum... ach herrje – nach Ofir, wenn dir der Name etwas sagt", antwortete Kepler. "Weißt du, wie der Weg bis dahin ist?"

"Mühsam und gefährlich", erwiderte Kassana. "Frag explizit bitte."

"Lady, ich mag dich", sagte Kepler grinsend und hörte sogleich Areías leises Knurren in seinem Rücken. "Unseren Informationen nach dürfte es keine Gools mehr in der Gegend geben. Aber dieser Kenntnisstand ist einen Tag alt. Also, ist dir etwas anderes bekannt? Und noch wichtiger ist – weißt du etwas darüber, wieviele Syths sich hier noch herumtreiben?"

"Einige, sechs vielleicht", antwortete Kassana sachlich. "Vorvorgestern haben wir fünf Kapseln gesehen, die ein Raumschiff abgeworfen hatte. Und kurz darauf wurden wir überfallen. Vier unserer Männer wurden entführt und unser Bruderstamm, mit dem wir uns treffen wollten, wurde vollständig ausgelöscht."

Sie überließ es Kepler, die Schlüsse aus dieser Information zu ziehen.

"Hat sich etwas nach der Explosion des Stützpunktes getan?", fragte er.

"Stützpunkt?", wiederholte Kassana.

"Die schwarzen Berge...", begann Kepler.

"Olymp", ergänzte Darr lakonisch.

"Ach so. Ja, letzte Nacht haben wir zwei riesige Fledermäuse gesehen", antwortete Kassana. "Sie kamen aus Olymp und kreisten lange über dem Wald, griffen uns aber seltsamerweise nicht an."

"Denen wurde die Flugerlaubnis entzogen", sagte Kepler. "Sonst noch etwas?"

"Nein", antwortete Kassana nach kurzem Überlegen.

"Und was treibt ihr in der Nähe des Stützpunktes?", wollte Kepler wissen.

Kassana blickte kurz Enok an, dann richtete sie die Augen auf Darr.

"Wir haben einen seltsamen Aufruf aus Vineta gehört", sagte sie langsam. "Da du jetzt hier bist, Orlikon, kannst du uns sagen, was er wirklich auf sich hat."

"Ihr seid gut informiert", entgegnete der Wissenschaftler.

Er hatte seinen Zusatznamen nicht erwähnt und dachte nun fieberhaft nach.

"Alle Welt weiß, wer du bist, und wir haben auch Kommunizierer. Also schinde keine Zeit, großer Lehrer – sprich", forderte Kassana spöttisch und hart.

"Ich habe einen Plan, wie wir den Krieg gewinnen können", begann Darr. "Dafür braucht es die richtigen Menschen." Er machte eine Pause. "Ich habe eure Lebensweise nie verurteilt und mir ist jeder gesunde – und vor allem klar denkende – Mensch willkommen." Er schwieg wieder. "Was glaubt ihr, wieviele Zivilisierte sind diesem Aufruf gefolgt? Ein paar nur", beantwortete er die Frage selbst. "Da ihr wisst wer ich bin, wisst ihr vermutlich auch, wie sehr ich die Maschinen verabscheue. So könnt ihr vielleicht nachvollziehen, dass dieser Aufruf in erster Linie euch galt. Die Gondwaner widersetzen sich zwar den Syths, aber ihr, ihr lebt unter ihnen. Ihr seid diejenigen, denen die Zukunft gehört." Er sah Enok, Kassana und die anderen Verstoßenen nacheinander an, ohne einschmeichelnd zu lächeln. Und nicht bittend, sondern entschlossen auffordernd. "Geht bitte nach Ofir. Von dort aus werden wir gemeinsam eine neue Gesellschaftsordnung erschaffen, ohne Maschinen, ohne Syths und ohne Gools."

Kassana musterte ihn prüfend einige Augenblicke lang. Dann blickte sie zum Befehlshaber der Verstoßenen. Ihr gefiel wohl nicht, welche Reaktion sie sah.

"Es ist wie ich es euch gesagt habe", sagte sie deutlich. "Er lügt."

"Welchen Grund hätte er dazu?", widersprach Enok ablehnend.

"Ich weiß es nicht", antwortete Kassana offen.

Darr sagte zehn Sekunden lang nichts, sondern blickte auf die Verstoßenen.

"Ich lüge nicht", behauptete er dann ruhig. "Was hätte ich davon?"

"Das weiß ich auch nicht", gab Kassana zurück. "Ich sehe deutlich, dass du uns die Wahrheit erzählt hast – aber nur einen kleinen Teil davon. Und nicht minder deutlich sehe ich auch, dass du etwas völlig anderes erreichen willst. Dafür lügst du." Ihre Augen verengten sich. "Dafür würdest du die ganze Welt opfern."

"Stimmt", bestätigte Darr offen. "Das will ich tatsächlich tun, und das habe ich eben auch gesagt. Diese Welt ist fertig. Lasst uns eine neue aufbauen." Er machte eine Pause, sein Blick auf die Verstoßenen wurde durchdringlich. "Eine, in der ihr nicht mehr verstoßen seid", sagte er deutlich, "sondern gleichberechtigt."

Bevor Kassana etwas sagen konnte, brummte Enok zustimmend und alle Befehlshaber außer Chirok ebenso. Kassana zuckte die Schultern.

"Ihr hört auf meinen Rat, weil ich die Gabe habe, Dinge zu sehen, die sonst niemand zu sehen vermag", sagte sie. "Und jetzt sage ich euch, dass er lügt." Sie sah die Verstoßenen nacheinander an. "Aber es ist eure Entscheidung."

"Kassana, ich höre fast immer auf dich", erwiderte Enok im Ton einer Entschuldigung. "Doch diesmal haben wir die Chance, das zu bekommen, was wir so dringend brauchen." Er sah die anderen Verstoßenen an. "Was denkt ihr?"

"Wir stimmen ab", sagte eine der Frauen. "Wer ist dafür?"

Sie selbst hob die Hand als erste hoch. Enok und die anderen drei Befehlshaber folgten ihrem Beispiel, Chirok blieb mit einem Blick auf Kassana reglos.

"Die Sache ist beschlossen", resümierte Enok und sah zu Darr. "Wir gehen nicht nur nach Ofir, Orlikon, wir bringen dich sogar dahin. Wir brechen auf, sobald es möglich sein wird. In ein paar Horas, schätze ich."

Areía blickte immer noch grimmig, als Kepler sich zu ihr drehte. Kaum dass er sie ansah, lächelte sie ihn sofort an.

"Das ist Demokratie", flüsterte er. "Churchill hatte Recht, sie ist die schlimmste aller Regierungsformen, alle anderen ausgenommen."

Es interessierte Areía nicht, dass sie kein Wort verstanden hatte. Kepler auch nicht, er wollte die Gondwanerin nur besänftigen, sie war schließlich seine Gefährtin. Areía genügte seine Aufmerksamkeit jedoch nicht, sie lächelte ihn weiterhin an, legte eine Hand auf seine und schielte zu Kassana.

Die atmete durch und stand auf, während Kepler seine Hand zurückzog.

"Ihr habt eure Entscheidung getroffen", sagte Kassana endgültig. "Ares, ich möchte noch kurz mit dir reden", bat sie im Befehlston. "Allein."

Areía wagte es nach diesem einen Wort nicht, sich zu erheben. Sie blickte Kassana nicht einmal an, sondern tat so, als ob sie gähnte. Kepler blieb sitzen.

"Gleich", sagte er zu Kassana und richtete den Blick auf Enok. "Was habt ihr davon?", fragte er geradeheraus. "Warum willst du uns so sehr dahin bringen?"

"Vor einigen Jahren hat Goii uns gezeigt, was ein Bogen ist", begann der Anführer. "Seitdem kommen wir viel besser zurecht." Enok sah Kepler direkt in die Augen. "Aber wir kommen nicht weiter. Unsere Tage vergehen darin, das zum Überleben nötige zu besorgen – für diesen Tag." Er sah zu Kassana, dann zu Darr und lächelte freudlos. "Es ist völlig egal, ob Orlikon lügt oder nicht." Sein Ton wurde hart, als er den Blick auf Kepler richtete. "Ohne uns schafft ihr es niemals nach Ofir. Wir bringen euch hin – und ihr gebt uns eine Lichtwaffe dafür. Damit besorgen wir uns noch mehr und dann werden wir eine Stadt aufbauen können, anstatt umherzuziehen und verlassene Ruinen plündern zu müssen."

Der Handel wurde umgehend besiegelt, Darr akzeptierte den Vorschlag sofort und uneingeschränkt und bestätigte das mit einer ein wenig ungelenken Verbeugung. Enok wiederholte die Geste ziemlich freudig.

"Jetzt glaube ich an Sie, Darr", gratulierte Kepler ihm. "Sie haben soeben den Kommunismus abgeschafft." Er sah den Wissenschaftler scharf an. "Wir brauchen keine Begleitung", stellte er klar. "Es sind genug Menschen gestorben."

"Ohne uns kommst du nicht an den Bergen vorbei", gab Enok hastig zurück.

"Doch", behauptete Kepler. "Auch wenn ich nicht als Hyäne aussehe."

"Das sei dahingestellt. Ihr habt keine Elefanten, das ist entscheidend."

"Wieso Elefanten?", fragte Kepler erstaunt.

"Als Busch und als Hyäne auszusehen reicht nicht aus, Ares", belehrte Enok ihn. "Ohne Elefanten ist in Afrika eine weite Strecke nicht zu schaffen. Die Gools können sich nicht an ihrem Maul festklemmen, um ihnen die Larven einzupflanzen und weil wir uns hinter ihren Ohren verstecken, sehen die Syths uns nicht einmal durch ihre Masken. Nur hungrige Gools sind eine Gefahr, aber es gibt nicht mehr viele davon und meistens können wir sie töten – wenn sie einzeln unterwegs sind, wir sie rechtzeitig entdecken und gemeinsam und richtig schießen." Als Kepler etwas sagen wollte, hob er beruhigend die Hand. "Es ist sicher und unauffällig. Wir lassen die Tiere nämlich das machen, was sie wollen, sie verhalten sich völlig natürlich. Und wir lagern immer weit von der Herde entfernt. Und es gibt mehr Elefantenherden als uns."

Das war vielleicht eine Möglichkeit nach Ofir zu kommen ohne jeden Meter bis dahin mit Blut erkaufen zu müssen. Und diese Chance war zumindest einen Versuch wert. Kepler entschied sich, es auszuprobieren.

Er warf einen amüsierten Blick auf Kassana, die abseits stand und mit vor der Brust verschränkten Armen auf ihn wartete, und erhob sich.

"Wenigstens heißt sie nicht richtig Kassandra, wir müssen nicht Troja erobern und ich muss nicht in ein Holzpferd kriechen", murmelte er. "Komm, Kasi", sagte er lauter, "lass uns ein wenig wahrsagen."

Als er Kassana zwischen die Bäume folgte, hörte er ein wisperndes kurzes Klicken in seinem linken Ohr. Er grinste leicht. Darr hatte ihn lauschen lassen, es gehörte sich wohl, dass er dem Wissenschaftler jetzt dasselbe ermöglichte.

Kassana blieb unvermittelt stehen, nachdem er und sie sich so weit entfernt hatten, dass die anderen sie nicht mehr sahen. Resolut wie sie alles zu tun schien, drehte Kassana sich zu Kepler und trat an ihn heran.

"Orlikon hat doch gelogen, oder?", verlangte sie zu wissen.

"Diese Version fand ich eigentlich am plausibelsten, aber eigentlich geht mich das Ganze hier überhaupt nichts an, Lady", antwortete Kepler unmissverständlich. "Das ist nicht meine Welt, sondern eure, kommt selbst mit ihr klar. Ich will lediglich nach Ofir kommen, weil ich nur von dort aus nach Hause kann."

"Ich weiß." Kassana lächelte. "Du kommst aus einer anderen Zeit."

Das hatte nicht wie eine Frage geklungen, aber sie blickte zu Kepler wie um eine Bestätigung bittend und schwieg abwartend.

"Darr hat mich aus der Vergangenheit geholt, damit ich euch das Kämpfen lehre. Aber das ist unnötig, zumindest ihr hier könnt kämpfen. Ich will nur heim."

"Das ist nicht unnötig", widersprach Kassana, "das ist bitter nötig." Sie lächelte freudlos. "Hast du wirklich fünf unserer Kämpfer zusammengeschlagen?"

"Du bist eine Seherin, oder? Guck nach."

Kassana ignorierte den Sarkasmus und sah ihn forschend an.

"Jetzt sehe ich es deutlich", behauptete sie. "Auch, dass du die fliegenden Monster getötet hast. Und auch, dass das Erdbeben dir zu verdanken ist." Sie lächelte. "Du bist ein außergewöhnlicher Mann, Ares. Ich will ein Kind von dir."

Es hatte nicht einmal eine Kunstpause zwischen den letzten Sätzen gegeben.

"Kasi, hör mal", erwiderte Kepler verdattert. "Ich glaube nicht an die Liebe auf den ersten Blick. Und aus Spaß – sowas tue ich nicht... mehr."

"Es ist keine Liebe", erwiderte Kassana völlig ernst. "Es ist eine Notwendigkeit. Ich warte seit dreißig Jahren auf dich." Sie lächelte. "Vor fünf Jahren hatte ich gedacht, Goii wäre es." Ihr Ton wurde abfällig. "Aber der ist eine Ratte."

"Ne, ist er nicht", korrigierte Kepler sie scharf. "Ratten sind anrüchig, aber weder dumm noch feige. Ich bin eine Ratte. Deswegen sehe ich auch nicht so richtig berauschend aus." Er sah Kassana schief an. "Aber mache ich mittlerweile wirklich einen so bescheuerten Eindruck?"

"Das kommt auf den Blickwinkel an", meinte Kassana. "Welchen meinst du?"

"Ich bin nicht leichtgläubig, Süße", begann Kepler. "Du bist eine nicht nur sehr schöne, sondern auch eine sehr kluge Frau. Nur – du hast ein Talent für psychologische Wahrnehmung und du kannst sehr schnell die Zusammenhänge erfassen. Das ist jedoch keine vermeintliche seherische Gabe, du hast einfach einen ungetrübten Blick, einen sehr wachen Verstand, du hast das alles geschärft und weißt deine Fähigkeiten genau einzusetzen. Das war es. Welche dreißig Jahre?"

"Du bist auch klug", bescheinigte Kassana ihm ohne gekränkt zu sein. "Aber es ist wahr, ich warte auf dich." Sie sammelte sich. "Vor vierzig Jahren hatten die Gools den Planeten fast kahl gefressen. Da hatte Darr Orlikon einen Plan entwickelt. Meine Mutter gehörte zum Wissenden Kreis und sollte hierhin kommen, zu einem Heiler. Sie hatte irgendetwas erfunden und der Heiler konnte es besser als sie umsetzen. Sie machte die Reise, obwohl sie mit mir schwanger war. Als sie und ihr Begleiter an der Küste Afrikas ankamen, wurden sie von einer Syth angegriffen. Sie tötete den Mann, meine Mutter rettete sich und wurde von den Verstoßenen aufgelesen. Sie starb, als ich zehn war, sie hatte sich seelisch nie von der Begegnung mit der Syth erholt. Sogar im Delirium sprach sie von ihrer Totenschädel-Maske, und dass sie dem Tod in die Augen geblickt hatte."

"Das ist der Tod?", unterbrach Kepler sie. "Na, dem... oder ihr? habe ich auch in die Visage geglotzt. Leider nicht nachdrücklich genug."

"Wie meinst du das?", fragte Kassana.

"Ist egal. Erzähl weiter. Du hast auch eine sehr begabte Stimme."

Kassana ignorierte die Stichelei.

"Zuletzt war Mutter völlig klar. Und sie hat mir erzählt, dass Orlikon einen Krieger aus einer anderen Zeit holen wollte. Nach dem Auftauchen der Syths hatte er seinen Plan wohl ändern müssen. Nun ist es soweit. Du bist hier."

"Und ziehe mit ihm", erinnerte Kepler sie.

"Mutter sagte, er wäre sehr klug, würde aber vor nichts zurückschrecken, um seine Ziele zu erreichen. Was immer er vorhat, vorhin hatte er gelogen", erwiderte Kassana. "Das mindert deinen Wert aber nicht. Und in einem hat Orlikon völlig Recht – diese Welt ist fertig. Egal was für eine andere nach ihr kommt, sie muss besser geführt werden." Sie sah Kepler in die Augen. "Und wenn das nicht deine Zeit ist, du erkennst bestimmt, dass sie nicht von solchen wie Orlikon, Koii oder Enok regiert werden sollte." Kassanas Blick wurde eindringlich. "Diese Männer sind nicht dumm, aber nicht fähig, die Welt vor den Syths zu schützen. Ein Kind, das deine und meine Fähigkeiten vereint, wäre ein guter Führer."

"Bezweifle ich sehr vehement solange es meine Erbanlage angeht", sagte Kepler. "Und was springt dabei überhaupt für dich heraus?"

"Hoffnung." Kassana sah ihn bittend an. "Gib uns welche, bevor du gehst."

"Kann ich nicht, auch wenn ich wollte", erwiderte Kepler. "Und ich will nicht."

"Du willst", behauptete Kassana. "Deine Blicke sind recht deutlich."

"Lieber dreist in die Bluse schauen als dumm aus der Wäsche gucken", erwiderte Kepler. "Ihre Farbe mag seltsam sein, ansonsten funktionieren meine Augen ganz normal und ich sehe mir gern Schönes an. Damit hat es sich", fuhr er unmissverständlich fort. "Ich kann deinen Wunsch rein biologisch nicht erfüllen, ich bin zeugungsunfähig. Und ich würde es auch im anderen Fall nie tun – weil irgendwo zwischen den Jahrmillionen eine Frau auf mich wartet."

"Ich beneide sie", sagte Kassana leise.

"Und ich vermisse sie", flüsterte Kepler, dann verdrängte er mit einiger Anstrengung die Wehmut. "Wann können wir weiter?"

"Ihr? Sobald die Elefanten sich ausgeruht haben", antwortete Kassana.

"Du kommst nicht mit?"

"Ich werde Orlikon nicht ins Verderben folgen, Ares." Sie lächelte bitter. "Jemand muss unser Wissen an die Nachfolgenden weitergeben."

"Du bist wirklich klug."

"Danke." Kassana lächelte leicht. "Aber nicht gut genug für dich."

"Stimmt so nicht ganz, nimm es aber nicht persönlich", beendete Kepler sofort das Thema. "Wie lange also noch?"

"Ein paar Horas", antwortete Kassana tonlos. "Lass uns zurückgehen."

Als sie die Lichtung betraten, wurden sie sogleich nicht nur von Areía gemustert, Darr sah ebenfalls zu ihnen. Kassana ignorierte ihn und lächelte die Gondwanerin leicht an. Areía blickte daraufhin erbost zu Kepler. Er änderte sofort die Richtung und ging zu Darr, der allein unter einem Baum saß.

"Sagen Sie nichts", kläffte der Wissenschaftler beinahe.

"Nichts."

Darr lächelte leicht. Dann hob er den Kopf und sah in den Himmel.

"Es wird dunkel", stellte er erstaunt fest.

"Ja", bestätigte Kepler. "Regen zieht auf."

"Ach deswegen..." Darrs Ton wurde munterer. "Na umso besser."

"Warum das?"

"Die Syths können sich im Wasser nicht tarnen."

"Wieso das...", begann Kepler, wusste die Antwort jedoch im selben Augenblick. "Na klar. Konnten Sie mir das nicht früher sagen?", fuhr er Darr an.

"Warum?", fragte der Wissenschaftler verdattert über seinen Ton.

"Ah, egal. Ich hätte eigentlich sofort darauf kommen müssen."

"Worauf?"

"Wie man sie enttarnt", antwortete Kepler.

"Und? Wie?", erkundigte Darr sich.

Es klang nur höflich, nicht interessiert.

"Simple Physik. Sie sind ein Genie, finden Sie es heraus, wenn Sie den Krieg gegen die Syths ernsthaft führen wollen", gab Kepler zurück und stand auf.

"Wo wollen Sie hin?", wollte Darr wissen.

"Ich muss Kassana etwas fragen. Sie warten hier."

Kepler hielt sich an den Grundsatz, dass für alle das gleiche Recht galt. Und er und Darr hatten einander nun jeweils einmal belauscht und das reichte. Kepler drückte dreimal auf das linke Ohr und machte den Funk aus.

Als er zurückkam, saß Darr immer noch allein, aber etwas fröhlicher blickend da. Goii war nicht zu sehen, Koii hockte mürrisch und allein unter einem Busch.

Ansonsten waren die Grenzen zwischen den Zivilisierten und den Verstoßenen durchlässiger geworden. Chirok und Areía unterhielten sich anscheinend über Pfeilspitzen, Toii zeigte zwei sehr interessierten Bogenschützinnen seine Lichtbogenwaffe. Homeroii saß abseits mit einem Mann und vier Frauen. Die fünf Verstoßenen waren sehr jung, fast noch Kinder. Diese Unterhaltung war recht einseitig. Homeroii sprach sehr laut und fuchtelte dabei unentwegt mit den Armen. Eigentlich war sein ganzer Körper an der Erzählung beteiligt. Trotz des vollen Mundes beschrieb er die fliegenden Gools so blumig, dass Kepler grinsen musste. Homeroii war beim Kampf vor Angst gelähmt gewesen, er hatte nicht alles so wahrgenommen wie es wirklich abgelaufen war, und seine Fantasie füllte die Wissenslücken. Homeroii war wohl wirklich das Equivalent eines Schriftstellers. In seiner Schilderung hatte der Gool Feuer gespieen.

Kepler setzte sich neben Darr hin, nahm die Steaks aus dem Rucksack und wickelte sie aus dem Stück der Tarndecke. Wortlos reichte er dem Wissenschaftler ein Steak und biss in das andere. Darr dankte zerstreut und begann zu kauen.

Es war einfach nur friedlich, in einem afrikanischen Wald zu sitzen, zu essen und den leichten würzigen Duft des Regens zu riechen, der noch irgendwo ganz weit weg war, und schöne Frauen anzusehen.

Dann war es mit der Idylle wieder vorbei. Kassana erschien auf der Lichtung, ging zu Chirok und unterbrach höflich, aber entschieden seine Unterhaltung mit Areía. Empört ging die Gondwanerin zur Seite und stierte Kassana wütend an, als die kurz zu Kepler sah. Dass der Blick der Verstoßenen bitter war, entging Areía völlig. Plötzlich rannte sie zu Homeroii, zerrte ihn hoch, drückte sich an ihn und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der junge Mann errötete. Areía sah zu Kepler. Dann zog sie Homeroii hinter sich her. Sie holte ihren Rucksack und sah provozierend zu Kepler, als sie und Homeroii die Lichtung verließen.

Kepler drückte Darr sein halb aufgegessenes Steak in die Hand und erhob sich.

"Was ist jetzt?", schreckte der Wissenschaftler aus seinen Gedanken auf.

"Keine Ahnung", gab Kepler zurück. "Es ist echt ein Kindergarten hier bei euch. Areía ist anscheinend im Begriff, etwas Dummes zu tun."