37. Kepler stand da und betrachtete das Öl, das mittlerweile fast den ganzen Boden der Halle geflutet hatte. Niemand würde sich nähern können, ohne in die riesige Lache zu treten. Aber über die Wände oder das Dach schon, vor allem getarnt. Kepler musste die Falle besser machen.

Baobhan wollte durch seinen Tod entweder die Genugtuung, so wie Hefaisoii das gesagt hatte, oder sie wollte seine DNA, um die Welt zu beherrschen, wenn Shamanool mit seinen Behauptungen richtig lag.

Kepler verstand das Vorgehen von Baobhan nicht. Durch das Ausschalten der Laser das Kommen der nächsten Syth anzukündigen – und zwar jeweils einer einzigen – war nach dem zweiten Mal einfach nur dämlich. Und warum fielen die Syths nicht zum Beispiel vom Westen in die Wartungsstation ein? Es wurmte Kepler gewaltig, dass er nicht dahinterkam.

Er war ein auf unkalkulierbare Dinge spezialisierter Soldat. Als forschende Jäger schienen die Syths dagegen ein ausgeprägtes Gewohnheitsverhalten zu haben. Würden sie dasselbe bei ihm voraussetzten, hätten sie verloren. Aber als erfahrene Jäger passten sie ihr Handlungsmuster bestimmt dem der Beute an.

Kepler empfand sich selbst als durchgeknallt. Dann sollte er jetzt auch genauso nachdenken. Er löste sich von seinem Bewusstsein eines Kriegers.

Jäger dachten nun mal anders. Damit hatte das alles hier doch tatsächlich einen tiefen Sinn. Der war dann aber völlig idiotisch. Zumindest für Kepler.

Doch für Baobhan nicht. Aus ganz offensichtlichen Gründen glaubte Kepler nicht, dass sein Blut das Serum der Erlösung war. Entscheidend war jedoch, dass Baobhan das glaubte. Oder dass sie Rache wollte.

Auf jeden Fall wollte sie ihn lebendig oder zumindest in einem Stück in die Hände bekommen. Die Syth mit dem Bumerang hatte Kepler am deutlichsten vorgeführt, dass erst seine Begleiter auslöscht werden sollten. Sogar im Todeskampf hatte die Außerirdische versucht, Kepler festzuhalten. Und sie hatte anscheinend die Gool-Drohne deaktivieren wollen, nicht sie auf ihn hetzen.

Kepler ging die Informationen durch, die er hatte. Laut Hefaisoii war die Raumstation leer, Baobhan hatte die letzten vier Syths von dort auf die Erde beordert. Diese Syths hatte Kepler beim Angriff auf die Elefanten getötet. Hefaisoii hatte ebenfalls erwähnt, dass nur noch fünf Syths im Stützpunkt waren, und Shamanoll hatte dasselbe gesagt. Eine wurde zur Banshe umfunktioniert, die anderen waren nun ebenfalls tot.

Es mutete fast an, als ob Baobhan zwei Ziele verfolgte. Erstens wirklich alle außer Kepler zu töten. Und zweitens – um ihn ganz allein für sich zu haben. Er schien tatsächlich eine begehrte Trophäe zu sein. Die niemand außer Baobhan ergattern sollte. Sogar Shamanool hatte sie dafür geopfert.

Die Forscher schienen das letzte Aufgebot gewesen zu sein. Das war auch entscheidend. Baobhan war nun ganz allein – höchstwahrscheinlich. Und sofern sie sein Blut nicht für ihre ganze Rasse, sondern für sich allein haben wollte, hatte sie dasselbe Problem wie Kepler.

Wegen der Störung im Stützpunkt waren neue Syths unterwegs. Sobald sie hier ankamen, hatte Kepler keine Chance mehr, Ofir zu erreichen. Und Baobhan musste teilen. Oder halt auf den Triumph verzichten, ihn zu töten. Sie und er, sie mussten beide schnell fertig werden. Sie hatten noch höchstens zwei Tage dazu.

Kepler gestand seiner Gegnerin durchaus dieselben Überlegungen zu. Damit würde Baobhan etwas anderes unternehmen, als in diese Halle zu kommen. Sie hatte bestimmt schon verifiziert, dass Kepler nicht die unterirdische Eisenbahn benutzen konnte. Er musste sie woanders stellen. Dort wo er sich auskannte und so, dass er die Bedingungen des Kampfes bestimmen konnte.

Er hatte eine Chance auf Erfolg – wenn seine Annahmen wirklich richtig waren. Um das herauszufinden, musste er eine uralte Methode benutzen.

Nämlich sich möglichst gut vorzubereiten, und die Dinge dann auf sich zukommen zu lassen und zu hoffen, für Eventualitäten gerüstet zu sein.

Er führte die anderen durch das Tor aus der Fabrik. Draußen setzte Kepler seine Platten ab, deutete den anderen zu warten, und lief zum Kollaborateur, der jetzt reglos mit bis zum Blut aufgeriebenen Elenbogen in seinen Fesseln am Baum hing. Shamanool hob den Kopf, sein Blick war flehend.

Kepler wollte von diesem Mann nichts mehr hören. Aber er wollte ihn genauso gebrauchen wie Baobhan. Dafür musste Shamanool am Leben bleiben, ihn jedoch mit qualvoll verdrehten Armen am Baum hängen zu lassen konnte Kepler nicht. Egal wie bestialisch sein Verrat war, auch dieser Mann war ein Lebewesen. Kepler zog das Messer und schnitt den Kabelbinder durch. Der ermattete Kollaborateur fiel auf die Knie, erhob sich aber sogleich schwerfällig. Benommen richtete er sich taumelnd vor Kepler auf und versuchte etwas zu sagen.

Areías Tod war grausam gewesen, er rechtfertige den brutalen Schlag mehr als genug. Drei Zähne des Kollaborateurs brachen und er fiel bewusstlos auf die Erde. Kepler hatte keine Ahnung, wo er die Kamera hatte, aber sie musste irgendwo vorne sein. Mit einem Tritt drehte er Shamanool so, dass dessen Brust dahin gerichtet war, wohin er und die anderen gleich gehen würden.

"Lebt er noch?", erkundigte Goii sich, als er zurück bei der Gruppe war.

"Ja."

"Warum?", empörte Goii sich. "Er hat den Tod verdient."

"Du ebenso, du bist nicht besser als er", erwiderte Kepler mit einem Blick in seine Augen. "Und dich habe ich auch nicht getötet."

Darr nickte leicht. Enok sah wortlos zur Seite. Goii senkte den Kopf, schniefte und nahm seine beiden Verkleidungsplatten in die Hände.

Darrs Knöchelschiene funktionierte ziemlich gut, der Wissenschaftler humpelte kaum und konnte seine Platten problemlos selbst tragen. Die bestanden aus stabilem Kunststoff, waren leicht und hatten gebogene Kanten.

Enok lief als erster, Goii hinter ihm, danach Darr. Kepler machte die Nachhut, beladen nicht nur mit Platten und Gewehr, sondern auch mit seinen Sorgen. Er war nicht der einzige dem es so ging, nur Goii schien außer den dreißig Kilo im Rucksack nichts weiter zu schleppen. Darr zerbrach sich sichtlich den Kopf, und zwar mehr über das große Ziel, als über seinen verstauchten Fuß. Worüber Enok grübelte, wusste Kepler nicht, aber der Verstoßene wäre kein guter Führer, würde er den Tod seiner Leute und den Zweck der Reise leichter hinnehmen.

Sie passierten die Bäume, unter denen Areía, Toii und der Bogenschütze lagen, und Enok blieb stehen. Zu den Bäumen blickend, neigte er den Kopf.

Hinter den Lagerhallen wehte der Wind stärker. Die Platten boten ihm einiges an Angriffsfläche, erst Darr, dann Kepler wurden von Böen umgeworfen. Der Wissenschaftler hatte einen kaputten Fuß. Die Ausrede für sich selbst, dass er sich ständig umsah, akzeptierte Kepler nicht. Er sprang mit dem Gewehr im Anschlag auf die Füße und sah sich um.

Der Laserring leuchtete beständig weiter und Shamanool lag immer noch reglos da. Der Plan schien zu funktionieren. Aber seine Vollendung konnte von Baobhan jederzeit zunichte gemacht werden.

"Darr, aufstehen und weiter", befahl Kepler.

Der Wissenschaftler sparte sich die Luft für die Antwort und kam leise stöhnend hoch. Plötzlich sah Kepler ein Schimmern bei der Schmiede. Soviel war zum Plan zu sagen, es gab doch noch mehr als eine Syth auf der Erde.

"Beeilung!", rief Kepler nur.

Mehr brauchte er nicht zu sagen, die anderen beschleunigten ihre Schritte sofort. Darr humpelte jetzt deutlich stärker. Die Platten schlugen sowohl ihm als auch allen anderen gegen die Knöchel, aber sie nahmen es kaum wahr.

Eine oder auch mehrere Syths waren jetzt auf dem Gelände der Wartungsstation. Höchstens sechshundert Meter entfernt. Und bis zum Todesstreifen vor der Wetterstation waren es noch knapp dreihundert.

Kepler blickte nochmal über die Schulter. Die zweieinhalb Meter langen Verkleidungen mussten ausreichen. Er ließ seine Platten liegen und ging langsam rückwärts, das Gewehr von einer Seite zur anderen schwenkend.

Eine Windbö wirbelte Darr herum. Kepler sprang zu ihm und fing die Platte mit der eigenen Seite ab. Der Wissenschaftler fasste sie neu an und sie gingen weiter. Drei Minuten später waren sie am Todesstreifen.

"Wieso warten wir nicht hier auf sie?", äußerte Goii sich zum ersten Mal seit sie losgegangen waren. "Sie können uns nicht unbemerkt umgehen."

"Weil wir zu dem Bau da müssen", gab Kepler abgehackt zurück. "Los, runter mit dir und mach es genauso wie ich es gesagt habe."

"Ich gehe zuerst", sagte Enok schnell und drängte sich mit seinen Platten an den Rand des Todesstreifens.

"Von mir aus", erwiderte Kepler ohne die Augen von den Bauten der Wartungsstation zu wenden. "Nur schneller."

Der Verstoßene ging zwischen seinen Platten auf die Knie, duckte sich und führte die Hände, die die Platten an den oberen Kanten festhielten, über dem Kopf zusammen. Kepler warf einen Blick über die Schulter. Es war auf eine makabere Weise ein wenig belustigend, einen Mann unter zwei glänzenden Platten zu wissen, die jetzt wie ein Satteldach auf der Erde standen.

"Die Platten unten weiter auseinander schieben", befahl Darr.

Enok drückte folgsam erst die rechte Platte mit dem Fuß weiter von sich, dann machte er dasselbe mit der linken.

"Gut so", entschied Darr. "Vorwärts!", befahl er drängend.

Enok kroch langsam los, die Platten neben sich her schiebend.

Die Laserfallen lagen im Abstand von drei Metern zueinander. Die Strahlen am Rand des Todesstreifens strichen über den Platten, als Enok sich zwischen sie schob. Kepler nahm das nur aus dem Augenwinkel wahr, er konzentrierte sich auf die Umgebung. Wie Darr und Goii den Atem anhielten, hörte er aber deutlich. Dass der Gondwaner das tat, konnte Kepler nachvollziehen, beim Wissenschaftler wunderte es ihn wirklich. Laser war zwar ein besonderes Licht, aber dennoch nur eine Form der elektromagnetischen Strahlung, die nun mal abgelenkt werden konnte. Enok merkte tatsächlich nichts, er kroch weiter. Kepler hörte geräuschvolles Ausatmen und sah wieder kurz über die Schulter.

"Goii, mach jetzt hin", befahl er schroff.

Der Gondwaner beeilte sich. Deswegen sah er nicht, dass die Laserstrahlen Spuren auf Enoks Platten hinterließen. Entweder stimmte der Ablenkungswinkel nicht oder die Plattenstruktur interagierte mit der Frequenz des Laserstrahls. Die Oberflächen der Verkleidungen verloren langsam ihren Glanz und wurden trübe.

"Enok, Goii, neigt die Platten stärker und kriecht schneller!", befahl Darr.

Der Wissenschaftler war ein seltsamer Typ. Manche Dinge erkannte er sofort, an anderen rannte er völlig blind vorbei.

"Wir müssen sehr schnell sein", sagte er warnend, nachdem Goii losgekrochen war. "Dazu müssen wir uns gut aufeinander abstimmen."

"Ich muss auf die Syths aufpassen", gab Kepler zurück. "Sie werden uns synchronisieren. Verbinden Sie meinen linken Schuh mit ihrem rechten."

Er schoss. Er wusste nicht genau, ob er eine Syth gesehen hatte, aber es war möglich, und seine Nerven waren bis zum Äußersten angespannt und in dieser Situation durfte er den Stress abbauen ohne jemanden zu gefährden.

Darr stellte schnell die Platten auf und kroch unter ihnen ganz nach vorn. Kepler schob sich rückwärts und mit dem Gewehr im Anschlag unter die Platten.

"Passen Sie mit dem Rucksack auf, Sie verschieben hier alles", maulte Darr.

"Entschuldigung. Machen Sie weiter."

Enok musste die Laserstrahlen doch bemerkt haben, sie wanderten mit seltsamen, deutlich wispernden Geräuschen über die Platten. Kepler war dem Verstoßenen dankbar dafür, dass er keine Reaktion gezeigt hatte. Es war manchmal einfacher, Dinge als gegeben zu akzeptieren. Das verhinderte zwar bisweilen das richtige Handeln. Manchmal jedoch den Tod.

Es war mühselig, nur auf einem Knie und den Ellenbogen rückwärts zu robben, dabei auf Darrs Bewegungen richtig zu reagieren, das Gewehr im Anschlag zu halten und Syths auszumachen zu versuchen. Nach einer Weile gab Kepler das Letzte auf. Solange die Außerirdischen keine Lichtbogenwaffen hatten, waren sie aus der Entfernung nicht gefährlich. Um näher zu kommen, würden sie die Fallen ausschalten müssen. Würde Kepler das übersehen, verdiente er es nicht, ein Soldat genannt zu werden. Er schob das Gewehr auf den Rücken und zog die Glock. So ging das Kriechen um einiges einfacher und auch schneller.

Das war auch nötig. Nach einer Weile hörte Kepler die Laserstrahlen nicht nur, er roch sie auch. Beziehungsweise, es stank jetzt nach schmorendem Kunststoff.

"Wir müssen schneller werden", sagte Darr drängend.

"Werden Sie, ich komme schon hinterher", gab Kepler zurück.

Er musste den Kopf tiefer senken, um besser mit den Armen arbeiten zu können. Sein Sichtfeld verringerte sich, er sah nur die allernächsten Laserstrahlen, und die auch nur unter der Stirn und nur verschwommen.

"Aua", schrie Darr plötzlich gepresst auf.

"Was ist?", erkundigte Kepler sich. "Aua", sagte er dann selbst.

Er hatte keinen Schmerz gespürt, zumindest nicht rein physisch. Der heiße Kunststofftropfen auf seinem Hals tat insofern weh, als dass mitten in einem Laserstrahlenfeld den Verlust der Abschirmung ankündigte.

Darrs Fuß riss jetzt heftig an seinem und nach einigen Metern steckte Kepler die Glock zwischen die Zähne und begann, sich mit den Händen zu schieben, sonst war er immer noch zu langsam. Dabei schleppte ein Wissenschaftler die Platten. Aber der Tod war auch für solche Typen ein mächtiger Anreiz.

Die heißen Tropfen fielen immer häufiger, Darr machte jetzt permanent seltsam stöhnende Geräusche. Kepler wiederholte sie nicht mehr. Der Wissenschaftler brauchte keine Beruhigung, sondern Ansporn.

"Noch hundert Schritte", keuchte Darr nach einer Weile.

Kepler antwortete nicht, sondern bewegte sich schneller. Das knirschende Geräusch des Kunststoffs auf dem Asphalt zerrte an seinen Nerven.

Sie schafften vielleicht noch zwanzig Meter weit zu robben, als ein Laserstrahl die oberen Ecken beider Platte abschnitt.

"Hände runter, Darr", schrie Kepler. "Fassen Sie die Platten vorn an!"

Die Platten wackelten, Darr ließ sie oben los und versuchte, sie an den Vorderkanten in der Mitte festzuhalten. Dadurch richteten sie sich auf und wurden sogleich von einem Laserstrahl in der Höhe fast halbiert.

Plötzlich spürte Kepler zwei Hände, die seinen Knöchel umfassten, dann ein heftiges Reißen an seinem Bein. Mit einem Ruck wurde er nach hinten und oben gezogen. Sein Rucksack schob die Platten auseinander. Einige Sekunden lang zischte und rauchte es leicht, dann wurden die Platten von mehreren Laserstrahlen zerteilt. Kepler schnappte mit der Rechten die Glock, die ihm aus dem Mund gefallen war, dann landete er hart mit dem Bauch auf Enoks Knien. Er drehte den Kopf und sah in die vor Schrecken geweiteten Augen des Verstoßenen.

"Danke", sagte er einfach.

Er überstreckte den Kopf und sah zu Darr, der halb auf Goii lag. Beide Männer blickten genauso erschrocken wie Enok.

Und alle drei lächelten erleichtert, als Kepler die Lippen auseinander zog.

Für einen Augenblick war es zwischen ihnen vier da, das Gefühl, das Darr für die ganze Menschheit haben wollte und Enok auch, und Goii vielleicht ebenso.

Sie vier waren unbesiegbar. Weil jeder von ihnen mit dem eigenen Leben für den anderen eingestanden hatte. Denn sie waren Menschen.

Dann war dieser Moment vorbei.

"Enok, beweg dich so wenig wie möglich, aber zieh schnell das Gewehr von meinem Rücken und gib es mit", befahl Kepler.

Enok schreckte auf und folgte mit den Augen seinem Blick. Auf der anderen Seite des Todesstreifens spiegelten die schwenkenden Laserstrahlen sich in der durchsichtigen Silhouette einer reglos verharrten grazilen Gestalt.

"Ich Idiot habe die Pilotin des Raumschiffs vergessen", murmelte Kepler.

Durch das Schwingen der Laserstrahlen wirkten die Bewegungen der Syth abgehackt. Dennoch sah Kepler sie relativ deutlich, dass sie recht unbedarft agierte. Dafür hatte sie eine Lichtbogenwaffe. Die Syth senkte etwas den Kopf, ihre linke Hand berührte den rechten Arm. Die Lichter des Todesstreifens gingen abrupt aus und die Silhouette der Syth wurde unsichtbar.

Kepler hatte das Gewehr schon in den Händen. Er war sich der Position der Syth sicher, und auch dessen, dass sie nicht still stehen würde. Er feuerte und schwenkte das Gewehr dabei von links nach rechts. Die Richtung, in die die Außerirdische sich bewegt hatte, hatte Kepler richtig vorausgeahnt. Dass die Syth sich auf den Boden werfen würde, nicht.

Direkt unter der Flugbahn des fünften Projektils flammte die Luft plötzlich auf, zog sich in Sekundenbruchteilen zu einem dünnen Blitz und bohrte sich fünf Meter vor Kepler in die Erde. Bevor er reagieren, oder es überhaupt wahrnehmen konnte, jagte ein Stromstoß über den Plasmakanal.

Die Explosion riss Kepler das Gewehr aus den Händen und schleuderte ihn fünf Meter weit nach hinten. Sein Körper federte den Aufprall instinktiv ab, er schlug trotzdem mit dem Kopf auf dem Boden auf. Benommen rollte er sich zur Seite und langte ungelenk zur Glock. Sein Kopf dröhnte, er sah schwarze Flecke und in seinen Ohren sauste es, als er sich taumelnd auf die Knie stemmte. Er riss die Pistole hoch und feuerte. Er wusste, dass die Chancen, die Syth zu treffen, minimal waren, auch wenn er die Pistole im Halbkreis bewegte. Er hoffte nur, sie ein wenig zurückhalten zu können.

Der Verschluss der Glock rastete hinten ein. Kepler drückte sofort den Magazinhalter und schwang die Pistole zur Seite, während er nach einem Ersatzmagazin langte. Taumelnd erhob er sich, rammte das neue Magazin in die Glock, spannte die Waffe und brachte sie in Anschlag. Sein Gleichgewichtssinn war immer noch beeinträchtigt, die ersten Schritte machte er mehr zur Seite als nach vorn, und sein Sehen war immer noch etwas unscharf. Er schoss zweimal, weil er glaubte, ein Schimmern gesehen zu haben. Es war reine Munitionsverschwendung, doch das scharfe mechanische Geräusch des repetierenden Verschlusses klarte seine Gedanken etwas auf und er hörte das Klingeln, mit dem die zweite Hülse auf dem Boden aufschlug.

Im nächsten Moment verflog seine keimende Erleichterung. Darr lag unnatürlich verdreht rücklings auf dem Boden. Kepler taumelte an Enok vorbei, der mit blutüberströmtem Gesicht auf dem Boden lag und kraftlos stöhnte. Goii stemmte sich zwei Meter weiter auf alle Viere und schüttelte den Kopf.

"Darr!", brüllte Kepler, als er neben dem Wissenschaftler auf die Knie fiel.

Sein Herz setzte fast aus, der einzige Mensch, der ihn nach Hause bringen konnte, rührte sich nicht. Aber dann sah Kepler, dass Darrs Augenlider leicht flatterten. Im nächsten Moment öffnete der Wissenschaftler die Augen und blinzelte völlig verwirrt und ratlos. Aus seiner Nase begann Blut zu fließen.

Kepler stemmte sich hoch. Mit der rechten Hand hielt er die Glock im Anschlag, mit der linken griff er zum Kragen von Darrs Jacke. Zum erloschenen Todesstreifen blickend, schleifte er den Wissenschaftler rücklings weg. Im nächsten Moment sah er rechts neben sich eine Bewegung und schleuderte die rechte Hand zur Seite. Aber es war nur Goii, der taumelnd an ihm vorbei lief.

"Goii!", brüllte Kepler. "Goii! Nimm deinen Vater mit!"

Der Gondwaner stolperte ohne jegliche Reaktion an ihm vorbei, stürzte auf die Knie, kam wieder hoch und schleppte sich weiter weg. Kepler sah wieder nach vorn. Bei den Fallen am Rand des Todesstreifens glaubte er, eine Lichtverzerrung zu sehen. Er feuerte dreimal dahin und schleppte Darr weiter.

Für die weniger als zwanzig Meter bis zum Gebäude der Wetterstation brauchte er noch einige Sekunden. Er drehte sich, fiel mit dem Rücken gegen die Wand und zog Darr hoch, während er die Glock hin und her schwenkte. Der Wissenschaftler stöhnte dumpf, als er ihn aufrichtete und an die Wand lehnte.

"Darr?"

"Äh?", keuchte der Wissenschaftler verstört.

"Alles klar?"

"No..."

Kepler sah zu Enok. Der Verstoßene wälzte sich hin und her, anscheinend hatte er einen Explosionsschock erlitten und war völlig verstört.

"Darr, die Glock", rief Kepler drängend.

Immer noch mit einem glasigen Blick langte der Wissenschaftler mit einer lahmen Bewegung nach der Waffe. Wie verwirrt versuchte er dann mit beiden Händen die Jacke hoch zu ziehen, um das Halfter zu erreichen. Kepler riss den Kopf nach links, er glaubte, wieder ein Schimmern zu sehen. Er sah es nicht mehr, schoss provisorisch dreimal und beugte sich zu Darr, zog seine Glock heraus und drückte sie in die schlafen Finger des Wissenschaftlers. Dessen Mund öffnete sich plötzlich, seine Augen weiteten sich. Im selben Moment sah Kepler an der Wand neben sich zwar keinen Schatten, aber dessen leichte, unterbrochene Konturen. Er ließ sich fallen, während er die rechte Hand zur Seite hochriss.

Es war aufgesetzt, die Geschosse schlugen Spritzer dunklen Blutes aus dem Nichts in weniger als anderthalb Metern Entfernung heraus. Darr schrie auf, weil Kepler mit dem Kopf seine Nase getroffen hatte. Im selben Moment stürzte der taumelnde dunkle Blutfleck, in den Kepler weiterhin hineinschoss. Der Kopf der Syth prallte schwer gegen seine Beine und verzerrte die Sicht auf seine Stiefel. Er senkte die Glock und schoss.

Die letzte Kugel durchschlug die Maske und das schaltete wohl die Tarnvorrichtung aus. Ein weißer Blitz lief über die Syth. Während sie sich materialisierte, ließ Kepler seine leere Glock fallen, drehte Darr dessen Pistole aus der Hand und richtete sich auf die Syth. Aber sie lag völlig reglos da. Kepler zog die Beine unter ihr heraus und stand auf. Von der abrupten Bewegung wurde ihm schwindlig, er musste sich mit der Hand an der Wand abstützen. Sein Blick klarte auf. Die Außerirdische war sehr groß, das erklärte ihren langen Schatten.

Viel wichtiger war jedoch die Erkenntnis, dass Baobhan anscheinend wirklich glaubte, Kepler hätte die richtige DNA-Sequenz. Auch diese Syth hatte zuerst daneben geschossen. Und in ihrer rechten Hand hielt sie einen Netzwerfer.

"Darr, ist jetzt alles klar?", fragte Kepler.

"No", gab der Wissenschaftler etwas weinerlich zurück. "Ich will nach Hause."

"Ich auch", echote Kepler.

Enok hatte wohl doch keinen Schock gehabt, sondern nur ein leichtes barisches Trauma. Als Kepler zu ihm sah, hatte der Verstoßenenanführer sich schon halbwegs aufgerappelt. Er saß zwar gekrümmt und mit gesenktem Kopf auf den Knien und seine Handbewegungen waren langsam, aber er versuchte, das Blut aus seinem Gesicht zu wischen. Kepler ging zu ihm.

"Ein Spaziergang ist es mit dir nicht gerade, Ares", krächzte Enok.

"Ich hatte dir gesagt, bleib zu Hause", entgegnete Kepler erleichtert.

"Das hast du", bestätigte der Verstoßene. "Hilf mir hoch."

Nach einigen Metern wurden Enoks Schritte fester, dann stieß er sich von Kepler ab und lief fast zu der toten Syth. Er fiel vor ihr schwer auf die Knie, doch er zerrte entschieden die Lichtbogenwaffe vom Rücken der Außerirdischen. Danach drehte er sich zu Darr, der nun auch wieder einen klaren Blick hatte.

"Zeig mir, wie man damit umgeht", verlangte Enok von ihm.

Kepler drehte sich um und ging zu seinem Gewehr.

Es hatte die Explosion anscheinend völlig unbeschadet überstanden, es hatte nicht einmal einen Kratzer. Kepler lud es durch. Die Patrone flog aus der Kammer, die nächste wurde sauber geladen, der Abzug spannte sich. Kepler zielte auf die Laserfalle in etwa einhundert Metern Entfernung und schoss. Die Laserfalle flog auseinander, die Kugel hatte sie exakt getroffen. Die nächste, in fünfhundert Metern, ebenso, aber bei ihr gab es eine kleine Abweichung. Die Falle in einem Kilometer Entfernung wurde von der dritten Kugel am Rand getroffen und lediglich gedreht. Die Optik hatte sich beim Aufprall auf die Erde um eine Bogenminute verstellt. Kepler schulterte das Gewehr.

"Theoretisch können wir weiter", sagte er, als er bei Enok und Darr war. "Wir schießen mit der Lichtbogenwaffe einen Korridor durch den Laserring."

"Wird nichts", meinte Darr noch bevor Enok protestierend den Mund geöffnet hatte. "Es ist nur Energie für etwa einhundert Schuss drin."

"Den Rest mache ich mit dem Gewehr", erwiderte Kepler.

"Nein, Ares! Nein!", schrie Enok fast. "Das ist meine Waffe! Ich muss sie zu meinem Volk bringen! Mit einhundert Schuss werden wir uns noch mehr solcher Waffen besorgen. Das ist unsere Zukunft! Du nimmst sie mir nicht weg!"

Das blutverschmierte Gesicht des Verstoßenenanführers war kompromisslos entschlossen. Er war bereit, rücksichtslos die Waffe zu verteidigen, die sein Clan mit einem grausamen Preis bezahlt hatte. Seine Hände begannen sich zu heben.

"Ruhig, Enok", sagte Kepler beschwichtigend. "War nur so ein Gedanke. Behalte die Knarre. Wir ändern den Plan nicht mehr."

"Welchen?", fragte Enok angespannt.

"Baobhan hat keine Leute mehr und sie will mich wohl kriegen, bevor die Verstärkung herkommt", antwortete Kepler. "Also hat sie eigentlich keine Wahl als selbst herzukommen." Er machte eine Pause. "Aber eins, Enok", sagte er dann entschieden, "deinem Sohn schlage ich gleich ein paar Zähne raus."

Der Verstoßene erwiderte nichts darauf. Stattdessen erhob er sich und half Darr aufzustehen. Dann sah er zu Kepler.

"Lass uns sie umbringen, Ares", sagte er.

An der Wetterstation hatte der Krieg die meisten Schäden angerichtet. Die Schiebetür stand offen und war in der Führung so verkeilt, dass sie sich nicht bewegen ließ. Auch im Inneren der Halle, die so groß wie ein Fußballstadion war, herrschte Zerstörung. Der Boden war mit einer Schicht aus Dreck und Unrat bedeckt, überall lagen irgendwelche Bruchstücke. Spinnweben, von riesigen bis winzig kleinen, spannten sich über die Überreste demolierter Schränke, in denen unzählige graue Kisten standen. Anscheinend waren es Computer für die Auswertung und Speicherung von Daten, hier war wohl die Wetterforschung für den halben Kontinent betrieben worden. An einigen Stellen gab es Trennwände, aber bis auf eine waren alle entweder gebrochen oder umgeworfen. Dicke Stränge aus verdrillten Kabeln wanden sich auf dem Boden zu chaotischen Knäueln.

Damit die Wetterballone gestartet werden konnten, hatte das Dach eine Öffnung. Die Abdeckplatten waren bis zum Anschlag zurückgefahren, und das anscheinend schon seit Jahrzehnten. Die Dachverstrebungen in der Nähe der Öffnung waren völlig verrostet. An ihren Kanten hatten eisenzersetzende Bakterien mehrere etwa zwanzig Zentimeter lange Stalaktite aus Rost gebildet. Deren Form erinnerte an Eiszapfen, aber sie hatten eine hässliche braune Farbe.

Das offene Dach war ein Zugang ins Innere der Wetterstation. Wenigstens gab es keine weiteren Türen und überhaupt keine Fenster in dem Gebäude.

"Darr, sehen Sie zu, ob noch ein Ballon zu finden ist", wies Kepler an. "Falls ja, bereitet ihn vor und flechtet noch ein Tragnetz. Klar was ich meine?"

"Ja", antwortet der Wissenschaftler. "Und was machen Sie?"

"Als erstes eine Sache klarstellen", antwortete Kepler.

Er folgte den deutlichen Spuren im Dreck zu einer Maschine, die etwas weiter zur Hallenmitte an der rechten Wand stand. Die Maschine hatte wohl die Wetterballons produziert, zumindest hatte sie ein relativ großes Rohr. Kepler langte hinein, bekam Goiis lange Haare zu fassen und zog den Gondwaner heraus.

Als Goii vor ihm auf den Boden plumpste und sich ängstlich zusammenzog, verflog die Wut, die Kepler für diesen Menschen empfand.

"Na, Goii, ist die Fruchtblase geplatzt?", interessierte er sich und musste lachen, als der Gondwaner ängstlich aufsah. "Dann entbinde mal."

"Was?", brachte Goii verwirrt heraus.

"Gib die Ratte her."

"Aber..."

"Goii", unterbrach Kepler ihn. "Ich will die Ratte haben und ich bekomme sie."

Er brauchte kein Wort mehr zu sagen, Goii langte hastig unter seine Jacke. Einige Sekunden später hielt er Kepler eine kleine Tasche hin, in der sich das Tier erbost zu winden schien. Kepler hängte sie über den Rücken und tippte ans Ohr.

"Darr?"

"Alles gut, Dirk", meldete der Wissenschaftler sich euphorisch. "In der Startrampe hängt noch ein Ballon und einige weitere sind auch noch da. Und ein paar Gasflaschen auch!"

"Was ist mit dem Netz?", wollte Kepler wissen.

"Wir binden mit Kabeln den Flechtkorb aus Draht, den Enok gefunden hat, an das Traggeschirr für die Messausrüstung", antwortete Darr zuversichtlich.

"Gut. Ich schicke Goii zu euch. Macht schnell alles fertig, aber passt auf, Baobhan kann jeden Moment hier auftauchen", befahl Kepler. "Und entfernt euch nicht von der Startrampe bis ich es erlaube oder sterbe."

"Wieso?", fragte Darr erschrocken zurück.

"Weil ich euch als Köder missbrauchen muss", antwortete Kepler offen.

"Ah", kommentierte Darr lediglich. "Äh... und wenn wir mal müssen?"

"Geht um die Ecke oder macht es wie Goii – pillert in die Hose."

Kepler unterbrach die Verbindung und ging zur Tür.

Dass Baobhan jetzt genau wusste wie er aussah, wollte Kepler zu seinem Vorteil ausnutzen. Und auch ohne den Ghillie konnte er unsichtbar bleiben, solange die Syth ihn nicht genau lokalisiert hatte. Und weil sie jetzt wohl wirklich allein war, konnte sie nicht mehr anders handeln, als nach dem Prinzip des direkten Vorstoßes. Sie musste nur den richtigen Zeitpunk dafür abpassen. Daher rechnete Kepler mit einem Angriff in der Nacht, er beeilte sich trotzdem so gut es ging.

Baobhan würde mit Sicherheit nicht denselben Fehler machen, den zwei Syths mit ihrem Leben bezahlt hatten. Zudem waren die Kabel, die Kepler aus einem Strang herausgezogen hatte, sehr reißfest und relativ dick. Aber wenn sie auch sichtbar waren, solange Baobhan die Tür nicht benutzen konnte, war die gesichert. Kepler spannte mehrere Kabel über den Eingang, sodass Baobhan über sie nicht springen und sich nicht zwischen ihnen hindurch schlängeln konnte. Er führte die Enden am rechten Türrahmen zusammen und befestigte daran seine letzte Granate. Damit blieb nur noch das offene Dach als Zugang übrig.

Darr und Enok arbeiteten an der Startrampe, die sich direkt unter der Dachöffnung befand. Goii hockte auf ihrem Gerüst mit der Lichtbogenwaffe in den Händen und sah sich unentwegt um. Kepler sah keine blauen Flecke in seinem Gesicht, Enok musste wohl verbal erreicht haben, dass sein Sohn jetzt nicht mehr versuchte, nur die eigene Haut zu retten. Sein Blick war sogar überhaupt nicht missmutig, jedoch sah er gleich wieder zur Seite als Kepler zur Starrampe kam.

Kepler winkte Darr und Enok, die aus verdrillten Kabelsträngen ein Netz knüpften, weiter zu machen, und nahm den Rucksack mit dem Zunder. Er hängte ihn vor den Bauch, zog das Messer und schnitt seinen Boden auf. Dann ging er in einer Spirale von der Startrampe weg. Dabei zerschlug er mit der Hand den steten Strom aus dem Rucksack rieselnder Zunderteilchen, sodass sie sich großflächig auf dem Boden verteilten.

Nachdem er einen Ring von sieben Metern Breite bestreut hatte, hielt er den Schnitt im Rücksack mit der Hand zu und lief in die hintere linke Ecke der Halle. Dort stand ein Apparat, dessen Zweck Kepler nicht ansatzweise nachvollziehen konnte. Er interessierte ihn auch nicht. Von dieser Maschine aus war sowohl die Dachöffnung vollständig sichtbar, als auch die Startrampe. Kepler streute den letzten Zunder um den Apparat aus und nahm den Rucksack ab.

Neben dem Apparat stand eine Maschine, die entfernt an einen überdimensionalen Computer erinnerte. Kepler schob sie neben den großen Apparat, knüllte den Rucksack so zusammen, dass er annähernd eine kugelige Form bekam, fixierte ihn mit einem Trageriemen und legte ihn auf die kleine Maschine. Danach nahm er die Tasche mit der Ratte ab und öffnete sie, um sich Goiis Lebensretterin anzusehen. Die Ratte war tatsächlich weiß. Und sie verbiss sich sofort und entschieden in Keplers rechtem Zeigefinger.

"Eh du", sagte er, "ich habe Tollwut."

Die Ratte ignorierte die Warnung und presste die Kiefer noch stärker zusammen, als Kepler sie am Hals packte. Er zwängte mit zwei Fingern ihre Zähne auseinander. Sein Finger kam frei. Er drückte die Ratte zurück in die Tasche und machte sie zu. Er musste das sich in der Tasche windende und wütend knurrende Tier herunterdrücken, deswegen dauerte es ziemlich lange, bis er ein Riemenende mit einer Hand an der Maschine befestigt hatte. Danach band er das andere Ende des Riemens so an der Maschine fest, dass die tobende Ratte nicht samt der Tasche von der Maschine fallen oder den Rucksack herunter stoßen konnte.

Das Ganze hatte gedauert, der Tag neigte sich dem Ende zu und in der Halle wurde es allmählich dunkler. Kepler zog den Ghillie aus und stülpte ihn so über die Maschine, dass sie selbst, der Rucksack und die Tasche mit der aufgebrachten Ratte abgedeckt waren. Über der Tasche mit der Ratte schob er die Streifen des Tarnanzuges vorsichtig auseinander. Er trat zurück und sah das Ergebnis seiner Mühen kritisch an. Aber an der Falle gab es nicht zu verbessern. Die mit dem Ghillie abgedeckte Maschine imitierte einen kauernden Körper. Und zwischen den Streifen gab die Ratte ab und zu eine winzige Infrarotsignatur ab.

Kepler lief in die rechte Ecke. Dort stand an der Wand der gleiche Apparat wie in der linken, er war jedoch um einiges größer. Kepler nahm das Gewehr vom Rücken, kletterte auf den Apparat und zwängte sich zwischen die Stäbe, die nach oben aus ihm herausragten. Er brauchte fast fünf Minuten, bis er sich halbwegs bequem eingerichtet hatte. Danach dauerte es, bis er den Tarnumhang so über sich ausgebreitet hatte, dass er ihn vollständig abdeckte.

"Darr", rief er anschließend den Wissenschaftler leise über den Kommunizierer, "sobald Sie mit dem Netz fertig sind, gehen Sie mit Enok und Goii ans hintere Ende der Startrampe. Versucht zu schlafen, aber einer muss Wache halten."

Es dauerte noch eine Stunde, dann sah Kepler im letzten Licht drei schemenhafte Gestalten, die sich an die Startrampe kauerten. Nur wenige Minuten danach ging die Sonne unter und in der Halle wurde es völlig dunkel.

Bald sah Kepler durch die Dachöffnung einige Sterne, dann ging der Mond auf. Er war nicht sichtbar, aber auch sein indirektes Licht machte die Dunkelheit in der Halle diffuser. Die grauen Überreste der maschinellen Zivilisation hoben sich geisterhaft von der Finsternis um sie herum ab, einige Spinnweben glitzerten silbern wie Fetzen von seltsamem Rauch dazwischen.

Kepler blickte solange zu der Maschine, die ihn imitierte, bis er die Entfernung zu ihr bis auf Zentimeter bestimmt hatte. Er sah ganz leichte Bewegungen unter der Decke, die Ratte hatte sich mit ihrem Schicksal noch immer nicht ganz abgefunden. Kepler entschuldigte sich im Geiste bei ihr. Danach, Millimeter für Millimeter, so wie er es schon unzählige Male getan hatte, erfasste er mit den Augen die Umgebung. Er verinnerlichte die Positionen und Lagen von jedem Schrank und jeder Maschine in seinem Sichtfeld, und die Lage von den vierzehn dünnen Streben unter dem Dach, die er sehen konnte. Er nahm das Surren der Laserstrahlen im Ring wahr, der die Wartungsstation umschloss und nun, in der Stille der Nacht, kaum merklich durch die offene Tür und das Dach in die Halle drang. Kepler hörte zu, bis er diese Melodie des Todes auch verinnerlicht hatte, dann blendete er sie aus seiner Wahrnehmung aus. Aber er spürte sie weiterhin und würde jede Änderung darin sofort bemerken.

Einen Teil der Halle konnte er von seiner Position aus nicht in Augenschein nehmen ohne sich zu bewegen. Das störte ihn nicht, er konnte die fehlende Sicht auf eine andere Art und Weise kompensieren.

Die Nacht zog sich dahin. Die Ratte bewegte sich nicht mehr, anscheinend schlief sie. Baobhan kam nicht. Sie wusste, dass er auf sie wartete, und dass er sich auf ihr Kommen vorbereitet hatte. Sie versuchte wohl, ihn durch das Warten zu zermürben. Aber lange konnte sie das nicht tun – wenn sie ihn wirklich vor dem Eintreffen der anderen Syths erwischen wollte.

Plötzlich hörte Kepler etwas. Ohne sich zu bewegen hob er die Augen zur Dachöffnung. Dort war etwas, er hörte kurzes leises Knistern. Erst an der einen Kante, dann an der anderen. Er sah nichts und nahm bewusst den Zeigefinger vom Abzug. Auch wenn er das Geräusch genau lokalisieren konnte, schoss er daneben, würde er im nächsten Augenblick sterben.

Das Knistern hörte immer wieder auf und wurde dann für einen Moment wieder hörbar, bevor es erneut erstarb. Aber auch die kurzen Geräusche waren deutlich genug, damit Kepler feststellen konnte, dass sie die Dachöffnung umrundeten. An der Kante, die gegenüber der Maschine mit der Ratte lag, änderte sich das Muster des Knisterns für einen Augenblick.

Dann verschwand es völlig. Baobhan wollte wohl auch ganz sicher handeln und nicht vom Dach aus schießen. Das Knistern kam nicht wieder, dafür hörte Kepler von draußen gedämpft irgendwelche Geschöpfe der Nacht.

Er wartete. Und löste sich innerlich in der Umgebung auf, so wie die Tarndecke ihn äußerlich mit ihr verschmelzen ließ. Eine Spinne kroch aus ihrem Versteck heraus und begann ihr Netz auszubessern, das zwischen den Streben des Apparats gespannt war. Das kleine Tier beachtete Kepler nicht, obwohl er sich weniger als einen halben Meter entfernt befand.

Weil er ein Teil dieser Welt war und weil diese Welt ein Teil von ihm war.

Er, dem Empfindungen rein physiologisch fremd waren, seit langer Zeit fühlte er zwei Dinge klar, deutlich und stark. Er liebte Afrika inständig und genauso hasste er alle und jeden, der diesem Kontinent wehtat. So war es vor Millionen von Jahren gewesen. So würde es immer bleiben. Weil Afrika die Heimat von Lisa war. Und seine war sie auch geworden. Es war ein Teil seiner Seele.

Kepler sah durch die Dachöffnung. Dieser afrikanische Himmel war ihm nicht fremd, aber seine Andersartigkeit rief tiefes Bedauern in ihm hervor. Er würde gern in die unendlichen Weiten blicken und das seltsame Zwiegespräch mit den Sternen führen, wie es zu tun er in Afrika gelernt hatte. Aber er sah keine Sterne, die er kannte. Er könnte sie finden, aber das würde seine Aufmerksamkeit binden und sie brauchte er. Für einen Scharfschützen war es tödlich, nicht auf seine Umgebung zu achten. Kepler analysierte sie wieder und wieder.

Als der Morgen graute, war er absolut konzentriert und völlig entspannt. Baobhan würde ihn nicht bemerken und niemals unbemerkt an ihm vorbeikommen.

Er war Scharfschütze. Und das hier war seine Welt, nicht ihre.

Kepler nahm keine Veränderung im Surren des Laserrings wahr. Er hatte jedoch auch nicht damit gerechnet. Baobhan würde an einer Stelle in die Wartungsstation kommen, die von der Ballonhalle aus nicht sichtbar war.

Ein Streifen des Ghillies bewegte sich ein wenig, die Ratte war wohl wieder wach. In einer unendlich langsamen Bewegung legte Kepler die rechte Wange auf den Kolbenschaft und bewegte das Gewehr etwas nach rechts, bis die Mündung des Schalldämpfers auf die Maschine mit der Ratte gerichtet war. Sein rechter Zeigefinger legte sich um den Abzug. Er sah die Syth nicht.

Aber sie musste gleich da sein. Baobhan musste einfach diese Zeit gewählt haben. Es war die einzige des Tages, in der das Licht sich nicht einmal ansatzweise in ihrer Tarnung brechen konnte. Kepler wusste es.

Das flüchtige Klirren überraschte ihn trotzdem. Es war von einer Stelle hinter der Startrampe gekommen, die er nicht einsehen konnte. Er spannte sich an, bewegte sich aber nicht. Dafür nahm er eine Bewegung links von der Startrampe wahr. Sie war verstohlen, aber bedrohlich und kraftvoll.

Im nächsten Moment schritt ein Gool wie ein weiß schimmernder Schatten aus der Dunkelheit hervor. Kepler unterdrückte den Reflex, auf ihn anzulegen und zu feuern, nur seine linke Hand schoss zu seinem Ohr hoch.

Zugleich zerriss ein greller Schrei die Stille. Nach Luft schnappend stand Goii da und starrte auf den Gool. Das Monster hatte den winzigen Schädel einer Drohne, aber der schrille Laut schien ihm einiges Unbehagen zu bereiten, und es verharrte. Goii stolperte zurück und fiel auf die Knie, aber seine Arme hoben sich. Sie zitterten jedoch so stark, dass der Lauf der Lichtbogenwaffe in einem Kreis von einem halben Meter im Durchmesser tanzte. Der Gool sprang vor. Im selben Augenblick feuerte Goii endlich. Der gleißende Blitz riss das rechte Bein des Monsters ab. Aufbrüllend stürzte es, seine roten Augen leuchteten dämonisch auf. Dunkle Blutspur hinter sich her ziehend, pflügte der Gool sich durch den Dreck auf dem Boden. Mit weit ausholenden Bewegungen der Arme und des linken Beins kroch es behände über die auf dem Boden zerstreuten Maschinenteile und umgekippte Computerschränke. Goii fiel erschrocken hinten über und schob sich mit hastigen Fußtritten zurück.

Das kratzende Scheppern der Gool-Krallen auf dem Boden ging plötzlich in schnellen mechanischen Geräuschen des repetierenden Verschlusses unter. Darr stand neben Goii und feuerte. Währenddessen versuchte Enok verzweifelt, seinem Sohn die Lichtbogenwaffe aus den Händen zu reißen. Goii klammerte sich jedoch aus aller Kraft an sie. Die Pistolenmunition veranlasste den Gool zum noch lauteren wütenden Brüllen, sie hinderte ihn nur unwesentlich daran, weiter zu kriechen. Darr schleuderte mit einer seitlichen Bewegung das leere Magazin aus der Glock und rammte ein neues in ihren Griff. Im selben Moment ließ Enok plötzlich die Lichtbogenwaffe los. Und lächelte Goii aufmunternd an.

Dieses Lächeln schaffte das, was nicht einmal die Todesangst zu vollbringen vermocht hatte. Goii atmete tief ein und schoss. Der Kopf und der obere Torso des Monsters wurden pulverisiert. Die aus dem enthaupteten Rumpf ragenden zersplitterten Knochen bewegten sich noch kurz, während der tote Gool noch einen Meter weiter kroch. Dann verharrte sein ausholender rechter Arm wie ein makaberer Ast in der Luft. Das Monster wurde reglos. Darr drehte sich mit der Glock hin und her, während Enok seinem Sohn aufzustehen half.

Das dumpfe Geräusch eines Aufschlags ließ Kepler nach links blicken. Der zerknüllte und von der Kapuze des Ghillies umhüllte Rucksack rollte über den Boden von der Maschine weg. Der Rest des Tarnanzuges rutschte herunter und machte die Tasche mit der jetzt völlig reglosen Ratte sichtbar. Über der Tasche glänzte in der Luft die Klinge, der Kepler im Kampf am Pavillon in Vinteta entgangen war. Und weiter hinten, zwischen dem großen Apparat und der Wand, materialisierte sich gerade ein Schatten, der die Sense in den Händen hielt.

Untereinander verhielten sich Zunder-Teilchen, oder Eisen-III-Oxid, nicht wie Magneten. Doch sie waren ferrimagnetisch. Deswegen wurden sie von äußeren Magnetfeldern angezogen. Ein solches entstand immer, wenn elektrischer Strom durch einen Leiter floss. Und die Tarnanzüge der Syths arbeiteten mit Elektrizität. Das produzierte unausweichlich ein elektromagnetisches Feld.

Wie Staubkörner im Wind wirbelten immer mehr Zunder-Teilchen durch die Luft dort wo die Syth stand. Die unzähligen schwarzen Partikel sammelten sich wie winzige Insekten zu hastig brodelnden Schwärmen. Ein solches Wölkchen formte sich zu einer dünnen Schnur. Wie eine winzige Schlange schoss sie zur Lichtbogenwaffe und wickelten sich um sie. Andere Partikel legten sich entlang der Magnetfeldlinien als ein unheilvoller Schatten auf den Anzug der Syth.

Jetzt brauchte Kepler kein Licht mehr, das im richtigen Winkel einfiel, um ein flüchtiges Schimmern in der Luft zu sehen. Das Eisen umhüllte die Außerirdische wie ein Leichentuch. Und die dunklen Partikel machten die fast menschliche Regung sichtbar, als die Syth fassungslos den Kopf hob.

Die vielen kleinen Wölkchen wirbelnden Zunder-Teilchen verteilten sich auch auf der Maske. Im zögernden Licht des Morgens wurden schemenhaft die Konturen des Totenkopfes sichtbar. Die beiden wie pechschwarze, bodenlose Untiefen klaffenden Augenhöhlen richteten sich in Keplers Richtung. In verzweifelter Bestürzung schwang die Syth ihre lange Lichtbogenwaffe mit der ausgeklappten Klinge wie eine Sense über die Schulter und sprang vor. Kepler schoss.

Das Lapua-Geschoss drang mitten in der Stirn in die Maske ein. Auf die kurze Entfernung wirbelte die Wucht des Geschosses die Syth herum. Während sie stürzte, entfaltete der Brandsatz seine verheerende Wirkung. Die Funken schossen in zwei Fontänen durch die Augenschlitze der Maske heraus. Eine Sekunde nachdem die Syth auf dem Boden aufgeschlagen war, erstarb auch das Glühen.

Für einen Augenblick wurde es wieder still. Dann deaktivierte die Tarnung sich in einem Blitz, der die Zunder-Partikel vom Anzug fegte.

Als dieses leise Rascheln verklungen war, erhob Kepler sich. Er brauchte einige Sekunden, bis sein Kreislauf sich nach dem langen Sitzen stabilisiert hatte, dann kletterte er herunter. Darr, Enok und Goii schlossen zu ihm auf, als er zur Syth ging. Einige Augenblicke lang blickten sie schweigend auf die Außerirdische, die so viele Leben ausgelöscht hatte, um in diese Halle zu kommen.

Das hatte sie zu einem bestimmten Zweck getan. Sie lag unnatürlich aufgebäumt, weil an ihrem Rücken zwei Behälter hingen. Die gleichen, die Kepler in Gondwana und im Labyrinth gesehen hatte. Deswegen hatte Baobhan sofort die Waffe eingesetzt. Sie wollte ihn töten – und sein Blut haben. Und sie hatte einen Gool mitgenommen. Um die anderen drei einfach nur zu töten.

"Wieso haben Sie geschossen statt die Fernsteuerung zu benutzen, um den Gool aufzuhalten?", wollte Kepler wissen.

"Ich habe sie irgendwo verloren", antwortete der Wissenschaftler.

"Dann hatten wir viel Glück gehabt, dass Goii nicht eingeschlafen war", kommentierte Kepler.

"Ich hatte nicht geschlafen", stellte Darr klar. "Das war nämlich ich, der geschrien hatte – damit Goii schoss."

"War gut", sagte Kepler und zeigte auf die Fernbedienung am linken Handgelenk der Syth. "Nehmen Sie die da für die Zukunft. Und die Lichtbogenwaffe."

Während Darr sich zur Syth beugte und Enok gierig nach der Sense griff, lief Kepler dahin, von wo er Minuten zuvor das klirrende Geräusch gehört hatte. Mit vorgestreckter Glock umrundete er die Startrampe und danach ein Computerregal. Hinter dem stand ein kleiner, wie ein Skelett anmutender Kran aus filigranen Streben. Die Luke im Boden neben ihm war nicht groß, anscheinend war es nur ein Verbindungstunnel. Jetzt zeichnete die Lückeklappe sich scharf im Dreck ab, am Tag zuvor war sie nicht zu sehen gewesen. Die Spuren um sie herum sah Kepler auch im schwachen Licht des Morgens deutlich. Es waren jeweils die von einer Syth und von einem Gool.

Kepler stecke die Glock in die Weste und ging zur Tür. Dort angekommen, drückte er sich an die Zarge und sah hinaus. Draußen rührte sich nichts. Nur die Schatten zweier kleinen Büsche, die sich unweit der Halle durch den Asphalt durchgekämpft hatten, wurden im rasanten Sonnenaufgang immer länger. Dann war die Sonne vollständig über dem Horizont, und die Umgebung erstrahlte im freudigen Licht eines neuen Tages. In den noch sehr schrägen Sonnenstrahlen würde eine getarnte Syth auf größere Entfernung zu sehen sein.

Doch nur zirkelnde Strahlen des Laserringes störten den Frieden des Morgens.

Nach zehn Minuten holte Kepler die Granate und steckte sie ein. Dann riss er die Kabel ab und setzte sich auf die Schwelle. Einige Minuten später hörte er Schritte hinter sich. Darr setzte sich neben ihn hin und blinzelte in die Sonne.

"Baobhans Lichtbogenwaffe ist leer", berichtete der Wissenschaftler.

"Schade für Enok", meinte Kepler beiläufig. Er sah sich um, dann sah er zum Wissenschaftler. "Ich habe meinen Teil der Abmachung erfüllt. Sie sind dran."

"Welche Abmachung?", fragte Darr überrascht.

"Ich habe – Nichts versprochen", antwortete Kepler. "Und das habe ich auch gehalten." Er sah Darr in die Augen. "Schicken Sie mich nach Hause."