10. Darr zoomte die Karte mit einer kaum wahrnehmbaren Fingerbewegung wieder so heran, dass oben der Punkt war, der Vineta darstellte, und unten der, der die Versiegelte Stadt anzeigte.
"Wir müssen diese Entfernung überbrücken", begann Darr. "Das sind etwa achthundertsiebzigtausend Stadien."
Kepler schüttelte nur den Kopf. Dieses Längenmaß der Antike hatte es in unterschiedlichen Größen gegeben, je nach dem, ob es asiatisch, griechisch, römisch oder ägyptisch war. Aber Kepler kannte ungefähr die Entfernung zwischen den beiden Punkten auf der Karte, es waren etwa viertausendfünfhundertachtzig Kilometer. Damit verwendete Darr das olympische Stadion.
"Was war am metrischen System auszusetzen?", murrte Kepler. "Haben die Maschinen es verboten, weil Waffenkaliber damit angegeben wurden?"
Darr sah ihn recht ratlos an und zuckte nur die Schultern. Kepler interpretierte die Geste des Wissenschaftlers als konfuse Zustimmung und nickte auffordernd.
"Zu meinem Vorhaben gehört Ihr gesamtes Wissen über den Krieg", fuhr Darr fort, "und ein funktionierendes Exemplar der großen Waffe."
"Das Gewehr?"
"Wenn Sie es so nennen", sagte Darr beifällig. "Wir müssen nicht nur wissen, wie man den Krieg führt, wir müssen es auch tun können. Mit Waffen, die Syths nicht anhand des Energiefeldes identifizieren können. Leider dauert es sehr lange, einen Computer so zu manipulieren, dass man eine Waffe bauen kann... na, Sie haben es ja selbst erlebt. Ich möchte aber genau wissen, wie das Gewehr funktioniert und wie man damit umgehen muss. Sie wollen schnellstens zurück und haben keine drei Wochen Zeit über, oder? Deswegen suchen wir auf dem Weg in die Versiegelte Stadt erst Gondwana auf. Die Computer dort sind schon manipuliert. Ich baue das Gewehr zügig nach und dann ziehen wir weiter."
"Moment", sagte Kepler. "Wie heißt die Stadt?"
"Gondwana", wiederholte Darr.
"Warum das?", fragte Kepler ohne mit einer sinnvollen Antwort zu rechnen.
Die in dieser Zeit gebräuchlichen Namen waren seltsam. Kepler kannte Gondwana als die Bezeichnung nicht für eine Stadt, sondern für einen ganzen südlichen Großkontinent, den es angeblich zur Zeit der Dinosaurier gegeben hatte.
Er bekam auch keine Antwort. Darr zuckte nur die Schultern.
"Die meisten Straßen sind zwar intakt und wir haben noch einige Straßengleiter", fuhr er fort, "aber die Chancen, auf dem Landweg zu unseren Zielen zu kommen, sind miserabel. Also müssen wir den Luftweg benutzen. Wir besitzen keine Luftfahrzeuge mehr, auch keine Raumgleiter. Aber die Syths haben welche. Und sie kommen bald hierher, um ihren Tribut abzuholen." Er machte wieder eine Pause und sah Kepler in die Augen. "Dirk, Sie müssen sie überwältigen, damit wir deren Gleiter nehmen können. Wir schaffen die erste Etappe innerhalb von vier Horas. Ich sauge", er lächelte, "aus Ihren Kopf die Baupläne für die Waffe. Das wird eine Hora dauern. Dann eine Hora für den Flug in die Versiegelte Stadt. Dort werde ich maximal eine Hora brauchen, um die Maschine zu aktivieren, mit der ich Sie zurück schicken kann. Das war es."
Kepler unterdrückte seinen Unmut. Er hatte einen wirklich sehr klugen Menschen vor sich. Aber dieser Wissenschaftler hatte keine Ahnung, wie eine militärische Operation ablief. Es war kein Wunder, dass er ihn brauchte.
"Ich bin aber kein Pilot", sagte Kepler.
"Sie brauchen den Gleiter nicht zu fliegen, das werde ich tun", beruhigte Darr ihn. "Ich habe das Gehirn der Syth gescannt, die Sie getötet haben."
"Löblich", meinte Kepler. "Wieviele Syths kommen her?"
"Fünf."
"Fünf? Sie haben vorhin schon gesehen, dass ich gegen eine einzige fast verloren hatte?", vergewisserte Kepler sich.
"Jetzt haben Sie aber Ihre Waffe wieder", entgegnete Darr. "Und wenn die Syths den Tribut abholen, benutzen sie nicht mal ihre Tarnung."
"Ach ja", kommentierte Kepler lediglich. "Und warum tun sie das nicht?"
"Weil sie überhaupt nicht damit rechnen, dass ein Mensch sich währt."
"Wo und wie läuft das Ganze ab?", erkundigte Kepler sich.
"An der Eurosmauer...", begann Darr.
"Stopp", unterbrach Kepler ihn. "An welcher Mauer?"
"Die dort steht, wo die Sonne aufgeht."
"Und wie heißt die Himmelsrichtung, wo die Sonne untergeht?"
"Zephyros."
"Und dort ist Boreas", riet Kepler und zeigte nach Norden, dann deutete er nach Süden. "Und Notos, richtig?"
"Korrekt", bestätigte Darr. "Ebenfalls Mythen?", interessierte er sich lebhaft.
"Ja, sind alles griechische Winde", antwortete Kepler spitz.
"Was für welche?", wollte Darr wissen.
"Griechische. Das war ein Land, das in der Antike die Entwicklung menschlicher Kultur entscheidend beeinflusst hat", antwortete Kepler. "Und ihr habt seltsamerweise sehr viele Anleihen daraus, obwohl ihr die Geschichte angeblich nicht mehr kennt. Das bringt mich auf folgenden Gedanken." Er schwieg kurz und sah Darr durchdringend an. "Ich kenne sehr gut sämtliche Mythen des antiken Ellada. Sie haben mich so fasziniert, dass ich nie Griechisch gelernt habe und ich war nur einmal im Rahmen eines NATO-Manövers dort. Weil ich mir vorgenommen hatte, für das Studium dieses Landes und seiner Sprache viel Zeit und Ruhe zu nehmen, so mit vierzig. Mittlerweile bin ich so alt geworden ohne dieses Vorhaben je umgesetzt zu haben. Ich habe das wirklich sehr gewollt." Er grinste schief. "Deswegen ist das alles hier nur die rauschbedingte Realisierung dieses Wunsches, die mein Gehirn mit meiner Begeisterung für seltsame Geschichten verknüpft. So wie Träume halt manchmal völlig bescheuert sind."
Zu seinem Erstaunen hatte Darr ruhig und ohne zu widersprechen zugehört.
"Sie haben eben Ellada erwähnt. Was war das in Ihrer Zeit?", wollte er wissen.
"Das ist die Eigenbezeichnung Griechenlands", antwortete Kepler. "Wieso?"
"Weil", begann der Wissenschaftler und versuchte, nicht erfreut, sondern nur sachlich zu wirken, was ihm nicht gelang, "weil kurz nachdem die Maschinen als Erste Regierungsinstanz installiert worden waren, sie unsere Geschichte gelöscht haben. Deswegen mussten viele Dinge neu benannt werden. Und diese neuen Bezeichnungen wurden von der Ellada-Maschine festgelegt."
Er konnte sich nicht mehr halten und grinste triumphierend.
"Warum heißt sie Ellada-Maschine?", fragte Kepler misstrauisch.
"Weil sie sich in der Gegend befindet, die so heißt", erwiderte Darr.
"Und die liegt wo?"
"Notoslich von hier, am Mediterranen Meer", antwortete Darr ohne zu stocken.
"Passt", sagte Kepler unwillig. "Könnte trotzdem nur ein Traum sein."
"Oder die Realität", meinte Darr. "Machen wir mit unserem Problem weiter?"
"Vorerst", gab Kepler zurück.
"Also, wir mussten eine riesige Fläche freilegen und sie durch eine Mauer vom Rest der Stadt abtrennen", fuhr Darr fort. "In ihrer Mitte steht ein Pavillon. Die Syths landen daneben und gehen hinein. Dann müssen die Menschen ihn einzeln betreten. Entscheiden die Syths, dass einer geeignet ist, bleibt derjenige drin, wenn nicht, kommt er wieder zurück. Sobald die Syths alle haben, bringen sie die Menschen mit ihren Gleitern weg."
"Und die Syths werden ganz sicher mindestens acht Stunden... äh – Horas brauchen, bevor sie auf den Angriff reagieren?", vergewisserte Kepler sich.
"Wieso acht?", fragte Darr erstaunt.
"Sechs geplante plus zwei für Eventualitäten. Mindestens."
"Ich denke, wir haben sogar zehn", meinte Darr überlegend. "Die Syths nehmen sich sehr viel Zeit, um die richtigen Kandidaten auszusuchen. Und ansonsten sind sie nachlässiger als früher geworden." Er schniefte. "Erst waren es fast tausend straff organisierte Kämpferinnen, aber jetzt sind nur ein paar Wissenschaftlerinnen hier und einige ihrer Leibgardistinnen, soweit wir wissen."
"Na gut. Wo ist die tote Syth?", wollte Kepler wissen.
"Warum?", erkundigte Darr sich erstaunt.
"Weil ich wissen will, wie ich diese Kreaturen töten kann."
Der Wissenschaftler sah ihn nur erstaunt an, sagte aber nichts. Dann lächelte er plötzlich, ging zur Tür und öffnete sie mit einer einladenden Geste.
Zehn Minuten später war Kepler in einem steril weißen Raum, in dem zwei Männer die Leiche des Richters zum Begräbnis vorbereiteten. Obwohl das Licht mittlerweile sehr schwach war, glotzten beide Kepler im ersten Moment regelrecht ins Gesicht. Dann öffnete einer auf Darrs Befehl hin ein Fach in der Wand.
Der Bestatter hatte schon gezittert, als er das Fach öffnete. Nachdem er die Bahre mit der Syth herausgezogen hatte, torkelte er zur Wand und hielt sich mit bleichem Gesicht daran fest. Kepler sah zu dem zweiten Bestatter. Der bebte schon regelrecht und hielt sich am Tisch fest.
"Wie habt ihr sie denn eigentlich herbekommen?", fragte Kepler erstaunt.
"Das war ein Roboter", stammelte der zweite Bestatter.
Kepler zeigte auf die tote Außerirdische.
"Richtet sie auf", befahl er.
Beide Bestatter taumelten zur Bahre. Sie zitterten nicht mehr, sie bebten förmlich. Dabei brauchten sie nur eine Verriegelung zu lösen und einen Knopf zu drücken. Die Bahre senkte sich schräg ab, sodass der Körper der Syth mit dem Kopf nach unten fast senkrecht aufgerichtet wurde. Die Männer strauchelten.
"Sie ist tot", erinnerte Kepler giftig angesichts der Panik.
"Reicht das?", lallte einer der Bestatter.
Der andere war nicht einmal mehr dazu fähig.
"Ja. Geht in Deckung", empfahl Kepler. "Versteckt euch", erklärte er, weil die beiden Männer ihn verständnislos anblickten. "Sie auch, Darr."
Erleichtert huschten die Bestatter weg von der Bahre und duckten sich hinter den Tisch, auf dem der Richter lag. Darr folgte ihnen. Kepler machte einen Schritt zur Seite, zog die Glock und feuerte auf die Syth-Leiche. Sogleich übertönten zwei entsetzt ängstliche Schreie den Knall des Schusses. Kepler feuerte nochmal, steckte die Glock ein und ging zur Bahre.
Die erste Kugel hätte das Herz der Außerirdischen getroffen. Aber sie hatte nicht einmal ansatzweise eine Beschädigung am Anzug angerichtet. Das zweite Projektil hatte zwar den Schläfenknochen gebrochen war, tödlich wäre diese Verletzung aber auch nicht unbedingt gewesen.
Die Munition in der Glock war auf maximale Wundwirkung ausgelegt, die Projektile hatten Plastikkappen, die beim Einschlag aufpilzten und dabei die ganze Kugel zerlegten. Kepler warf einen Blick auf die zu Klumpen deformierten Geschosse, die auf dem Boden vor der Bahre lagen, und drehte sich um.
Die Bestatter hockten immer noch unten, sie waren zu nichts anderem fähig als zu zittern. So stark, dass auf dem Tisch im hohen Ton ein Werkzeug klirrte. Der Wissenschaftler erhob sich sofort, nachdem Kepler ihn zu sich gewunken hatte.
"Können Sie mir aus meiner Zeit panzerbrechende Munition besorgen?", erkundigte er sich. "Oder welche herstellen?"
"Ich könnte sie mir nicht mal in Ihrer Zeit ansehen", antwortete Darr, "in der ganzen Stadt gibt es kaum noch Energie. Woraus besteht solche... Munition?"
"Wolframcarbid", antwortete Kepler und sah nur Unverständnis. "Eigentlich eignet sich jedes Metall oder eine Legierung mit möglichst großer Dichte."
"Nein", bedauerte Darr. "Wir können vielleicht noch etwas Einfaches bauen und Kunststoffe herstellen, aber keine Elemente mehr ineinander umwandeln."
"Dann müssen Sie sich einen anderen Plan überlegen", sagte Kepler. "Wenn die Gools auch solche Haut haben, kann ich weder sie noch die Syths töten."
"Ich habe meine Planungen abgeschlossen", erwiderte der Wissenschaftler kompromisslos. "Also – entweder sitzen wir hier fest, oder Sie finden eine Lösung für das Problem. Und zwar schnell, die Syths kommen in fünf Horas."
Kepler enthielt sich sowohl eines ausgiebigen Schlages in sein Gesicht, als auch eines ebensolchen Kommentars. Es würde nichts bringen, sich aufzuregen oder den Mann zu erschießen. Er überlegte kurz.
Die Typen konnten seine Gedanken auslesen. Kepler änderte sein Vorhaben.
"Haben Sie ein chemisches Laboratorium hier?"
Das Gedankenlesen funktionierte tatsächlich und zwar sehr gut. Kepler brauchte nur daran zu denken und auf einem Bildschirm erschien die chemische Formel des Nitroglyzerins. Danach musste Kepler sich an die Periodentabelle erinnern. Der Computer kam damit klar, die Elemente hatten in der Zukunft dieselben lateinischen Namen wie zu Keplers Zeit, und er kannte die meisten. Damit erschöpften die einfachen Dinge sich. Laut Darr konnte die Maschine nach demselben Prinzip wie es in einem Stern geschah, aus Wasserstoff sämtliche andere Elemente synthetisieren. Doch nachdem sie die Formel analysiert hatte, verweigerte der Computer sich, einen brisanten Stoff herzustellen.
"Ich dachte, Sie haben die Maschinen abgestellt?", murrte Kepler.
"Die Regierung", antwortete Darr genauso wütend. "Aber sämtliche Computer, auch wenn sie autonom sind, haben eine eindeutige Grundprogrammierung."
Er vermochte weder den Schutzmechanismus außer Kraft zu setzen, noch die Maschine von der Notwendigkeit dessen zu überzeugen. Durch Nitroglyzerin konnten Menschen getötet werden, etwas anderes begriff der Computer einfach nicht. Nach zehn Minuten gab Darr entnervt auf und äußerte vorsichtig optimistisch die Vermutung, den Sprengstoff manuell herstellen zu können.
"Das würde zu lange dauern", entgegnete Kepler. "Wäre Lisa bloß hier."
Er wunderte sich sogleich über den zweiten, gemurmelten Satz. Er war nur einige Stunden hier, aber sein Gehirn hatte sich schon adaptiert, er brauchte sich nicht anzustrengen, um in der hiesigen Sprache zu sprechen und zu denken.
Genau das fand wohl Darrs Anerkennung, er hatte den Satz gehört.
"Ich kann es für Sie arrangieren, wenn es Ihnen hilft", bot er an.
"Was – es?"
"Sex", antwortete Darr lakonisch.
"Einfach so?", wunderte Kepler sich.
"Natürlich."
"Ich dachte, ihr ergeht euch hier dafür in ausgefallenen Versuchen?"
"Schon", antwortete Darr. "Aber Sie sehen auf zehn Stadien exotisch genug aus, damit eine Frau auf Rituale verzichten würde."
Kepler grunzte.
"In meiner Welt ist es manchmal einfacher, an eine Knarre zu kommen, als mit einer Frau im Bett zu landen." Seine Belustigung verschwand und er wischte sich müde über die Augen. "Nein, es ist, weil Lisa sofort eine Lösung finden würde. Frauen denken einfach anders. Meistens etwas krud, aber effektiv."
"Versetzen Sie sich in sie hinein", riet Darr ihm.
"Ich habe zwar nicht fünfzig Jahre lang studiert, aber soweit bin ich auch", gab Kepler beißend zurück.
"Dann..."
"Klappe", befahl Kepler barsch. "Ich versetze mich gerade."
Darr verstummte ergeben und setzte sich hin.
Kepler sah auf das blinkende blaue Licht, der Computer erwartete eine Anweisung. So weit war es gekommen. Jetzt musste Kepler nicht nur gegen außerirdische Monster kämpfen, sondern auch noch gegen uneinsichtige Schaltkreise. Er versuchte sich vorzustellen, was Lisa jetzt getan hätte. Gäbe es einen weiblichen Computer, hätte Lisa den dazu gebracht, mit einem elektronischen Equivalent einer Pfanne dem männlichen Rechner eins über zu braten.
"Hat dieser Pavillon eine Belüftung oder so?", erkundigte Kepler sich.
"Ja. Momentan pumpen wir dort warme Luft hinein. Es ist Winter und die Syths frieren sehr ungern. Ihre Tarnanzüge sind wirklich dünn."
"Kann man dieses System manipulieren?"
"Gift wäre sinnlos", entgegnete Darr. "Die Syth tragen immer Masken."
"Wozu das?", fragte Kepler überrascht.
"Mittlerweile haben die Maschinen uns überzeugt, dass es nobel ist, sich den Syths zu opfern", gab Darr ätzend zurück. "Aber früher sind wir immer weggelaufen. Die Syths benutzen Infrarot, um uns zu finden. Na ja, und auch, um gegen die Gools zu kämpfen. Die können sich ganz gut tarnen." Er zögerte unschlüssig. "Die Syths sehen dank der Masken auch viele andere Lichtspektren, aber das brauchen sie eigentlich gar nicht mehr, weil es keine natürlichen Gools mehr gibt und weil Menschen sich kaum noch gegen sie auflehnen. Deswegen tragen die Syths die Masken, weil sie ohne optische Hilfen nicht gut sehen können. Das eine Auswirkung des Viruses."
"Na herrlich", murrte Kepler. "Gut, also – kann man durch die Belüftung feste Partikel in den Pavillon blasen, und zwar so, dass sie sich schnell verteilen?"
"Ja", antwortete Darr verdattert.
"Dieses Pulver, das ihr esst, ich muss es sehen."
Darr öffnete die Klappen der allgegenwärtigen Nahrungsmaschine und holte aus ihr eine Handvoll des Esspulvers heraus. Kepler zerrieb einige der feinen Körner zwischen den Fingern. Die nächsten legte er auf die Zunge.
"Gut", meinte er anschließend.
Obwohl er das gesagt hatte, teilte er den Optimismus, der jetzt im Blick des Wissenschaftlers sichtbar wurde, überhaupt nicht.
"Auch wenn mein Plan funktioniert, ich brauche Waffen", stellte er klar.
"Wir haben keine", bedauerte Darr sofort. "Das einzige, was ich Ihnen anbieten kann, ist ein Thermoüberzug."
"Ich friere nicht so schnell", erwiderte Kepler.
"Nicht deswegen. Der Stoff verhindert, dass Ihr Körper die Wärme abstrahlt."
"Ist er weiß?"
"Wir können ihn beliebig färben", versicherte Darr.
"Wenn draußen Schnee liegt, machen Sie ihn weiß", wies Kepler an. "Aber das ist zu wenig", murmelte er. "Moment... Als ihr die eine Syth gefangen genommen habt, hatte sie bestimmt Waffen bei sich. Wo sind sie?"
"Ihre Lichtbogenwaffe war zerstört", antwortete Darr.
"Was für ein Ding?"
"Sie jagen mit einem Apparat, der einen kohärenten Lichtstrahl aussendet, und anschließend einen Stromstoß durch den entstandenen Plasmakanal schickt. Je nach Stärke des Stroms können sie damit töten oder nur betäuben."
"Elektrolaser." Kepler nickte. "Auf dem Gebiet waren wir auch fast soweit."
Er machte eine Geste mit der Hand, damit Darr weiter berichtete.
"Sie benutzen noch Netzwerfer und gebogene Wurfgeschosse, die zurückfliegen, wenn sie das Ziel verfehlen", zählte der Wissenschaftler auf. "Aber als wir das Ding ausprobieren wollten, flog es weg und kam nicht zurück." Er sah Kepler betreten an. "Das einzige was wir von ihr haben, ist ein sehr langes Messer."
"Das nennt man Schwert", erwiderte Kepler. "Können die Syths mit solchen Klingen die Gools töten?"
"Ja."
"Ich will das Schwert sehen", befahl Kepler.
Sie betraten einen Raum, in dem nur ein großer Schrank stand. Er war entweder für etwas anderes gedacht, oder aber sehr optimistisch geplant worden, er beherbergte nur zwei Gegenstände, ein Schwert und dessen Scheide.
Das leicht gebogene Schwert glich japanischen Blankwaffen, nur war es zweischneidig. Der lange Griff hatte einen kleinen Knauf und als Handschutz gab es ein ovales Stichblatt. Die Scheide und der Griff waren unaufdringlich mit geschwungenen Ornamenten verziert und hatten die gleiche wabenartige Oberfläche wie der Anzug der Außerirdischen. Die Größe des Schwertes gefiel Kepler überhaupt nicht, es war länger als ein Katana. Aber es war wenigstens eine Waffe, die zumindest theoretisch einen erfolgreichen Kampfausgang ermöglichte.
"Ich muss nochmal die tote Syth besuchen", sagte Kepler.
Minuten später betraten er und Darr die Pathologie. Den Bestattern brach beim Anblick des Schwertes kalter Schweiß aus und sie duckten sich unter den Tisch.
Die tote Syth war nicht angerührt, wahrscheinlich nicht einmal angeblickt worden. Kepler zog das Schwert aus der Scheide und gab sie Darr. Während er zum Kühlfach ging, fasste er den Griff mit beiden Händen an, holte aus und stieß dann zu. Die Waffe drang ohne jeden Widerstand durch den Anzug und die Haut in die Brust der Syth ein und ließ sich genauso mühelos wieder herausziehen.
Das Blut dieses Lebewesens war rot, aber sehr dickflüssig. Es dauerte etwas, bis es von der Klinge abgetropft war und sie wieder bedrohlich glänzte. Während hinter dem Leichentisch doppelte Brechgeräusche hörbar wurden, senkte Kepler die Hand mit dem Schwert und nickte zufrieden.
"Können Sie diese Klinge bearbeiten?", erkundigte er sich.
"Das kriegen unsere Werkzeugmacher ganz sicher hin", behauptete Darr zuversichtlich. "Im Gegensatz zum Labor werden in unseren Werkstätten sämtliche Arbeiten nicht durch Computer ausgeführt, sondern nur mit ihrer Hilfe."
"Aus diesem Metall können wir Munition machen", sagte Kepler erleichtert.
"Äh – nein", zerstörte Darr seine Hoffnung, nachdem er die trübe leuchtende Lampe auf dem Tisch angeblickt hatte. "Wenn wir uns beeilen, haben wir noch genügend Energie, um das Messer... das Schwert zu zerschneiden oder so etwas, mehr nicht. Und ich kann noch etwas aus synthetischer Plaste bauen."
Kepler konnte halbwegs mit einem Schwert umgehen, aber er war kein Samurai, statt eines Schwerts hätte er lieber eine Schusswaffe. Er rief sich die Konstruktion einer Armbrust ins Gedächtnis. Diese Distanzwaffe war zwar recht primitiv, aber simpel. Und war sie mit einem halbwegs starken Bogen ausgerüstet, entwickelte der Bolzen mehr Energie als manche Pistolenkugeln.
"Dann bringen Sie mich in die Werkstatt", sagte Kepler.
Wieder eilten sie durch das verwinkelte Gebäude an vielen geschlossenen Türen vorbei. Wegen der trüben indirekten Beleuchtung wirkten die stillen Fluren gespenstisch, deprimierend und aufgegeben.
Die Werkzeugmacher erwiesen sich als zwei voll automatisierte Maschinen, die vierzehn Meter lang, fünf Meter hoch und fünf Meter breit waren. Darr war mit ihrer Bedienung vertraut, er setzte sich an einen Kontrollpult und im Gegensatz zum Chemielabor steuerte er die Maschinen manuell über einen berührungsempfindlichen Bildschirm statt mit der Stimme.
Zuerst kürzte er das Schwert an der Klinge und am Griff. Damit war die Waffe so lang wie das Wakizashi, mit dem Kepler zwar ziemlich lange, aber nur mit relativ mittelprächtigem Erfolg geübt hatte.
Danach fertigte Darr einen Bogen aus starkem federndem Kunststoff und eine Sehne aus einem Kohlfaserwerkstoff an, anschließend einen Schaft aus demselben Material. Nach jedem Schritt fuhr er den Computer vorsichtshalber herunter, damit die Maschine die Gegenstände nicht virtuell zusammensetzte und sich doch noch weigerte, die nächste Komponente herzustellen.
Die Prozedur dauerte dennoch nur etwas mehr als zwei Stunden. Fast genauso lange brauchte die Maschine, um aus dem abgetrennten Stück der Schwertklinge dreizehn Spitzen auszuschneiden und ebensoviele Bolzen aus hartem Kunststoff herzustellen. Sie mit den Spitzen zu verbinden nahm eine Stunde in Anspruch.
Damit war die zur Verfügung stehende Zeit so gut wie aufgebraucht, aber Kepler wollte die Armbrust trotzdem ausprobieren.
In Vergleich zu einem Bogen hatte eine Armbrust eine miserable Kadenz, weil sie umständlich und mit großem Kraftaufwand gespannt werden musste. Die dafür benötigte Kraft war um ein Mehrfaches höher als beim Bogen. Doch die Armbrust wurde mit Beinmuskeln, Bizepsen und Bauchmuskulatur gespannt, den stärksten Muskeln überhaupt, der Bogen durch obere Rückenmuskulatur, die bei den meisten Menschen schwach entwickelt war. Aber die entscheidenden Vorteile der Armbrust waren das einfachere Zielen, und das während die Waffe gespannt war, und vor allem ihre hohe Durchschlagkraft.
Der Bogen der Armbrust war über achtzig Zentimeter groß und Kepler musste sich anstrengen, um die Sehne zu spannen.
"Wir müssen nochmal die Syth besuchen", teilte er anschließend Darr mit.
"Oh no", murrte der Wissenschaftler leise.
Er ging jedoch sofort ohne weitere Kommentare los. Hastig aufstampfend eilte er Kepler voran. Bei der Pathologie angekommen, hielt er Kepler die Tür auf.
Die Bestatter hatten anscheinend gerade die Spuren von Keplers letztem Besuch beseitigt, sie standen da und sahen auf die glänzende Stelle auf dem Boden, während eine kleine Maschine sich geräuschlos entfernte. Beide Männer zuckten zusammen, als Kepler eintrat. Einem begannen umgehend die Knie zu schlottern und er klammerte sich sofort an den Arm seines Kollegen. Dessen Gesicht wurde genauso blass, aber er hielt ihn fest und sah Kepler sogar entgeistert an.
Kepler legte den Bolzen ein. Die Bestatter zitterten jetzt beide.
"Bleibt einfach stehen. Jetzt dürfte es keine Querschläger geben", sagte Kepler.
Er hob die Armbrust und schoss. Aus zehn Metern Entfernung durchschlug der einhundertzwanzig Gramm schwere und vierzig Zentimeter lange Bolzen die Syth nicht nur, er nagelte sie sogar an der Bahre fest. Bei dem dumpf knirschenden Geräusch stöhnte der Bestatter, der sich an seinen Kollegen klammerte, leise auf und stürzte wie ein abgemähter Grashalm zu Boden. Der andere Bestatter konnte ihn nicht festhalten er stand taumelnd da. Kepler legte die Armbrust auf den Tisch und nahm eine Zange, die halbwegs stabil anmutete. Er ging zur Syth, hockte sich neben ihr hin und riss mit der Zange den Bolzen durch die Bahre durch aus ihr hinaus. Dem leise schmatzenden Laut folgte ein klappernder. Kepler drehte den Kopf. Der zweite Bestatter stand taumelnd auf den Knien.
"Was ist denn mit euch beiden los?", fragte Kepler.
Als er die Hand mit der Zange hob, um sich die Spitze des blutigen Bolzens genauer anzusehen, würgte der Bestatter und brach bewusstlos über seinem Kollegen zusammen. Kepler sah fassungslos zu Darr.
"Wieso ist euch eigentlich der Begriff Krieg bekannt?", wollte er wissen.
Der Wissenschaftler antwortete nicht. Sein neugieriger Blick wechselte vom blutigen Bolzen zur Syth, dann zur Armbrust. Für einen Moment wirkte Darr beschämt. Dann erstaunt und fast schon entzückt.
"Wir wussten nicht einmal ansatzweise, wie wir eine Waffe bauen sollen", sagte er. "Dabei ist es so simpel."
"Von wegen", gab Kepler zurück. "Bauen Sie noch welche für sich."
"Keine Energie mehr", bedauerte der Wissenschaftler.
Wie zur Bestätigung seiner Worte erlosch die Beleuchtung des Raumes.
"Jetzt müssen die Menschen uns folgen", hörte Kepler das zufriedene Murmeln des Wissenschaftlers. "Oder hier bleiben und sterben."