Kapitel 5
Als Emily aufwachte, wusste sie im ersten Moment nicht, wo sie sich befand, aber ihr war klar, dass sie etwas erlebt hatte, woran sie sich nicht erinnern wollte, deshalb rollte sie sich noch einmal zusammen und schloss die Augen.
>>Guten Morgen«, ertönte eine fröhliche Männerstimme, die Emily sofort erkannte. Sie kroch noch tiefer unter die Decke.
>>Los, aufstehen! Ich weiß, dass Sie wach sind«, sagte er.
Sie drehte das Gesicht zur Wand. »Ist alles in Ordnung mit Ihrem Kopf?«, murmelte sie.
»Wie bitte? Ich kann kein Wort verstehen.«
Sie wusste sehr gut, dass er sich verstellte und in Wirklichkeit jedes Wort gehört hatte. »Ist Ihr Kopf in Ordnung?«, brüllte sie, ohne sich ihm zuzuwenden.
Als die Antwort ausblieb, drehte sie sich um und funkelte ihn böse an. Sein Haar war feucht, er hatte nichts an - nur ein Handtuch war um seine Hüften geschlungen. Dass ihr auffiel, wie muskulös seine Brust und wie glatt seine honigfarbene Haut war, machte sie noch wütender.
Michael grinste. »Sie haben gute Arbeit geleistet, als sie mir diesen Körper ausgesucht haben, nicht wahr? Freut mich, dass er Ihnen gefällt.«
»Es ist zu früh zum Gedankenlesen«, versetzte sie bissig und wischte sich die Haare aus den Augen.
Er setzte sich aufs Bett und sah sie an. »Manchmal kann ich verstehen, warum ihr Sterblichen euch von den Körpern des anderen Geschlechts so angezogen fühlt«, sagte er leise.
»Wenn Sie mich anrühren, sind Sie ein toter Mann.«
Er kicherte, rührte sich aber nicht von der Stelle. »Sehen Sie sich das an«, forderte er sie auf und strich sich mit den Händen über die Brust. »Ich habe das nicht genau in eurer Fernsicht gesehen, aber ...«
»Im Fernsehen.«
»Ah, ja, Fernsehen. Aber haben sie nicht dort gesagt, dass dieser Körper Einschüsse in der Brust hat?«
»Ich wünschte ehrlich, Sie würden nicht ständig von diesem Körper sprechen, wenn Sie sich selbst meinen«, tadelte sie ihn und wandte sich ab.
»Ich bereite Ihnen Unbehagen«, stellte er fest, schien jedoch kein bisschen Bedauern deswegen zu empfinden. »Wissen Sie, Emily, wenn wir Zusammenarbeiten sollen, müssen wir einige Erd-, nein, Grundregeln aufstellen.« Er schaute sie an, als erwarte er ein Lob dafür, dass er sich merken konnte, was sie ihm beigebracht hatte, aber Emily verweigerte ihm den Gefallen. »Sie dürfen sich nicht in mich verlieben«, fügte er hinzu.
Ihr blieb der Mund offen stehen. »Waaas?«
»Sie dürfen sich nicht in mich verlieben.« Er nutzte Emilys Sprachlosigkeit zu seinem Vorteil, stand auf, ging ein paar Schritte und wandte ihr den Rücken zu. »Während ich unter dem Wasserfall stand, nein - sagen Sie nichts. Es heißt Dusche. Also dort...« Er wandte sich ihr zu. »Wissen Sie, es ist eine Sache, die Sterblichen und ihre Gewohnheiten zu beobachten, aber eine ganz andere, so etwas selbst zu machen. Ich empfinde das alles als große Last. Genau genommen ist mir fast alles an diesen Körpern lästig.«
Emily blitzte ihn an. »Warum fliegen Sie dann nicht einfach dorthin zurück, wo Sie wirklich hingehören?«
Sein Lächeln wurde breit. »Ich habe Sie verletzt.«
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte sie honigsüß zurück. »Sie haben mich zu einer Flüchtigen gemacht, die von Verbrechern, vom FBI und der Polizei - ganz zu schweigen von Ihrer Frau -, gesucht wird, und Sie erzählen mir, dass ich mich nicht in Sie verlieben darf. Jetzt verraten Sie mir bitte, bitte nur noch, wie ich das verhindern kann.«
Michael lachte und ließ sich wieder neben ihr nieder. »Ich habe das nur für den Fall erwähnt, dass Sie in Versuchung geraten. Sobald ich meine Mission hier erfüllt habe, muss ich wieder nach Hause.«
»Und Ihr Zuhause ist der Himmel?«, erkundigte sich Emily und zog skeptisch eine Augenbraue hoch.
»Ja, genau. Ich gehe zurück, bewahre Sie davor, in Teichen zu ertrinken, und kitzle Ihre Nase, wann immer ich ein Unheil auf Sie zukommen sehe.«
Emily zog sich die Decke bis zum Hals. »Ich möchte, dass Sie aus meinem Leben verschwinden«, erklärte sie ruhig. »Sie scheinen bei bester Gesundheit zu sein, deshalb ...«
»Hier, fühlen Sie meinen Kopf«, forderte er sie auf, ohne auf ihre Worte einzugehen, und beugte sich zu ihr.
Emily wollte Distanz wahren, aber ihre Neugier war nach all dem, was sich in der letzten Nacht ereignet hatte, zu groß. Sie legte die Hand auf die feuchten Locken und tastete seine Kopfhaut ab. Da war keine Wunde, keine Beule - nichts deutete daraufhin, dass am gestrigen Abend noch eine Kugel in seinem Schädel gesteckt hatte.
»Und schauen Sie sich das an«, fuhr er fort, richtete sich auf und fuhr sich wieder mit der Hand über die Brust.
Sie entdeckte Narben, die wie verheilte Schusswunden aussahen.
»Und das hier.« Er drehte ihr den Rücken zu. »Zwei Geschosse sind am Rücken ausgetreten.«
Sie konnte sich nicht beherrschen und strich mit der Hand über seine honigfarbene Haut. Ja, da waren zwei runde Narben. Donald hatte gesagt, dass der Mann mehrere Einschüsse in der Brust und einen im Kopf gehabt hatte.
Michael nahm das Geschoss vom Nachttisch. »Dieses kleine Ding hat mir entsetzliche Schmerzen verursacht, aber nachdem Sie es entfernt hatten, ging es mir wieder gut. Haben Sie gut geschlafen?«
Er reichte Emily die Kugel. Sie starrte das grausige Ding einen Moment an. In der letzten Nacht hatte sie dieses Bleistück mit einer Zange aus dem Schädel eines Menschen gezogen, und heute Morgen war die Kopfhaut desselben Mannes nahezu unversehrt.
Sie sah ihn an. »Wer sind Sie?«, flüsterte sie. »Wieso können Sie verschlossene Türen öffnen? Warum bluten Sie nicht, wenn man Ihre Haut verletzt? Woher wissen Sie so viel über mich?«
»Emily«, murmelte er sanft und fasste nach ihrer Hand.
»Wagen Sie es nicht, mich anzurühren«, wehrte sie ihn ab. »Jedes Mal, wenn Sie mich berühren, passieren die seltsamsten Dinge. Sie ... Sie haben mich gestern Abend hypnotisiert, stimmt’s?«
»Das musste ich. Sonst hätten Sie einen Arzt gerufen. Aber es hat mich die letzte Kraft gekostet, Sie ruhig zu stellen. Ich verlor das Bewusstsein.«
»Sie lenken ab und weichen meiner Frage aus. Wer sind Sie?«
»Soweit ich mich erinnere, haben Sie mich angewiesen, nicht über ... na ja, über Engel zu reden, es sei denn, Sie bitten mich selbst darum.«
»Jetzt bitte ich Sie darum.« Sie wandte den Blick von ihm, und plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. Diese letzten Tage waren zu viel für sie gewesen.
»Sind alle sterblichen Frauen so inkonsequent und unlogisch?«
»Von allen chauvinistischen Sprüchen, die ich jemals gehört habe, ist das der schlimmste!«, schimpfte sie und warf die Decke von sich. Erst jetzt merkte sie, dass sie nur ihre Unterwäsche anhatte. Ihre Hose und die Bluse hingen ordentlich über einer Stuhllehne, »Haben Sie mich ausgezogen?«, fragte sie mit zornbebender Stimme.
»Sie schienen sich nicht wohl zu fühlen, und ich wollte, dass Sie gut schlafen.« Ihm schien klar zu sein, dass er etwas Falsches getan hatte, aber er war nicht sicher, was das war. Als sie aufstand, hielt er ihre Hand fest, und wie immer wurde sie augenblicklich ruhiger. »Ich erzähle Ihnen alles, wenn Sie mir zuhören. Aber ich sage Ihnen gleich, dass ich selbst nicht viel weiß. Sie müssen mir glauben, wenn ich Ihnen sage, dass ich genauso verwirrt und durcheinander bin wie Sie. Mir wäre auch nichts lieber, als nach Hause zurückzukehren. Es gefällt mir kein bisschen, gejagt zu werden, Schüsse abzubekommen oder aus Fenstern zu klettern. Ich habe Pflichten und Arbeit wie jeder andere auch.«
»Nur ist Ihr Arbeitsplatz im Himmel", meinte sie und entzog ihm ihre Hand.
»Ja«, erwiderte er schlicht. »Mein Arbeitsplatz ist ganz woanders.«
»Das zu glauben ist mir unmöglich.«
»Warum?« Er atmete tief durch. »Sterbliche glauben nie etwas, wenn sie es nicht mit eigenen Augen sehen können. Sie glauben nicht, dass ein Tier existiert, bevor sie es selbst gesehen haben. Aber ob Sie an etwas glauben oder nicht, ändert nichts an dem, was ist. Das verstehen Sie doch, oder?«
»Ja, aber ich glaube Ihnen nicht, das ist der Kern der Sache.« Michael musterte sie einen Moment, dann blinzelte er. »Oh, ich verstehe. Sie glauben an Engel, aber Sie glauben nicht, dass ich ein Engel bin.«
»Bingo!«
Michael lachte. »Was kann ich tun, um es Ihnen zu beweisen? Aber Sie dürfen jetzt nicht von mir verlangen, dass ich meine Flügel ausbreite.«
Sie wusste, dass er sich über sie lustig machte, aber sie wollte sich nicht ärgern. Sie sah ihn schweigend an.
Nach einer Weile erhob er sich und ging im Zimmer umher. »Schön, Sie haben einiges gesehen, aber nicht genug, um mir das, was ich sage, zu glauben. Wie erklären Sie sich die Dinge, die Sie mit mir erlebt haben?«
»Sie sind ein Magier und haben hellseherische Kräfte.
Und Sie sind sehr geschickt, wenn es gilt, Schlösser zu öffnen.«
»Und die Kugeln?«, fragte er schmunzelnd. Als sie nicht antwortete, nahm er wieder Platz. »Also gut, Emily, ich bitte Sie um Ihre Hilfe als Sterblicher. Meine ... äh ... hellseherischen Kräfte verraten mir, dass es in Ihrem Leben ein Problem gibt, das gelöst werden muss. Aber ich habe keine Ahnung, was für ein Problem das ist. Das muss ich erst herausfinden, ehe ich etwas unternehmen kann.«
»Welcher Art soll dieses Problem sein?« Sobald diese Worte über ihre Lippen gekommen waren, hätte sie sich dafür am liebsten auf die Zunge gebissen, aber die Art, wie er ihr die Sachlage erklärte, weckte ihre Neugier. Sie liebte es, Donald bei seinen Recherchen zu helfen. Genau genommen hatte sie eine große Schwäche für alles Geheimnisvolle und Rätselhafte.
»Ich weiß es nicht, aber was könnte so schlimm sein, dass ein Engel auf die Erde geschickt werden muss?«
»Unheil«, sagte sie. »Ein großes Unheil.«
Michaels Miene hellte sich auf. »Das stimmt. So etwas muss es sein. Ich hatte nicht viel Zeit zum Nachdenken, seit ich hier bin, aber das muss es sein - ein großes Unheil.« Er beugte sich näher zu ihr. »Was bedroht Sie? Welche bösen Energien umgeben Sie?«
»Mich? In einer Kleinstadtbibliothek? Sie machen Witze.« Sie hatte zur Normalität zurückgefunden und war durchaus im Stande, diesen gut aussehenden Mann auf Distanz zu halten. Aber wieso landeten sie jedes Mal allein in einem Hotelzimmer?
Er stand wieder auf und ging auf und ab. Das Handtuch rutschte ein Stück weiter herunter. Emily wünschte mit einem Mal, es würde ein Telefon in diesem Raum gehen. Sie hätte keinen Augenblick gezögert und Donald angerufen.
»Das war auch mein Gedanke. Die Stadt, in der Sie leben, ist ziemlich uninteressant, und Ihr Leben verläuft relativ ereignislos und ...«
»Ich muss doch sehr bitten«, fiel sie ihm ins Wort. »Mein Leben verläuft keineswegs ereignislos. Nur zu Ihrer Information, ich bin mit einem Mann verlobt, der vorhat, Gouverneur dieses Staates und vielleicht sogar Präsident von Amerika zu werden.«
»Nein«, erwiderte Michael ernst. »Er hat große Pläne, solange er jung ist, und im Alter ist seine Hauptbeschäftigung, jedem zu erzählen, was er hätte erreichen können, wenn ihn nicht jemand daran gehindert hätte.«
»Also, das ist ein starkes Stück«, empörte sich Emily.
»Oh, ich hatte ganz vergessen, dass Sie die Wahrheit nicht vertragen können.«
Emily ließ sich aufs Bett sinken. »Ich kann die Wahrheit sehr wohl vertragen. Und so viel ich weiß, hat Gott uns Sterblichen einen freien Willen gegeben. Selbst wenn Donald in der Vergangenheit so war - was ich übrigens nicht glaube, weil ich auch nicht an Wiedergeburt glaube -, dann könnte er sich in diesem Leben geändert haben. Habe ich Recht?«
»Absolut«, bestätigte Michael mit einem Lächeln, das Emily erwiderte. »Ich nehme alles zurück. Wo war ich stehen geblieben?«
»Sie haben mir klargemacht, dass ich langweilig bin, dass der Ort, an dem ich lebe, langweilig ist, und dass der Mann, den ich liebe, ein Fehlgriff ist«, half sie ihm überfreundlich auf die Sprünge. »Wenn Sie ein Engel sind, dann möchte ich nie im Leben einem Helfer des Satans begegnen«, brummte sie.
Michael lachte. »Na ja, vielleicht sind Sie und Ihre Stadt nicht unbedingt langweilig, aber ich kann mich nicht erinnern, Unheil oder drohende Katastrophen in Ihrer Umgebung bemerkt zu haben.«
»Vielleicht hatten Sie sich schon längst eine Meinung über uns da unten gebildet und einfach nicht richtig aufgepasst. Möglicherweise steht in Ihrem Notizbuch, dass Emily und alles, was sie auch tut, langweilig ist und dass sie in einer verschlafenen Stadt wohnt. Deshalb haben Sie sich gar nicht erst die Mühe gemacht, genauer hinzuschauen.«
Michael starrte sie eine Weile wortlos an. »Ich glaube, Sie haben da einen Punkt getroffen«, sagte er schließlich erstaunt.
»Ich? Ich kleines, langweiliges Etwas?« Im Augenblick hasste sie alle Männer. Zuerst machte Donald ihr klar, dass sie »praktisch veranlagt« sei, und jetzt erzählt ihr dieser Kerl, sie sei zu langweilig, um Böses oder Unheil auf sich zu ziehen.
Michael reagierte nicht auf ihren Sarkasmus. »Ich denke wirklich, dass da etwas dran ist. Das Gute zieht das Böse an.«
»Jetzt bin ich also auch noch >gut<«, murrte sie. »Langweilig, gut und praktisch veranlagt.«
»Was ist so schlimm daran, wenn jemand gut ist? Im Himmel mag man gute Menschen, und ich kann Ihnen sagen, dass es nicht eben viele von Ihrer Sorte gibt.«
Sie schwieg, weil ihr darauf keine Antwort einfiel. Ihre Mutter hatte ihr immer eingeschärft, gut und brav zu sein, aber eine Frau wollte manchmal auch als raffiniert gelten. »Wie wollen Sie ein Unheil abwenden, wenn Sie keines finden?«, wollte sie wissen. »Und ich kann mir nicht vorstellen, dass es viel Böses in Greenbriar in North Carolina gibt. Wie Sie sagen, es ist ziemlich langweilig dort.«
Michael ließ sich auf das Fußende des Bettes nieder. »Ich versuche, mir diese Stadt in Erinnerung zu rufen. Ich bin für mehrere Orte und Städte verantwortlich, und die Lebensweise ist überall anders. Was in Saudi-Arabien eine Sünde ist, gilt in Monaco unter Umständen als ganz normal, und was in Amerika eine Sünde ist, muss nicht notwendigerweise auch in Paris eine Sünde sein. Manchmal komme ich ein bisschen durcheinander.«
»Ich verstehe. Ich will nicht sagen, dass Sie einer sind, aber gibt es nicht auch für Engel ein Handbuch, nach dem sie sich richten können?«
»Gibt es so etwas für Sterbliche?«, gab er zurück.
»Die Bibel?«
Er grinste. »Ich habe Sie immer gemocht, Emily. Und ich finde Sie noch komischer in einem menschlichen Körper.«
»Mein Körper ist also komisch?«
Er brach in Gelächter aus, beugte sich vor und drückte ihr einen Kuss auf die Wange, zuckte aber gleich zurück, als hätte ihm diese spontane Geste einen Schreck versetzt. »Das war wirklich wohltuend. Also, sollen wir nun endlich anfangen?«
»Auf die Gefahr hin, Sie mit meinen langweiligen Fragen zu langweilen - könnten Sie mir vielleicht verraten, womit wir anfangen sollen?«
»Wir fahren in Ihre Stadt und machen uns auf die Suche nach dem Bösen.«
>>Wir? Soll das heißen, Sie und ich?«
Er sah sie stumm an.
»Ist Ihnen vielleicht entfallen, dass Sie wegen krimineller Taten, die Sie begangen haben oder auch nicht, auf der Fahndungsliste stehen und dass ein paar Hundert Leute nach Ihnen suchen? Greenbriar mag Ihnen als rückständig und abgelegen erscheinen, aber wir haben dort Fernsehen, und Ihr Foto wurde landesweit gezeigt. Jemand wird Sie erkennen und der Polizei melden.«
»Hm. Ja, das ist ein Problem. Sie müssen mich verstecken.«
»O nein, das werden Sie nicht tun.«
»Was?«, hakte er in aller Unschuld nach.
»Sie werden mich da nicht mit hineinziehen. Und ich werde Sie nicht verstecken. Meiner Ansicht nach habe ich ohnehin schon viel zu viel Zeit mit Ihnen verbracht.«
»Das verstehe ich. Nein, ich glaube, es muss heißen: Das respektiere ich. Stimmt das? Oder ist das eine Floskel in Thailand? Nein, ich bin sicher, so was hören die amerikanischen Frauen gern.«
Ihre Augen wurden schmal, als sie ihn ansah. Sie wusste nicht, ob er sich über sie lustig machte oder nicht. »Wieso habe ich ständig den Eindruck, dass Sie mir nicht richtig zuhören?«
Er bedachte sie mit einem kleinen Lächeln. »Möchten Sie duschen, bevor wir frühstücken?«
»Klar, gehen wir frühstücken und warten wir ab, bis alle im Café mit dem Finger auf Sie zeigen und schreien, dass Sie der Kerl sind, der gestern im Fernsehen gezeigt wurde.«
»Machen sie das auch bei Mickey?«
Sie funkelte ihn an -- sie wusste selbstverständlich, dass er von Mickey Mouse sprach.
»Tut mir Leid“, entschuldigte er sich halbherzig. »Ich habe die Namen der Zeichentrickfiguren verwechselt. Ich dachte eigentlich an den anderen. Ist Ihr Donald nicht beinahe jeden Tag im Fernsehen zu sehen? Starren ihn die Leute auch an und deuten mit den Fingern auf ihn?«
»Wenn ja, dann jedenfalls nicht, weil er ein gesuchter Verbrecher ist.«
Ihr wurde klar, dass er es wieder getan hatte. Es war ihm erneut gelungen, sie vom eigentlichen Thema abzulenken. »Jetzt hören Sie mir einmal gut zu. Unsere gemeinsame Zeit ist zu Ende. Ich springe nicht mehr aus Fenstern, klettere keine Dachrinnen mehr hinunter und höre mir auch nicht mehr Ihre Geschichten über Engel an - ich werde keine Minute mehr damit verschwenden. Von allen Menschen, denen ich in meinem Leben begegnet bin, gleichen Sie am allerwenigsten einem Engel. Ich ziehe mich jetzt an und fahre nach Hause. Ohne Sie. Haben Sie verstanden?«
»Durchaus«, entgegnete er fröhlich. »Und ich bin froh, dass wir das geklärt haben. Ich glaube nämlich, dass ein paar Agenten Ihrer Bundesmafia gerade auf den Parkplatz einbiegen.«
Es dauerte einen Moment, bis sie begriff. Bundesmafia? Plötzlich ging alles rasend schnell. Michael schnappte sich seine Klamotten und verschwand durch die Tür. Sekunden später klopfte jemand an dieselbe, und ein Mann forderte Emily auf, die Tür zu öffnen. Emily bat die Männer, einen Moment zu warten, weil sie noch im Bett liege und nicht angezogen sei. Aber sie ließen ihr keine Zeit.
Drei Männer rissen die Tür auf, die sie in der Nacht zuvor ganz bestimmt abgeschlossen hatte, starrten sie einen Moment an und begannen dann, das Zimmer zu durchsuchen. »Warten Sie«, protestierte Emily. »Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?«
»Nein, Ma’am«, sagte einer der Männer und zückte seine Dienstmarke, steckte sie aber so schnell wieder in die Tasche, dass Emily kaum einen Blick darauf werfen konnte. »Wir sind zu Ihrem Schutz hier. Man hat uns gemeldet, dass Sie jemand als Geisel genommen hat und gegen Ihren Willen festhält.«
Emily zog die Decke bis unters Kinn. »Wenn es so wäre, wäre ich jetzt, nachdem Sie das Zimmer gestürmt haben, tot, oder nicht?«, gab sie ärgerlich zurück. Sie zitterte am ganzen Leibe und versuchte nur, ihre Angst zu kaschieren. Wieso hatte sie plötzlich mit dem FBI zu tun? Sie stieß einen Protestschrei aus, als einer der Männer mit der Hand über der Bettdecke ihren Körper abtastete, um zu überprüfen, ob sich ein Mann in ihrem Bett versteckte. »Lassen Sie die Finger von mir!« Sie holte tief Luft und sah den ersten Mann an. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zu sagen, was das alles soll?«
Der Mann zeigte ihr ein Foto von Michael - dasselbe, das im Fernehen veröffentlicht wurde. »Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen?«
Emily hatte keine Ahnung, welche Informationen die drei Männer hatten, deshalb beschloss sie, so ehrlich wie möglich zu sein. Immerhin konnte Donald ihnen alles erzählt haben, was er von ihr erfahren hatte. »Ja, ich habe ihn gestern in der Stadt gesehen, in der ich übernachtet habe.«
»Haben Sie den Tag mit ihm verbracht?«
»Was für eine absurde Frage! Wieso sollte ich einen Tag mit einem fremden Mann verbringen?« Die drei standen an ihrem Bett, sahen sie unverwandt an und warteten. »Also schön, ja. Ich habe ihn am Freitagabend mit meinem Wagen angefahren und danach zum Arzt gebracht, am nächsten Tag waren wir einige Zeit zusammen. Er erschien mir vollkommen harmlos, und ich fühlte mich ihm irgendwie verpflichtet, weil ich ihn bei dem Unfall auch hätte töten können.«
»Was war gestern Abend?«
»Ich habe sein Foto im Fernsehen gesehen und meinen Verlobten Donald Stewart angerufen.« Sie musterte die Männer verstohlen, um zu sehen, ob ihnen Donalds Name etwas sagte, aber die drei zuckten nicht einmal mit der Wimper. »Donald hat mir geraten, zur Polizei zu gehen und die Stadt sofort zu verlassen.«
»Und waren Sie bei der Polizei?«
Hielten die sie für blöd? Das hatten die doch hundertprozentig überprüft. Emily schaute auf ihre Hände und bemühte sich, rot im Gesicht zu werden. »Ehrlich gesagt, nein. Ich hörte ein Klopfen an der Tür, bekam Angst und kletterte aus dem Fenster. Sie hielt eine Hand hoch und zeigte ihnen die Kratzer. Seitlich des Gasthofs steht ein Dornbusch, ich habe sogar meinen Koffer im Zimmer stehen lassen, weil ich ihn nicht hinunterwerfen konnte. Ich weiß, das alles war dumm von mir, aber nach allem, was Donald gesagt hat, hatte ich solche Angst, dass ich nur noch weg wollte.«
Emily hielt den Atem an und fragte sich, ob ihr die Männer diese Geschichte abkauften.
»Ihre Aussage bestätigt das, was wir bereits wissen, Miss Todd«, erklärte der erste Mann - er schien der einzige zu sein, der Stimmbänder hatte. »Wir sind überzeugt, dass dieser Michael Chamberlain längst über alle Berge ist, aber sollte er noch einmal Kontakt zu Ihnen aufnehmen, bleiben Sie so vernünftig wie bisher und rufen Sie uns an.« Er drückte ihr eine Visitenkarte in die Hand. »Unter dieser Nummer erreichen Sie Tag und Nacht jemanden, der Ihnen zu Hilfe kommt. Guten Tag«, schloss er, und sie verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren.
Sobald sie allein war, ließ sich Emily auf das Kissen zurücksinken. Erst jetzt merkte sie, dass sie zitterte wie Espenlaub. Das FBI! Sie hatten ihr Fragen gestellt! Ihr. Die praktisch veranlagte, langweilige, vernünftige Emily Jane Todd war vom FBI verhört worden. Und das alles wegen eines Mannes, der behauptete, ein Engel und auf der Suche nach dem Unheil zu sein.
Emily richtete sich abrupt auf. »Das alte Madison-Haus«, sagte sie laut, und mit einem Mal schienen etliche Puzzleteilchen an ihren Platz zu fallen. Wenn es je einen Ort auf Erden gab, an dem sich Böses zusammenbraute, dann in diesem schrecklichen alten Haus. Und natürlich hatte es etwas mit ihr zu tun, weil sie seit Jahren Recherchen über dieses Haus anstellte. Sie hatte Informationen in einem dicken Ordner gesammelt. Kein Mensch wusste viel über das Madison-Haus, aber sie hatte alles zusammengetragen und schriftlich festgehalten.
Sie schlug die Decke zurück, und kaum hatte sie einen Fuß auf den Boden gestellt, flog die Tür auf, und Michael stürmte herein. »Emily, ist alles in Ordnung mit Ihnen? Sie haben Ihnen doch nichts getan, oder?«
Er legte ihr die Hände auf die Schultern und betrachtete ihren halb nackten Körper, als wäre sie in Lebensgefahr.
»Wieso sind Sie noch hier? Die Männer könnten jeden Augenblick zurückkommen. Vielleicht beobachten sie dieses Zimmer.« Sie sah ihn finster an.
Michael grinste. »Sie haben sich Sorgen um mich gemacht, stimmt’s? Oder weshalb haben Sie den Männern nicht gesagt, dass ich mich draußen im Gebüsch verstecke? Sie wären mich für immer los gewesen.«
»Was immer Sie auch sein mögen, ich glaube nicht, dass Sie ein Mörder sind. Genauso wenig wie ein Engel«, fügte sie hinzu, ehe er das Wort ergreifen konnte.
»Ah, das sagen Sie nur, weil ihr Sterblichen seltsame Vorstellungen davon habt, wie Engel sein sollten. Würden Sie jetzt bitte aufstehen, damit wir uns etwas zu essen besorgen können? Dieser Körper ist schon ganz schwach vor Hunger. Das ist wirklich eine Plage. Wie oft muss man ihm Nahrung zuführen?«
»Einmal im Monat«, antwortete Emily mit einem zuckersüßen Lächeln. »Und alle zwei Wochen braucht er etwas zu trinken.«
Lachend rief er: »Auf! Ziehen Sie sich an.« Dann trat er ein paar Schritte zurück und betrachtete sie. »Es ist eigenartig, einen menschlichen Körper durch die Augen eines Sterblichen zu sehen. Gewöhnlich sehe ich nur die Seelen, aber es ist sehr interessant, Sie so wahrzunehmen.«
Emily riss die Decke an sich. »Gehen Sie und warten Sie draußen auf mich. Passen Sie auf, dass Sie von niemandem gesehen werden.«
»Mein Wunsch ist Ihr Befehl«, sagte er und runzelte verwirrt die Stirn.
Emily musste lachen. »Jetzt aber raus hier«, sagte sie und warf ihm ein Kissen nach.