Kapitel 2

Als Emily am folgenden Morgen aufwachte, überkam sie Panik. Sie kam zu spät zur Arbeit oder verpasste jemanden, mit dem sie eine Besprechung hatte, oder sie musste ... überrascht - angenehm überrascht - registrierte sie, dass das ganze Wochenende vor ihr lag. Sie hatte frei bis zum Dienstag, und heute war erst Samstag!

Sie drehte sich unter dem himmlisch weichen, warmen Daunenplumeau um, kuschelte sich tiefer in das duftende Bett und dachte: Was für einen eigenartigen Traum ich hatte - von braunäugigen Engeln, Autounfällen und ... Sie versank wieder in Schlaf, ehe sie den Gedanken zu Ende bringen konnte.

Die Sonne, die in ihr Gesicht schien, weckte sie, und als sie zum Fenster blinzelte, glaubte sie einen Mann vor dem grellen Licht stehen zu sehen. Er hatte das Gesicht abgewandt, aber er schien zwei riesige Flügel am Rücken zu haben. »Ich bin noch nicht wach«, murmelte sie und kroch wieder ganz unter das Plumeau.

»Guten Morgen«, begrüßte sie eine angenehme männliche Stimme.

Emily achtete nicht darauf und hielt ihre Augen geschlossen.

»Ich habe Ihnen das Frühstück gebracht«, fuhr die Stimme fort. »Es gibt frische Erdbeeren aus dem Garten des Wirts und kleine, mit Karotten gebackene Muffins, kalte Milch und heißen Tee. Ich habe die Wirtin gebeten, Ihnen ein weich gekochtes Ei zu machen. Vier Minuten -so mögen Sie doch Ihr Frühstücksei, habe ich recht?«

Mit jedem Wort, das sie hörte, wurde die Erinnerung an die letzte Nacht klarer. Natürlich konnte das alles nicht die Wirklichkeit sein. Sie schob argwöhnisch die Decke von ihrem Gesicht und sah den Mann an. Er trug dasselbe dunkle Hemd und die dunkle Hose wie gestern, und jetzt, im hellen Tageslicht, sah sie, dass seine Kleidung schmutzig und fleckig war.

»Gehen Sie«, sagte sie und versuchte, es sich wieder im Bett gemütlich zu machen.

»Ich habe Sie zu lange schlafen lassen«, sagte er, als würde er ein wissenschaftliches Experiment beobachten und sich vornehmen, das nächste Mal ein bisschen weniger von Dem-und-dem in die Mixtur zu geben.

Emily wusste, dass ihr kein Schlaf mehr vergönnt war. »Fangen Sie nicht wieder an«, warnte sie, schob stöhnend die Decke von sich und strich die Strähnen aus ihren Augen. Im Wachzustand merkte sie, wie schrecklich sie sich fühlte. Sie erinnerte sich kaum noch daran, was nach dem Besuch in der Klinik geschehen war, aber sie musste todmüde ins Bett gefallen sein ... ein Blick nach unten bestätigte ihr, dass sie immer noch die traurigen Überreste ihres beigen Abendkleides trug. Zweifellos hatte sie auch noch die Überreste des Make-ups im Gesicht.

Emily hielt sich die Decke vor die Brust und setzte sich auf. »Ich möchte, dass Sie gehen«, sagte sie fest. »Ich habe meine Pflicht getan, und jetzt will ich, dass Sie mich allein lassen. Ich möchte Sie nie Wiedersehen.«

Er tat so, als hätte er sie nicht gehört. »Der Tee ist sehr heiß. Sie müssen vorsichtig sein, sonst verbrennen Sie sich«, sagte er, während er ihr eine hübsche Porzellantasse mit Untertasse reichte.

»Ich will nicht...«, begann sie, hielt aber inne, als sie seinen Blick bemerkte. In seinen Augen liegt etwas Bezwingendes, dachte sie, als sie die Tasse nahm und von dem Tee trank. Er stellte ihr das Frühstückstablett auf den Schoß, dann streckte er sich auf dem Bett aus.

Bezwingender Blick oder nicht - das war zu viel. »Von all Ihren Dreistigkeiten ist dies ...«, begann sie, als sie die Tasse abstellte und versuchte, aus dem Bett zu steigen.

»Ich habe unten mit einem Mann gesprochen, der bei der - wie sagte er noch? - Polizei ist. Er untersucht einen Autounfall, den ihm der Arzt gemeldet hat.«

Emily hielt inne und sah ihn an.

»Dieser Polizist meinte, wenn ich keine Anzeige erstatte, könnte er in der Unfallsache nichts weiter unternehmen. Aber wenn ich den Vorfall melde, und die finden heraus, dass Sie, sagen wir mal, zu schnell gefahren sind, oder schlimmer, dass Sie auf einer Party waren und ein oder zwei Gläser Champagner getrunken haben - na, das könnte ernste Folgen haben.«

Emily war - mit einem Fuß auf dem Boden - wie zu Eis erstarrt; sie sah ihn unverwandt an, während ihr Gehirn verarbeitete, was er ihr mitgeteilt hatte. Sofort tanzten Visionen von Gefängniszellen und einer öffentlichen Gerichtsverhandlung wegen Trunkenheit am Steuer vor ihren Augen. Sie erinnerte sich, dass die Polizei von Bremsspuren ablesen konnte, wie schnell ein Fahrzeug gefahren war. Und bei der Geschwindigkeit, mit der sie durch die Nacht gerast war, musste sie Bremsspuren hinterlassen haben, die bestimmt noch zu sehen waren, wenn die Straße nicht auseinander gefallen und zerbröckelt war. »Was wollen Sie?«, flüsterte sie. Mit einem Mal war ihre Kehle staubtrocken. Sie spürte, wie ihr kleine Schauer über den Rücken liefen.

»Emily«, sagte er und legte seine Hand auf ihre, aber sie wich augenblicklich zurück. Er seufzte. »Ich ...« Er zögerte und sah ihr in die Augen. Emily hatte das Gefühl, dass er versuchte, ihre Gedanken zu ergründen. Soll er doch!, dachte sie und funkelte ihn an.

Ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht, dann machte er es sich auf dem Bett bequem. »Kommen Sie, essen Sie einen Muffin. Und außerdem wird Ihr Ei kalt.«

»Was wollen Sie?«, wiederholte sie, diesmal ärgerlich.

»Fangen wir mit etwas Einfachem an«, sagte er, während er Butter auf einen Muffin strich. »Wie wär’s mit einem gemeinsamen Wochenende?«

»Sie sind krank«, gab sie zurück. Sie stellte den anderen Fuß auf den Boden und stand auf.

Im Nu sprang er vor sie, und als er die Hände auf ihre Schultern legte, beruhigte sie sich eigenartigerweise.

»Emily, was, wenn ich Ihnen sagen würde, dass ich mich nicht erinnere, wer ich bin? Dass ich nicht mehr weiß, warum ich letzte Nacht auf dieser Straße war und wie ich dort hingekommen bin? Dass ich mich an gar nichts mehr erinnere, was bis vor zwei Minuten vor dem Unfall passiert ist?« Sie sah zu ihm auf- sie hatte keine Angst mehr vor ihm. »Dann sollten Sie zur Polizei gehen und ...« Wieder kamen ihr die Untersuchungen und Verhöre in den Sinn. Sie würden wissen wollen, wer ihn angefahren hatte, und dann eine Menge Fragen stellen. Ja, es hatte am Abend bei der Preisverleihung Champagner gegeben, und ja ... Sie dachte an Donalds politische Karriere und daran, dass er sich wohl keine wegen Trunkenheit am Steuer verurteilte Verlobte leisten konnte.

»Was soll ich tun?«, fragte sie. Wenigstens behauptet er nicht mehr, ein Engel zu sein, dachte sie, vielleicht besteht die Hoffnung, dass ihm irgendwann wieder einfällt, wer er ist. Sicher sucht ihn jemand. Vielleicht seine Frau, ging es ihr durch den Kopf, während sie in die Augen mit den langen, dichten Wimpern schaute.

»Das klingt schon besser«, sagte er lächelnd. »Warum kriechen Sie nicht wieder ins Bett und frühstücken anständig? Ich spüre, dass Sie am Verhungern sind, also essen Sie erst einmal was.«

Sie war jetzt viel ruhiger. Wenn er sein Gedächtnis verloren hatte, war er vielleicht selbst verängstigt und unsicher. »Emily ...«, er hob die Decke für sie hoch, als sie ins Bett schlüpfte, und stellte das Tablett wieder auf ihren Schoß, »ich brauche Ihre Hilfe. Meinen Sie, Sie könnten dieses lange Wochenende damit zubringen, mir zu helfen? Der Wirt sagt, Sie hätten für das Zimmer im Voraus bezahlt, und Sie würden das Geld verlieren, wenn Sie jetzt nach Hause fahren würden.« Er legte ihr den gebutterten Muffin auf den Teller. »Ich kann mir vorstellen, dass Sie vieles tun möchten, dass Sie Unternehmungen geplant haben mit... mit Donald.« Es war, als würde ihm der Name fast im Hals stecken bleiben. »Aber vielleicht finden Sie ein klein wenig Zeit, mir zu helfen.« Er lächelte sie hoffnungsvoll an.

Emily starrte wortlos auf ihren Teller.

»Ich erinnere mich an gar nichts«, sagte er. »Ich weiß nicht, welches meine Lieblingsspeisen sind oder wie man Kleider kauft oder welche Interessen ich habe. Natürlich ist es beschwerlich für Sie, aber möglicherweise finde ich mit Ihrer Unterstützung heraus, was ich mag und ...«

Emily konnte nicht anders, sie musste lachen. »Und ich soll Ihnen diese Mitleid erregende Geschichte abnehmen?«

Sie begann, die Schale von dem Ei zu picken. »Was wollen Sie wirklich von mir?«

Er bedachte sie mit einem verwirrenden Lächeln. »Finden Sie heraus, wer, zur Hölle, mich gestern Abend mitten im Nichts abgesetzt hat und dem Tod überlassen wollte. Ich weiß, dass der Arzt gesagt hat, mir würde nichts fehlen, aber ich habe Kopfschmerzen, die weniger robuste Naturen umbringen würden.«

»Dann sollte ich Sie zu einem Arzt bringen«, stellte sie fest und schob sofort das Tablett und das Plumeau weg.

Aber er gebot ihr Einhalt und deckte sie wieder zu. »Ich möchte nicht noch mehr Aufmerksamkeit erregen. Ich ...«

Er sah ihr ins Gesicht. »Ich glaube, jemand hat versucht, mich zu töten.«

»Dann müssen Sie zur Polizei gehen.«

»Ich müsste der Polizei von Ihnen erzählen, meinen Sie nicht?«

»Vermutlich«, bestätigte sie. Sie knabberte an dem Muffin, während sie über das, was er gesagt hatte, nachdachte. Wenn sie es mit der Polizei zu tun bekam, konnte sie ihrem zukünftigen Leben Adieu sagen. Womöglich würde ihr die NLA den Preis im Nachhinein wieder aberkennen. »Ich kann mir ehrlich nicht vorstellen, dass ich geeignet bin, einen versuchten Mord aufzuklären«, sagte sie. »Vielleicht sollten Sie einen Privatdetektiv einschalten. Ich meine das ernst. Ich bin keine von diesen mutigen Frauen, die sich insgeheim wünschen, eine Waffe bei sich zu tragen und mitten in der Nacht in düsteren Lagerhallen hemmzuschleichen. Ich bin eher, na ja, der Bibliothekarinnen-Typ. Ich kann mich begeistern, wenn ich ein altes Buch aufspüre. Und ich mag mein Leben so, wie es ist«, erklärte sie mit Nachdruck.

»Ich bitte Sie ja nicht darum, die Person zu finden, die versucht hat, mich umzubringen; ich habe Sie lediglich gefragt, ob Sie mir helfen, mein Gedächtnis zurückzuerlangen. Ich bezweifle, dass Mörder so dumm sind, mich in der Nähe einer Stadt zurückzulassen, in der ich bekannt bin. Ehrlich gesagt«, fügte er hinzu, während er seine Manschettenknöpfe aufmachte, »ich denke, dass ich gefesselt war und in einem Kofferraum transportiert wurde.«

Als er ihr seine Arme entgegenstreckte, sah sie, dass er Wunden an den Handgelenken hatte, die von einem fest verknoteten Strick stammen könnten. »Dasselbe habe ich an den Knöcheln.«

»Und Sie erinnern sich an gar nichts mehr, was vor gestern Abend war?«, fragte sie, ehe sie ihre Milch trank. »Überhaupt nichts?«

»Nein, aber heute Morgen weiß ich offensichtlich ein bisschen mehr als gestern. Ich mag keine spanischen Omeletts.«

Emily lachte. In der einen Minute sprach er von einem Mordversuch, in der nächsten über spanische Omeletts.

»Verbringen Sie dieses Wochenende mit mir«, bat er mit flehendem Blick. »Ich möchte alle nur erdenklichen Speisen probieren, alles, was möglich ist, sehen und tun, was es zu tun gibt. Vielleicht hilft irgendetwas meinem Gedächtnis auf die Sprünge und ich erinnere mich, wer ich bin.»

»Falls Sie nicht doch ein Engel sind«, neckte sie ihn.

»Ja, das habe ich nicht vergessen«, erwiderte er leichthin. Für einen Moment befürchtete Emily, er würde wieder mit diesem Unsinn anfangen, aber stattdessen erhob er sich von dem Bett und ging zu dem antiken Schrank auf der anderen Seite des Zimmers. »Sehen Sie sich das an«, sagte er und reichte ihr eine Brieftasche. »Da drin sind interessante Dinge.«

Emily wischte sich die Hände an der Serviette ab, dann nahm sie die Brieftasche und sah sie sich an. Ja, sie enthielt einige »interessante« Dinge - dreitausendfünfhundert Dollar in bar, eine goldene Visitenkarte mit der Unterschrift von Michael Chamberlain auf der Rückseite und einen in New York ausgestellten Führerschein, seltsamerweise ohne Foto. Aber es war eine Adresse angegeben.

»Der Polizist hat heute Morgen bereits dort angerufen«, berichtete Michael. »Das war einer der Gründe, warum er hier war: Die Informationen, die der Arzt über mich hatte, haben nichts abgegeben.«

Sie blinzelte ihn verwirrt an. »Abgegeben? Oh, ich verstehe. Sie haben nichts ergeben. Was Sie dem Arzt erzählt haben, konnte nicht verifiziert werden. Ich glaube, Englisch ist nicht Ihre Muttersprache.«

»Aber zumindest meine zweite Sprache«, sagte er lächelnd. »Werden Sie mir helfen?«

Emilys Gedanken beschäftigten sich mit all den Aspekten, die eine solche Entscheidung beinhaltete. Natürlich würde Donald fuchsteufelswild werden, wenn er davon erfuhr. Aber Donald hatte sie gestern Abend immerhin versetzt. Genau genommen hätte sie diesen Mann vermutlich niemals angefahren, wenn Donald wie versprochen erschienen wäre.

Und da war noch die Frage, was ihr blühte, wenn sie diesen Mann aufforderte, augenblicklich zu verschwinden, und ihm ihre Hilfe verweigerte. Abgesehen davon, dass sie in diesem Fall die nächsten zwanzig Jahre möglicherweise im Gefängnis verbringen würde, stünde ihr ein entsetzlich langweiliges Wochenende bevor. Einer der Gründe, warum sie Donald so sehr liebte, war, dass er immer genau wusste, was er unternehmen wollte. Er gehörte nicht zu der Sorte von Männern, die herumlungerten und darauf warteten, dass eine Frau für sie Pläne machte.

Irene hatte einmal zu Emily gesagt, dass Donald sie durch die Gegend zerrte, als wäre sie sein Schoßhündchen, aber Emily nahm gern an Donalds aufregendem Leben teil und liebte die ungeheure Aktivität, die von ihm ausging.

Sie hatte die Wahl: Sie konnte sofort nach Hause fahren und sich den tausend Fragen stellen, warum sie schon jetzt zurückkam, oder sie konnte das ganze Wochenende allein hier bleiben. Allein. Mit niemandem sprechen. Einsam durch die Gegend wandern. Allein.

»Ich habe gehört, dass ein Handwerksmarkt in der Stadt ist«, sagte Michael. »Wissen Sie, was ein Handwerksmarkt ist?«

Emilys blaue Augen fingen an zu leuchten. »Leute aus der Umgehung bringen alle möglichen Dinge, die sie hergestellt haben, hierher und verkaufen sie an Ständen.»

»Klingt langweilig», befand er.

»Das ist es ganz und gar nicht. Es ist wunderbar. Auf einem solchen Markt gibt es Körbe, Holzspielzeug, Schmuck, Puppen und ... und einfach alles, was man sich nur vorstellen kann. Und die Leute sind so nett und ... Sie lachen mich aus.» Ihr Lächeln verblasste. »Ich bin überzeugt, Sie würden sich lieber ein Footballspiel ansehen.»

»Keine Ahnung. Im Moment könnte ich einen Handwerksmarkt nicht einmal von einem Footballspiel unterscheiden. Ich dachte nur gerade daran, wie schön Sie sind.« Emily fasste das nicht als Kompliment auf. Wann immer ihr die Männer sagten, dass sie schön sei, wollten sie etwas von ihr. Und sie wusste sehr gut, was das war.

»Ich glaube kaum, dass Sie auf diese Weise etwas bei mir erreichen«, entgegnete sie leise. »Ich bin verlobt, und Sie ...«

»Und ich weiß nicht, wer oder was ich bin«, beendete er den Satz für sie. »Ehrlich, Emily, Sie sind sehr hübsch, und ich glaube, Sie haben ein gutes Herz. Welche Frau würde wie Sie in Erwägung ziehen, einem Fremden zu helfen?«

»Eine, die nicht ins Gefängnis wandern möchte«, erwiderte sie und brachte ihn damit zum Lachen.

»Na ja, vielleicht habe ich das vorhin nur angedeutet, damit Sie mir zuhören. Jedenfalls könnte es durchaus sein, dass ich irgendwo eine Frau und ein halbes Dutzend Kinder habe, und wie sollte ich denen erklären, was ich während meiner Abwesenheit getan habe?«

»Ich bin nicht sicher, ob die verheirateten Männer in Amerika oder irgendwo sonst immer treu und aufrichtig sind«, gab Emily fast im Flüsterton zurück.

»Möglicherweise bin ich es doch. Ich weiß es nicht. Was ist mit Ihrem Schatz? Ist er treu?«

»Wenn Sie ihn noch einmal Schatz nennen, bin ich weg, verstanden?«

Michael grinste. »Ich schätze, das heißt, dass Sie mir die Frage nach seiner Treue nicht beantworten wollen.«

»Stellen wir lieber gleich von vornherein ein paar Dinge klar«, entgegnete sie heftig. »Ich werde Ihnen helfen, Ihr Gedächtnis zurückzubekommen, aber nur, wenn Sie sich an einige Grundregeln halten.«

»Ich höre.«

»Mein Privatleben ist tabu. Und mein Körper ist tabu. Behalten Sie Ihre Finger bei sich.«

»Ich verstehe. Sie gehören zum Harem eines anderen Mannes.«

»Ich bin in keinem Harem und ...« Ihre Augen wurden schmal. »Hören Sie sofort damit auf. Ich merke sehr wohl, was Sie im Sinn haben. Sie versuchen, mich zu ärgern, mich wütend zu machen. Das mag ich nicht.«

»Aber Sie sehen aus wie ein Engel, wenn Sie wütend sind. Ihre Augen blitzen und ...«

»Ich mein’s ernst! Entweder Sie lassen diese persönlichen Bemerkungen sein, oder wir sind geschiedene Leute. Verstanden?«

»Sehr gut. Noch mehr Erdregeln?«

»Grundregeln. Man nennt das Grundregeln. Und es gibt tatsächlich noch eine. Ich will kein Wort mehr über diesen Engel-Unsinn hören. Ich möchte nicht, dass Sie mir erzählen, Sie wären ein Engel, ich wäre ein Engel oder... oder ...«

»Wir alle wären Engel, nur dass einige von uns einen menschlichen Körper haben, andere nicht - ist es das?«

»Ganz genau. Und heute suchen wir Ihnen ein anderes Zimmer. Sie dürfen keine weitere Nacht im selben Zimmer mit mir verbringen. Sind Sie mit all dem einverstanden?«

»Selbstverständlich. Keine Frage. Nur müssen Sie mir auch etwas versprechen.«

»Und was?«

»Dass Sie es mich wissen lassen, wenn Sie sich wünschen, dass ich eine dieser Regeln missachte. Wenn Sie über Ihr Privatleben sprechen möchten, wollen, dass ich Sie berühre und über Engel spreche, müssen Sie es mir sagen. Versprechen Sie’s.« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Abgemacht?«

Emily zögerte; ihr war eigentlich danach, ihn zum Teufel zu schicken, aber sie schüttelte seine Hand. Und wieder überkam sie in dem Moment, in dem sie ihn berührte, ein tiefes Gefühl des Friedens. Sie spürte, dass alles, was sein würde, richtig war und dass ihr Leben so verlaufen würde, wie sie es wollte.

Sie zog ihre Hand zurück. »Jetzt möchte ich, dass Sie das Zimmer verlassen, damit ich mich anziehen kann. Wir treffen uns in einer Stunde unten, dann ziehen wir los, kaufen Ihnen neue Kleider und suchen eine Übernachtungsmöglichkeit für Sie - eine andere als diese hier bei mir«, sagte sie.

»Danke, Emily.« Er strahlte sie an. »Sie sind ein Engel.«

Sie öffnete den Mund, um zu protestieren, besann sich aber eines anderen, als sie das Glitzern in seinen Augen sah. »Jetzt aber raus!«, rief sie lachend. »Gehen Sie.« Und er verließ das Zimmer.

Emily war auf dem Weg ins Bad, als das Telefon klingelte. »Hallo, mein kleines Zuckerschnäuzchen. Bist du böse auf mich?«, sagte Donald. »Verzeihst du mir, wenn ich dir erzähle, dass ich die ganze Nacht auf den Beinen war, um über einen Brand zu berichten - einen richtigen Großbrand-, und dass es mir ehrlich von Herzen Leid tut?«

Emily setzte sich aufs Bett; sie war so froh, eine vertraute Stimme zu hören. »O Donald, es war der schrecklichste Tag meines Lebens. Du wirst nicht glauben, was mir passiert ist. Ich habe einen Mann angefahren.«

Donald schwieg einen Moment, und sie konnte sich vorstellen, wie sich seine Stirn in Falten legte. »Erzähl mir alles«, forderte er sie ernst auf. »Besonders von dem Polizeibericht. Was hat die Polizei gesagt?«

»Nichts. Die Polizei wurde gar nicht eingeschaltet. Ich meine, letzte Nacht noch nicht. Heute Morgen haben sie Michael - dem Mann, den ich angefahren habe - gesagt, dass er Anzeige erstatten und mich für Jahre ins Gefängnis bringen könnte, aber...«

»Emily! Nicht so hastig - erzähl von Anfang an.«

Sie tat ihr bestes, doch Donald unterbrach sie immer wieder und stellte jedes Mal dieselbe Frage nach der Polizei. »Donald, wenn du mich nicht die ganze Geschichte erzählen lässt, muss ich annehmen, dass du nur Interesse für die Auswirkungen hast, die der Vorfall auf deine Karriere haben könnte.«

»Das ist absurd, und das weißt du auch. Ich habe dich gefragt, ob du verletzt bist.«

»Nein, kein bisschen, aber ich bin zu schnell auf einer kurvenreichen Straße gefahren und hatte mindestens zwei Gläser Champagner getrunken.«

»Aber dieser Kerl hat nicht die Absicht, Anzeige zu erstatten, oder?«

Emily presste die Lippen zusammen, dann holte sie tief Luft. »Nein“, antwortete sie ruhig, »aber er verlangt von mir, dass ich unglaubliche Sexspiele mit ihm treibe.«

Donald ging auf die Spitze ein. »Wenn du etwas Neues lernst, merk’s dir und zeig es mir dann.«

Darüber konnte Emily nicht lachen - offenbar hielt er es für einen Witz, dass ein anderer Mann Sex mit ihr haben wollte. »Offen gestanden, dieser Mann - Michael Chamberlain - ist umwerfend, und er nächtigt in meinem Hotelzimmer. Ich habe mir ein schwarzes Seidennachthemd gekauft.«

»Das ist eine gute Idee«, erwiderte Donald. »Er soll in deiner Nähe bleiben, damit du ihn im Auge behalten kannst und eventuelle Anzeichen von irgendwelchen Folgeschäden bemerkst. Und sorge dafür, dass alle möglichen Leute sehen, dass er vollkommen in Ordnung ist. So können wir verhindern, dass der Blödmann später etwas unternimmt und dir irgendwelche erfundenen Dinge anlastet.«

»Donald!«, rief Emily ärgerlich. »Er ist kein Blödmann, und ich habe die Nacht mit ihm verbracht.«

Donald lachte so überheblich, dass Emily noch wütender wurde. »Emily, mein Liebes«, sagte er. »Ich vertraue dir, und du wirst nie in deinem Leben irgendetwas Schwarzes aus Seide besitzen. Du bist viel zu praktisch veranlagt, um dein Geld für so etwas zu verschwenden.«

»Ich bin durchaus dazu im Stande«, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Na klar. Und ich kaufe mir einen Volvo. Ich muss jetzt auflegen. Bleib, wo du bist. Ich wünsche dir eine schöne Zeit mit deinem streunenden Kater. Ich liebe dich.« Er legte auf.

Emily rührte sich nicht vom Fleck und starrte fassungslos den Hörer an. Donald hatte einfach aufgehängt, ohne auch nur den Vorschlag zu machen, zu kommen und den Rest des Wochenendes mit ihr zu verbringen, und er hatte kein Wort darüber verloren, dass sie mit einem anderen Mann zusammen war. Einem Engel von einem Mann, dachte sie, als sie den Hörer auf die Gabel legte.

Sie stand auf und duschte, und die ganze Zeit über verfluchte sie Donald. Praktisch veranlagt, dachte sie. Welche Frau wollte schon »praktisch veranlagt« sein? Und welche Frau hörte gern, dass sie niemals etwas Schwarzes aus Seide besitzen würde?

Als sie aus der Dusche kam, zog sie eine Schublade der Kommode auf. Emily hatte gestern schon ihren Koffer ausgepackt, als sie darauf gewartet hatte, dass Donald mit einem Rosenstrauß und tausend Entschuldigungen auftauchen würde. Er war zwar noch nie mit Rosen bei ihr erschienen, aber mit Entschuldigungen hatte er sie schon oft überhäuft.

Alles, was in der Kommode lag, war >>praktisch«. Sie war eine konservative Kofferpackerin, und jedes Teil, das sie mitgenommen hatte, passte zu den anderen - alle waren waschbar. »Praktisch«, brummte sie verärgert und stieß die Schublade zu.

Auf dem Bett lagen die traurigen Reste ihres seidenen Abendkleides - selbst das entsprach den Kriterien der Praktikabilität. Zumindest war das noch bis gestern Abend so gewesen, bevor sie in stockfinsterer Nacht den Abhang hinuntergestürmt war, und jetzt war es nur noch ein Fetzen.

Sie zog eine dunkelblaue Hose, eine blassrosa Bluse und eine ganz normale, klassische blaue Strickjacke an, dann betrachtete sie sich im Spiegel. Ihr Haar wurde von einem blauen Band aus dem Gesicht gehalten, und das dezente Make-up unterstrich ihr »natürliches« Aussehen. So gefiel sie Donald. Er konnte »angemalte« Frauen nicht ausstehen. Irene meinte, er könne niemanden ausstehen, der hübscher als er selbst war.

Nein, überlegte sie, als sie in den Spiegel schaute, sie war nicht der Typ Frau, der in verrückte, aufregende Abenteuer geriet. Sie war auf unauffällige Art hübsch, hatte große braune Augen, eine kleine Nase und einen wohlgeformten Mund. Selbst mit Lippenstift hatte sie keinen vollen, verführerischen Mund wie die Models.

Nur ihr dunkles, kastanienbraunes Haar, das üppig und leicht gewellt war, verlieh ihr ein wenig Sex-Appeal.

Aber Sex-Appeal passt ohnehin nicht zu einer Bibliothekarin, dachte sie mit einem Seufzen. Nein, ihre unauffällige Schönheit, die hübsche Figur und ihre klassische Garderobe entsprachen dem, was sie war. »Natürlich und praktisch veranlagt«, murmelte sie, als sie aus dem Zimmer ging.