Kapitel 22
Es war erstaunlich, wie sehr das richtige Kleid und der richtige Schmuck dem Selbstbewusstsein einer Frau aufhalfen, wenn sie sich am richtigen Ort befand, um sich in voller Pracht zu zeigen. Als sich Emily einen Weg durch die Menschenmenge bahnte, fühlte sie sich kein bisschen wie eine Hochstaplerin oder wie ein Mädchen aus der Kleinstadt, das versehentlich in die feine Gesellschaft geraten war. Sie kam sich viel eher vor, als würde sie dazu gehören. Irene hatte sich immer beklagt, dass Emily ihre großzügigen Kurven unter zu weiten Kleidern versteckte, aber heute überließ sie nichts der Fantasie. Sie sah und spürte die bewundernden Blicke der Männer. Die Frauen musterten sie abschätzig. Die Rubine fielen allen auf, und jeder schien zu wissen, dass sie echt waren.
Man musste kein Sherlock Holmes sein, um herauszufinden, wer die drei Männer waren, nach denen sie suchte. Sie saßen zusammen an einem Tisch, rauchten, tranken und sahen den Tänzern zu.
Emily hielt sich im Hintergrund und beobachtete die drei eine Weile. Sie durfte nicht daran denken, was einer der Männer ihr antun wollte. Sie war auf einem rausehenden Fest und wollte nur so viele Einzelheiten wie möglich in Erfahrung bringen.
Sie atmete ein paar Mal tief durch. Ein Mann betrachtete sie verzückt, weil noch ein Stückchen mehr von ihrem Busen aus dem Dekollete gerutscht war. Emily hob ihr Glas und prostete ihm zu. Beinahe hätte sie laut gelacht.
Mit dem Gefühl, eine ungeahnte Macht zu besitzen, machte sie sich auf den Weg zu dem Tisch, an dem die drei Männer saßen. Dabei öffnete sie unauffällig den Verschluss ihres Colliers.
»Entschuldigen Sie bitte«, flötete sie, und der Mann, der ihr den Rücken zugekehrt hatte, rückte mit dem Stuhl ein Stück vor, um sie vorbeizulassen, obwohl genügend Platz gewesen wäre. Sie stolperte über ein nicht vorhandenes Hindernis und fing sich gerade noch rechtzeitig, sonst wäre sie auf dem Schoß des Mannes gelandet. Das Collier rutschte in ihren Ausschnitt.
»Liebe Güte!«, hauchte sie und presste die Hand auf die Rubine und ihren üppigen Busen. »Ich bin ja so ungeschickt, es tut mir Leid.«
»Mir nicht«, erwiderte der Mann. Er erhob sich, um sie zu stützen. »Möchten Sie, dass ich Ihnen helfe?«
»Oh, das wäre sehr freundlich.« Während er ihr die Kette umlegte, überlegte Emily, wie sie vorgehen sollte. Wenn ihr jetzt nichts Originelles einfiel, hatte sie ihre Chance vertan. Aber wie konnte eine Frau das Interesse so einflussreicher Männer wecken?
»Ich danke Ihnen«, sagte sie strahlend, und als er sich wieder setzte, nahm sie all ihren Mut zusammen. »Welcher sind Sie - der Wölf, der Schüchterne oder der Nette, der im Grunde schrecklich skrupellos ist?«
Für einen Moment fürchtete Emily, zu weit gegangen zu sein, aber der große Blonde lachte. »Ich bin der Nette«, erwiderte er und deutete auf einen freien Stuhl. »Möchten Sie sich zu uns gesellen?»
»Nur wenn Sie mir versprechen, mein Haus nicht zu pfänden», sagte sie mit einem lasziven Augenaufschlag. »Abgemacht. Darf ich Sie mit meinen Freunden bekannt machen? Charles Wentworth und Statler Mortman. Und ich bin ...»
»David Graham«, fiel ihm Emily ins Wort. »Ich hätte sie überall erkannt. Man hat Sie mir sehr genau beschrieben.« Ihr Herz raste, als sie Platz nahm. Einer dieser drei war ein Mörder. Charles Wentworth starrte unverhohlen ihr Collier an.
»Ich habe es nie schätzen lassen«, sagte Emily beherzt. »Was meinen Sie, wie viel es wert ist?«
»Mindestens eine halbe Million«, meinte Wentworth, ehe er einen tiefen Zug von seiner Zigarette nahm.
»Wenn er das sagt, können Sie davon ausgehen, dass es das Doppelte wert ist«, warf Statler Mortman ein. Sein Blick verriet, dass er der Wolf war, und als sie ihm in die Augen sah, verstand sie, warum so viele Frauen auf ihn hereinfielen. »Jedenfalls würde ich Ihnen hier und jetzt einen Scheck über siebenhundertfünfzig dafür geben.«
Es dauerte einen Augenblick, bis Emily realisierte, dass er siebenhundertfünfzigtausend Dollar meinte. »Großer Gott«, keuchte sie. »Da schwirrt mir ja der Kopf. Ich bin nur eine kleine Bibliothekarin, müssen Sie wissen, und ich bin zum ersten Mal auf einem solchen Ball. Ist es nicht wunderbar hier?« Sie wandte sich ab und schaute zu den Tänzern, als gäbe es nichts Interessanteres für sie.
»Und wie sind Sie an diese Juwelen gekommen, Miss Bibliothekarin?«
»Ein Geist hat meinem Schutzengel verraten, wo sie sind, und er gab sie mir. Der Schutzengel, meine ich.«
Die drei verzogen keine Miene, und plötzlich gefror Emily das Blut in den Adern. Sie wünschte, sie hätte Michael nicht betäubt und wäre, wie er es vorgeschlagen hatte, mit ihm nach Hause gefahren.
Charles Wentworth zog wieder an seiner Zigarette. »Und wo ist Ihr Schutzengel jetzt?«
Es war besser, ein bisschen vorsichtiger zu sein. »Er muss hier irgendwo sein. Sie wissen ja - Schutzengel wachen stets und ständig über ihre Schäfchen.« Keiner der drei lächelte.
»Wie ist Ihr Name?«, wollte Statler Mortman wissen.
»Anastasia Jones«, antwortete sie prompt. »Meine Mutter hat nach einem Vornamen gesucht, der den langweiligen Nachnamen wettmacht. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, ich muss ...«
»Aber Sie können mir auf keinen Fall einen Tanz mit der geheimnisvollsten Frau auf diesem Ball verwehren«, sagte Statler Mortman und heftete den Blick auf ihren Busen.
»Ich? Geheimnisvoll? Da liegen Sie völlig falsch. Ich bin nur ...«
»Aschenputtel auf dem Ball«, ergänzte David schmunzelnd. »Sie müssen tanzen, damit alle Ihr wunderschönes Kleid und diesen sagenhaften Schmuck bewundern können. Merken Sie denn nicht, dass alle anwesenden Frauen vor Neid platzen? Ich bin überzeugt, dass sie noch nie solche Rubine zu Gesicht bekommen haben. Wahrscheinlich gab es so etwas Prachtvolles nicht einmal im russischen Zarenreich.«
Emily tastete nervös ihren Hals ab. Graham war tat-sächlich charmant und reizend, aber was hatte die Frau gesagt? Er würde mit einem strahlenden Lächeln, Witwen und Waisen das Dach über dem Kopf wegpfänden.
»Kommen Sie, Miss Smith, ein Tänzchen kann doch nicht schaden, oder?«
Er war so gewinnend, dass Emily die Hand ergriff, die er ihr entgegenstreckte, und nicht einmal registrierte, dass er sie mit einem falschen Namen angesprochen hatte. Was konnte ihr auf der Tanzfläche schon passieren?, dachte sie. Emily tanzte und überlegte, wie sie so schnell wie möglich von hier verschwinden und zu Michael kommen konnte. Plötzlich stieß jemand gegen sie, und sie spürte einen Stich an der Hüfte.
»O mein Gott, war ich das?«, ertönte eine Frauenstimme. Aber Emily schwankte, und alles verschwamm vor ihren Augen. »Zu viel Champagner«, sagte ein Mann, dann spürte sie, wie starke Arme sie umfassten und wegbrachten. Sie versank in einen süßen Traum. Sie war Aschenputtel, und der schöne Prinz brachte sie auf sein Schloss.
Als Emily erwachte, befand sie sich nicht in einem prächtigen Schloss, sondern in einem Albtraum. Ihr Kopf tat höllisch weh, und als sie versuchte, die Hand an die Stirn zu legen, merkte sie, dass sie gefesselt war. Sie öffnete benommen die Augen. Offenbar befand sie sich in einem großen, schmutzigen Raum. Abfall war auf dem Boden verstreut, und pelzige Tierchen - Ratten? - huschten herum. Sie saß auf einem Stuhl, an dessen Beine ihre Füße gefesselt waren. In dem Raum stand außer dem Stuhl nur noch ein verbeulter alter Metallschreibtisch. Es gab keine Fenster, nur eine schwere Stahltür.
Offenbar hatte man sie in ein verlassenes Gebäude gebracht, und wenn kein Wunder geschah, würde kein Mensch sie hier finden.
Sie machte sich die schlimmsten Vorwürfe, als die Tür aufging und die drei Männer hereinkamen. Helles Tageslicht strömte durch die Tür, und Emily fragte sich, ob sie nur eine Nacht oder mehrere Tage betäubt gewesen war. Sie trug noch immer das rote Kleid, aber jetzt war es zerrissen und voller Flecken. Sie wollte sich lieber keine Gewissheit verschaffen, ob die Rubine noch da waren.
Die Männer standen mit dem Rücken zu ihr, als hätten sie ihre Anwesenheit noch gar nicht zur Kenntnis genommen.
Wenn sie schon sterben musste, dann wollte sie zumindest den Grund dafür erfahren. Sie wollte eine intelligente Frage stellen, aber sie brachte nur ein einziges Wort heraus. »Warum?«, krächzte sie.
David Graham drehte sich zu ihr um. »Sie wissen es wirklich nicht, oder?« Er hielt ihr die Rubine hin. Die großen Tropfen fingen das Licht der nackten Glühbirne, die an der Decke hing, ein und glühten wie Feuer.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, erwiderte sie mit matter Stimme.
»Soll ich es ihr sagen?«, fragte er die anderen.
»Können wir dich davon abhalten?« Statler bedachte Emily mit einem Blick, der ihr eisige Schauer über den Rücken jagte.
Charles grinste tückisch. »Er ist der Wolf, wie Sie es so charmant ausgedrückt haben.«
Emily blinzelte. Vielleicht war der kleine Scherz doch nicht so originell gewesen, wie sie gedacht hatte. In Filmen war so etwas witzig, aber im wirklichen Leben konnte so ein Spruch als rüde aufgefaßt werden.
Im nächsten Moment zuckte ihr Kopf in die Höhe. Was für ein absurder Gedanke! Als Nächstes würde sie sich noch bei den Kerlen entschuldigen, die sie an einen Stuhl gefesselt hatten und sie wahrscheinlich töten würden.
»Haben Sie sich wirklich eingebildet, wir wären auf Ihre Frechheiten hereingefallen, auf Ihr...«
»Das reicht«, fiel David Charles ins Wort. »Sie ist so gut wie tot, was willst du noch?«
Michael, dachte Emily. Vielleicht konnte er sie hören, wenn sie ihn in Gedanken rief, und ihr zu Hilfe kommen. Aber selbst ein Engel musste erfahren, wo er gerade gebraucht wurde. »Wo sind wir?«, fragte Emily, weil sie hoffte, Michael die Informationen telepathisch übermitteln zu können.
»In einem Staat, von dem Sie noch nie gehört haben«, sagte Statler, und die beiden anderen brachen in Gelächter aus.
»Wo haben Sie die Rubine gefunden?«, wollte Charles wissen. »Wir haben überall danach gesucht.«
Emily begriff erst nach einer Weile, dass er von dem Madison-Haus sprach. »Sie haben das Haus durchsucht? Aber ich habe keine Spuren entdeckt.«
»Halten Sie uns für Amateure? Wer hat wohl das Gerücht in die Welt gesetzt, dass es in dem Haus spukt?«, gab Charles hasserfüllt zurück.
»Aber es gibt tatsächlich einen Geist dort. Captain ...«, begann sie.
»Verschonen Sie uns mit diesen albernen Geschichten. Wo haben Sie die Rubine gefunden?«
»Mein ... Freund hat sie gefunden, aber ich weiß nicht, wo. Vielleicht sollten sie ihn fragen.« Wenn es ihr gelang, sie zu überreden, Michael hierher zu bringen, konnte er sie retten. Wie immer, wenn ihr Gefahr drohte, dachte sie mit Tränen in den Augen. Sei tapfer, Emily, sagte sie sich. Zumindest weißt du, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Doch selbst dieser Gedanke nahm ihr nicht die Angst.
»Der Freund, der in der Limousine eingeschlafen ist?«, ertönte eine Frauenstimme. Die Tür ging auf, und die Frau, mit der sich Emily auf der Toilette unterhalten hatte, kam herein. »Schätzchen, wenn Sie ihm alle drei Pillen gegeben haben, wacht er nie mehr auf.«
Emily schnappte erschrocken nach Luft.
»Sie haben doch nicht angenommen, dass Ihnen eine Wildfremde die Informationen über diese drei Herren hätte geben können?«, fragte die Frau. Sie lachte über Emilys Bestürzung. Sie schlang den Arm um Davids Taille. »Das ist mein kleiner Bruder«, sagte sie und nahm ihm die Rubine aus der Hand. »Ich glaube, die sehen an mir besser aus als in deinem Bankschließfach«, sagte sie lächelnd, dann wandte sie sich Emily wieder zu. »Dachten Sie, unsere Begegnung auf der Toilette sei ein Zufall? Ist es Ihnen nicht eigenartig vorgekommen, dass niemand unsere kleine Unterhaltung gestört hat? Wir hatten jemanden vor der Tür postiert, der die Frauen woanders hingeschickt hat. Oh - und es tut mir wirklich Leid um Ihren Freund. Er war ein so gut aussehender Bursche.«
Bei dem Gedanken an Michaels Tod hätte sich Emily beinahe selbst aufgegeben. Michael hatte wahrscheinlich keinen Körper mehr und weilte längst wieder in himmlischen Gefilden ... plötzlich fiel ihr etwas ein. »Es ist nicht möglich, ihn zu töten, ehe er nicht herausgefunden hat, welche böse Macht mich bedroht, und er die Gefahr gebannt hat.«
Alle lachten.
»Baby«, sagte Statler. »In dieser Welt droht überall Böses.« Ihr lag eine bissige Bemerkung auf der Zunge, aber gerade in diesem Moment klingelte ein Telefon. Charles zog ein Handy aus der Tasche.
»Ja, gut, ja, ja«, sagte Charles. »Hab’ verstanden. Wir verschwinden von hier.«
Statler packte Emilys Arm und hielt ein Messer in der anderen Hand. Ob er ihre Fesseln aufschneiden oder ihr die Kehle aufschlitzen wollte, hätte Emily nicht sagen können.
Ehe er seine Absicht in die Tat umsetzen konnte, klingelte erneut das Telefon, und Charles hob gebieterisch die Hand. Er lauschte eine Weile der Stimme am anderen Ende, dann steckte er das Telefon wieder weg. »Das Vögelchen ist ausgeflogen.« Er funkelte Emily böse an. »Wie’s scheint, ist Ihr Freund wieder einmal entkommen.« Michael war noch am Leben! Emily hätte vor Erleichterung beinahe losgeheult, aber sie behielt sich in der Gewalt und versuchte, ganz ruhig zu bleiben. Sie zweifelte keinen Augenblick daran, dass Michael sie finden würde; schließlich hatte er einen direkten Draht zu den allerhöchsten Stellen.
»Wir müssen bis zum Abend warten, ehe wir sie verschwinden lassen können«, erklärte Charles ärgerlich.
Emily holte tief Luft, um sich Mut zu machen. »Können Sie mir nicht wenigstens sagen, warum Sie es auf mich abgesehen und zwei Mal eine Bombe in mein Auto gelegt haben?«
»Ich hab’ dir gleich gesagt, dass das keine gute Idee ist«, sagte David zu Statler. »Statler meinte, dass eine Autobombe mit der Mafia und dem Ganoven, mit dem Sie sich herumgetrieben haben, in Verbindung gebracht werden würde. Aber die Methode hat versagt. Beim Erstenmal hat das FBI die Bombe gefunden.«
Emily schwieg. Sie hatte nicht vor, ihnen auf die Nase zu binden, dass Michael ihr Schutzengel war und die Aura eines Autos wahrnehmen konnte.
»Ich kann es kaum fassen, dass eine so clevere Person wie Sie nicht selbst daraufkommt. Als wir anfingen, Erkundigungen über Sie einzuziehen, waren wir...« David sah auf. »Ja, was waren wir?«
»Beeindruckt«, sagte Statler.
»Ja, beeindruckt. Sie haben ein paar große Dinge aufgedeckt und Ihren hirnlosen Freund mit interessanten Informationen gefüttert. Er hat nur Ihretwegen Karriere gemacht. Zu schade, dass Sie ihn nicht mehr heiraten wollen. Sie hätten ihn zum Gouverneur machen können.«
»Aber meine Recherchen und die Storys hatten nicht das Geringste mit Ihnen zu tun. Also weshalb wollen Sie meinen Tod?«, fragte sie.
»Deshalb.« Er nahm seiner Schwester die Rubine aus der Hand.
»Sie wollen mich wegen dieses Schmucks umbringen? Sie hätten ihn einfach stehlen oder kaufen können.«
»Aber sie gehören Ihnen.« David schien das unglaublich komisch zu finden.
Emily begriff gar nichts mehr. »Sie hätten Sie neu fassen oder zerschneiden lassen können, damit man sie nicht wiedererkennt.«
»Habt ihr nicht behauptet, sie wäre ein kluges Mädchen?«, warf die Frau verächtlich ein.
Emily zermarterte sich das Gehirn. »Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, dass sie mir gehören?«, wollte sie wissen.
»Sie gehören zu Ihrem rechtmäßigen Erbe.«
»Ich soll Captain Madisons Erbin sein?« Ihre Verwirrung wuchs von Minute zu Minute. Aber in den letzten Tagen hatte sie so viel erlebt und mit so vielen Menschen und körperlosen Wesen zu tun gehabt, dass in ihrem Kopf alles drunter und drüber ging. Wenn der Captain, ein längst Verstorbener, ihr den Schmuck geschenkt hatte, konnte man dann sagen, sie hätte ihn geerbt?
»Du solltest die wegen Dummheit erschießen«, sagte die Frau und kehrte Emily den Rücken zu.
»Wie lautet der Mädchenname Ihrer Mutter?«, fragte David. »Wilcox.«
»Und der Ihrer Großmutter mütterlicherseits?«
»Ich ... das weiß ich nicht mehr.«
»Wie wär’s mit Simmons?«
»Ah, ja. Ich glaube, das stimmt.«
»Und wie hieß Captain Madisons Frau?«
»Rachel...«, Emily sah verblüfft auf. »Rachel Simmons«, flüsterte sie. Emilys Gedanken rasten. »Sie meinen, ich bin mit Captain Madison irgendwie verwandt?«
»Haben Sie jemals ein Bild von seiner Frau gesehen?«
»Nein. Sie hat nach dem Tod ihres Mannes alle Bilder von sich vernichtet.«
»Nicht alle. Meine Familie besitzt einige Gemälde und Fotos von ihr.« David zog ein Foto aus seiner Tasche und hielt es Emily hin.
»Aber sie ...»
»Sie sieht Ihnen verblüffend ähnlich. Sehen Sie den Schmuck, den sie trägt?«
»Ja.« Emily erkannte die Rubine, aber sie verstand die Zusammenhänge immer noch nicht. »Wer sind Sie?«
Er wusste, was sie meinte. »Meine Urgroßmutter war die Schwester von Rachel Simmons. Aber Sie waren die Urenkelin von Rachel Simmons.«
Ich war, dachte sie - er hält mich bereits für tot. »Das ... das wusste ich nicht. Auf den Gedanken wäre ich niemals gekommen. Ich wusste nicht einmal, dass sie eine Tochter hatte. Es gibt keine Dokumente oder Unterlagen darüber. Was hat sie in den Wahnsinn getrieben? Auch darüber gibt es keine Aufzeichnungen.«
»Sie hätten das noch herausgefunden. Es ist ein wohlgehütetes Geheimnis in meiner Familie. Die junge Rachel Simmons war schwanger von ihrem Liebhaber, der sie sitzen ließ, und wurde zu einer Tante verfrachtet, bei der sie ihre Tochter zur Welt brachte. Später verheiratete ihr Vater sie mit dem Captain. Kein anderer Mann in der Umgegend hätte sie nach ihren Eskapaden noch gewollt. Wussten Sie, dass der Captain zwei Männer, die abfällige Bemerkungen über seine Frau gemacht haben, im Duell getötet hat?«
»Der Captain hat auch ihren Liebhaber umgebracht«, sagte Emily.
»Nein«, widersprach David. »Rachel hat ihn ermordet. Sie liebte ihn von ganzem Herzen, die dumme Person, aber er ließ sie im Stich, als er erfuhr, dass sie schwanger war und deswegen möglicherweise enterbt werden würde. Er ging ins Ausland. Jahre später kam er zurück und sah, dass seine ehemalige Geliebte in einem stattlichen Haus lebte und wertvollen Schmuck trug. Er umwarb sie insgeheim von neuem. Der Captain wusste davon, aber er liebte seine Frau so sehr, dass er ihr freie Hand ließ. Der Captain hätte ihren Liebhaber sogar in sein Haus aufgenommen, wenn sie ihn darum gebeten hätte. Aber als Rachel dahinterkam, dass ihr Geliebter nur auf ihre Juwelen aus war, nahm sie eine von Captain Madisons Duellpistolen und schoss dem Schurken mitten ins Herz.«
»Nachdem sie auf die Geschlechtsteile gezielt hatte.«
»O ja, dieses grausige Detail war mir entfallen. Das habe ich offenbar verdrängt.«
»Und der Captain hat alle Schuld auf sich genommen«, sagte Emily verwundert.
»Ja. Er hat seinen getreuen Diener dazu überredet, bei der Gerichtsverhandlung gegen ihn auszusagen. Der Captain wurde anstelle seiner Frau gehängt. Der Diener konnte nicht mit der Schuld leben und brachte sich um, Rachel wurde wahnsinnig.«
»Und Rachels Tochter wurde von einer Familie in Iowa großgezogen«, ergänzte Emily.
»Richtig. Und später heiratete sie und brachte Ihre Großmutter zur Welt.«
»Dem allen entnehme ich, dass der Captain seiner Frau seinen ganzen Besitz vermacht hat, und sie hat alles ihrer Tochter vererbt«, sagte Emily.
»Exakt.« David warf seiner Schwester einen Blick zu. »Ich habe dir gesagt, dass sie ein kluges Mädchen ist.«
»Davon wusste ich nichts. Ich ...«
»Aber Sie haben Nachforschungen angestellt und Ihre Nase in Dinge gesteckt, die Sie nichts angehen. Früher oder später hätten Sie das Geheimnis gelüftet. Schade, dass Sie nicht so begriffsstutzig und schwerfällig sind wie dieser Donald - dann hätten Sie von uns nichts zu befürchten.«
»Wenn ich Ihnen nicht mehr im Weg bin, sind Sie und Ihre Schwester die rechtmäßigen Erben. Gibt es außer den Rubinen noch mehr Vermögen?«
»O ja, sogar ein beträchtliches«, warf Davids Schwester ein.
»Gerüchten zufolge, sind in diesem Haus Schätze versteckt«, sagte Statler. »Seine Frau besaß eine sagenhafte Sammlung von Juwelen. Offenbar haben ihr die funkelnden Steine über den Verlust des Geliebten und des Kindes hinweggeholfen. Außer den Rubinen gab es Smaragde und Diamanten und eine ganze Reihe von Halbedelsteinen. Das alles ist heute mehrere Millionen wert. Doch nach ihrem Tod wurde der Schmuck nirgendwo gefunden. Sie hat ihn nicht verkauft, deshalb glaubt man, dass er sich noch im Haus befindet.«
»Warum ist der Schmuck in den Aufzeichnungen nicht erwähnt?«, wollte Emily wissen. »Im Grunde müssten sich unendlich viele Legenden um ein Haus ranken, in dem sich ein so kostbarer Schatz befindet.«
»Es gibt die Legende, dass ein Gespenst im Haus spukt. Wir haben eine Menge Geld investiert, um Tonbänder und Ähnliches zu installieren und mit den Geräuschen Kinder und Neugierige abzuschrecken«, meldete sich Charles zum ersten Mal zu Wort. »Die Gespenstergeschichten haben jede Erinnerung an den Schatz im Bewusstsein der Leute ausgelöscht.«
»Wieso haben Sie nicht einfach Ansprüche auf das Haus erhoben und einen Stein nach dem anderen umgedreht, bis Sie auf den Schatz stoßen?«, fragte Emily. »Kein Mensch außer Ihnen wusste, dass ich ein Nachkomme von Rachel Simmons bin. Ich jedenfalls hatte keine Ahnung. «
»Richter Henry Agnew Waiden hat das verhindert. Vor fünf Jahren wollten wir das Haus in unseren Besitz bringen, aber der Richter wollte zuerst in Erfahrung bringen, was aus Rachels Tochter geworden war. Er glaubte uns nicht, als wir ihm erklärten, dass sie als Kind gestorben sei.«
»Ich habe dich gewarnt«, sagte Davids Schwester. »Er glaubt dir nie mehr auch nur ein Wort.« Zu Emily gewandt fügte sie hinzu: »Mein lieber Bruder hat nämlich die Tochter des Richters verführt und sitzen gelassen. Der Richter hat also in der eigenen Familie erlebt, wie schwer es vaterlose Kinder haben.«
»Wie wär’s, wenn ich Ihnen das Haus überlasse?«, schlug Emily vor. »Was sollte ich mit einem so alten Kasten und einer Truhe voller Juwelen anfangen? Ich trage ohnehin nur selten Schmuck.«
Die Blicke aller richteten sich auf sie.
»Ich unterschreibe Schenkungsurkunden - was immer Sie wollen. Sie könnten sofort einen Vertrag aufsetzen.«
»Eine großartige Idee. Sie überschreiben uns ein Millionenvermögen, und später gehen Sie vor Gericht, um alles zurückzufordern. Ein schlauer Plan.«
»Ich hätte viel zu viel Angst vor Ihnen, um Ansprüche zu erheben«, beteuerte Emily jämmerlich. So viel zu meiner Tapferkeit, dachte sie bitter.
»Geld ist etwas Eigenartiges. Wenn es um eine genügend hohe Summe geht, werden sogar die größten Feiglinge zu Helden. Glauben Sie mir, kleine Bibliothekarin, ein guter Anwalt würde Ihnen den nötigen Mut machen und den Fall gewinnen. Immerhin sind Sie ein direkter Nachkomme von Rachel.«
»Es reicht!«, rief Davids Schwester. »Wenn das so weitergeht, bittest du sie noch, dich zu heiraten.«
»Keine schlechte Idee«, meinte Slater und starrte lüstern auf Emilys Busen, der mittlerweile fast ganz entblößt war. »Ich schlage vor, wir bringen’s hinter uns und verschwinden. Je früher ihre Leiche gefunden wird, umso eher können wir als nächste noch lebende Verwandte von Rachel das Erbe antreten«, sagte die Frau. »Und das gibst du mir lieber sofort.« Sie riss ihrem Bruder die Rubine aus der Hand.
Michael!, rief Emily im Geiste und bereute bitterlich, dass sie nicht auf ihn gehört und gegen seinen Rat die Femme fatale gespielt hatte.
Im nächsten Moment spürte Emily, wie eine Nadel in ihren Oberarm gerammt wurde, dann verlor sie das Bewusstsein.