Kapitel 1
Die Berge von North Carolina, 1998
Ich bringe ihn um«, murmelte Emily Jane Todd, dann erhob sie die Stimme und sagte lauter: »Ich bringe ihn um, mache ihn kalt, reiße ihm Glied für Glied aus!« Sie schlug mit der Faust auf das Steuerrad, aber noch während der Ärger in ihr brodelte, spürte sie, dass die Erinnerung an die Demütigung dieses Abends alles andere in den Schatten stellte. Doch die Scham und Verlegenheit, die sie empfand, entfachten den Zorn erneut.
»Haben sie mich nur mit dem Preis ausgezeichnet, weil ich Donald heiraten werde?«, fragte sie laut, als sie den Wagen um eine scharfe Kurve manövrierte. Als ein Reifen auf den Kies am Randstreifen geriet, schnappte sie erschrocken nach Luft und ermahnte sich, langsamer zu fahren. Sie nahm den Fuß vom Gas, drückte jedoch gleich wieder zu, fester als zuvor, und nahm die nächste Kurve noch rasanter.
Als sie in der dunklen, mondlosen Nacht zu nahe an einem Baum vorbeizischte, merkte sie, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Dieser Abend hatte ihr so viel bedeutet. Vielleicht war es für Donald nichts, von der National Library Association geehrt zu werden, aber für sie war es das Allerbeste gewesen, was ihr je passiert war. Möglicherweise fand es ein großer Nachrichtensprecher wie Donald lächerlich, wenn sie kostenlos Bücher in die Appalachen lieferte, aber genau das kostete Emily viel Zeit - und sehr viel Geld -, und sie war begeistert gewesen, weil sie dafür anerkannt wurde.
Als die Tränen ihre Sicht verschleierten, wischte sich Emily mit dem Handrücken über die Augen - sicherlich war ihre Wimperntusche verschmiert, aber es war ja niemand da, der es sah. Sie war auf dem Weg zurück zu dem romantischen kleinen Gasthof, in dem jeden Gast Sherry und Dattelplätzchen auf dem Zimmer erwarteten. Die Räume waren mit antiken Kommoden und Schränken eingerichtet, und das Zimmer kostete ein Vermögen. Aber sie würde die Nacht dort allein verbringen!
»Schon als sie mir ein Zimmer mit zwei Betten gegeben haben, hätte ich wissen müssen, dass alles schief laufen wird», brummte sie vor sich hin, dann hörte sie wieder einen Reifen auf dem Kies knirschen. »Das war der Anfang des schlimmsten Wochenendes, und in ...«
Sie verstummte, weil die Bäume auf beiden Straßenseiten nach der nächsten Kurve näher als zuvor zusammengerückt zu sein schienen, und mitten auf der Straße stand ein Mann, der mit der Hand die Augen gegen das Scheinwerferlicht abschirmte. Emily riss das Steuer herum. Mit aller Kraft versuchte sie, den Wagen nach rechts zu lenken, um dem Mann auszuweichen. Lieber hätte sie sich um einen Baumstamm gewickelt, als einen Menschen überfahren, aber mit einem Mal schien der Kerl zwischen ihr und dem Straßenrand zu stehen. Sie schwenkte nach links, zurück auf die Straßenmitte, doch sie war zu schnell, und das Auto reagierte nicht so, wie sie wollte.
Als sie den Mann rammte, wurde ihr schlecht wie nie zuvor in ihrem Leben. Es gab kein Geräusch auf der Welt, das sich mit dem Aufprall eines menschlichen Körpers auf ein Auto vergleichen ließ.
Emily schien es Stunden, nicht nur ein paar Sekunden zu dauern, bis der Wagen zum Stillstand kam, sie ihren Sicherheitsgurt gelöst hatte und aus dem Auto gesprungen war, um loszulaufen. Die Scheinwerfer waren die einzige Lichtquelle in der Finsternis. Ihr Herz klopfte wie wild, und sie sah nicht das Geringste.
»Wo sind Sie?«, brachte sie hervor. Sie war verzweifelt und hatte entsetzliche Angst.
Emily hörte ein Flüstern. »Hier.« Sie stürmte die steile Böschung am Straßenrand hinunter. Ihr langes, beiges Satinkleid verfing sich in den Ästen des Gestrüpps, und ihre hochhackigen Sandalen sanken tief in das verrottete Laub auf dem Boden ein, aber sie ließ sich von nichts aufhalten.
Der Mann war gestürzt - vielleicht hatte ihn der Aufprall einige Meter den Hügel hinuntergeschleudert. Emily brauchte eine Weile, bis sie ihn fand, und dann wäre sie fast über ihn gestolpert. Sie ließ sich neben ihm auf die Knie fallen und tastete ihn ab, weil sie nichts sehen konnte. Die Bäume und Sträucher schirmten das Scheinwerferlicht ab. Sie berührte einen Arm, dann die Brust des Mannes und schließlich seinen Kopf. »Sind Sie in Ordnung? Ist Ihnen nichts passiert?«, fragte sie immer wieder, während sie die Hände über sein Gesicht gleiten ließ. Seine Haut war feucht, aber sie konnte nicht sehen, ob es Blut, Schweiß oder der Tau vom Waldboden war.
Als sie ein Stöhnen vernahm, empfand sie nichts als Erleichterung. Er war nicht tot! Warum hatte sie nicht das Funktelefon gekauft, das ihr Donald aufzuschwatzen versucht hatte? Aber sie hatte nur an sich selbst gedacht und gesagt, dass ein Telefon in ihrem Wagen Donald bei gemeinsamen Fahrten nur dazu verleiten würde, mit Gott und der Welt, aber nicht mit ihr zu reden.
»Können Sie aufstehen?«, fragte sie und strich ihm das Haar aus der Stirn. »Wenn ich Sie hier allein lasse, um Hilfe zu holen, finde ich die Stelle vielleicht nie wieder. Bitte sagen Sie, dass Ihnen nichts passiert ist.«
Der Mann drehte den Kopf. »Emily?«, sagte er leise.
Emily hockte sich auf die Fersen und versuchte, ihn anzusehen. Ihre Augen hatten sich ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt, aber sie konnte sein Gesicht immer noch nicht richtig erkennen. »Wieso kennen Sie meinen Namen?«, fragte sie; dabei ging ihr jede Horrormeldung, die Donalds Sender veröffentlicht hatte, durch den Kopf. War dieser Kerl ein Serienkiller, der eine Verletzung vortäuschte, um Frauen zu überfallen?
Noch ehe sie so recht begriff, was sie tat, machte sie sich bereit, loszurennen und zu ihrem Auto zu flüchten. Hatte sie den Motor laufen lassen? Oder war er abgestorben, als sie so abrupt stehen geblieben war? Konnte sie dem Mann entkommen, wenn er sie packte?
»Ich tue Ihnen nichts«, sagte der Mann, als er versuchte, sich aufzurichten.
Emily war hin- und hergerissen - einerseits wollte sie ihm helfen, andererseits wäre sie am liebsten weggerannt, so schnell sie konnte. Plötzlich packte er ihr Handgelenk, und nahm ihr damit die Entscheidung ab, was sie tun sollte.
»Sind Sie verletzt?«, erkundigte er sich mit heiserer Stimme. »Sie sind sehr schnell gefahren. Sie hätten einen Baum rammen und sich verletzen können.«
Emily blinzelte in der Dunkelheit. Er kannte ihren Namen, und jetzt wusste er auch noch, wie schnell sie gefahren war. Ich muss weg von hier, dachte sie und schielte den Hügel hinauf zu ihrem Wagen. Sie konnte einen winzigen Lichtstrahl zwischen den Bäumen sehen. Wenn das Licht brannte, war nachher die Batterie vielleicht leer, und der Motor sprang nicht mehr an.
Ohne sie loszulassen, versuchte der Mann erneut, sich aufzusetzen. Emily half ihm nicht. Es war etwas Eigenartiges an dem Burschen, und sie hätte am liebsten sofort die Flucht ergriffen.
»Dieser Körper fühlt sich grässlich an«, sagte er, als er sich in eine sitzende Position gebracht hatte.
»Ja, von einem Auto angefahren zu werden, muss wirklich scheußlich sein«, sagte sie. Ihre Stimme wurde immer schriller, je mehr die Angst wuchs.
»Sie haben Angst vor mir«, stellte der Mann ungläubig fest. Es war fast, als erwartete er, dass sie ihn kannte.
»Ich ... nein, ich habe keine Angst...«, begann Emily. Sie dachte, dass sie ihn unter allen Umständen irgendwie beschwichtigen musste.
»Doch - ich fühle es. Sie strahlen Angst aus. Emily, wie konnten Sie ...«
»Woher wissen Sie, wie ich heiße?«, kreischte sie.
Er rieb sich den Kopf, als hätte er große Schmerzen. »Ich habe Ihren Namen schon immer gekannt. Sie sind eine der meinen.«
Jetzt ist es aber genug!, dachte sie, löste sich mit einem Ruck aus seinem Griff und lief los.
Aber sie kam nicht weit. Er holte sie ein, umschlang ihre Taille und zog sie an sieh. »Schsch«, machte er. »Ganz ruhig. Sie können keine Angst vor mir haben, Emily. Wir kennen uns schon so lange.«
Eigenartigerweise beruhigte sie die Berührung und seine Nähe, aber das, was er sagte, brachte sie vollkommen durcheinander.
»Wer sind Sie?-, wollte sie wissen.
»Michael«, erklärte er so, als müsste sie das eigentlich wissen.
»Ich kenne keinen Michael.« Warum versuchte sie nicht, ihm zu entkommen?, fragte sie sich, noch während sie an ihm lehnte. Wer war eigentlich von dem Wagen erfasst worden - sie oder er?
»Sie kennen mich«, sagte er leise, während er mit der Hand ihr Haar glättete. Sie hatte es für die Preisverleihung hochgesteckt, aber die Frisur hatte sich gelöst, und jetzt hingen ihr die Strähnen über die Schultern. »Ich bin Ihr Schutzengel, und wir sind seit tausend Jahren zusammen.« Für einen Moment rührte sich Emily nicht vom Fleck, sie fühlte sich sicher in seinen Armen. Erst nach einer Weile begriff sie, was er gesagt hatte, und spürte, wie das Lachen in ihr aufstieg. Lachen, das war genau das, was sie nach diesem schrecklichen Tag brauchte. Was für sie eine große Ehrung hätte sein sollen, hatte sich in eine entsetzliche Erniedrigung verwandelt und sie dazu gebracht, einen Mann anzufahren.
Einen Mann, der behauptete, ihr Schutzengel zu sein.
»Sie sind ein Engel?«, fragte sie und löste sich aus seiner Umarmung. »Wo sind dann Ihre Flügel?« Sie wusste nicht, ob sie lachen oder entsetzt die Flucht ergreifen sollte.
»Engel haben nicht wirklich Flügel. Das haben die Sterblichen erfunden. Allerdings erscheinen wir euch manchmal mit Flügeln, damit ihr uns erkennt, aber wir haben niemals Flügel, wenn wir in menschliche Körper schlüpfen.«
»Ah, ich verstehe«, erwiderte sie lächelnd und wich ein paar Schritte von dem Verrückten zurück. »Hören Sie, soweit ich sehe, sind Sie nicht verletzt, und ich nehme an, Sie können von hier wegfliegen - das heißt, wenn Sie sich dazu entschließen können, Ihre Flügel anzulegen.« Sie machte sich daran, den Hügel hinauf zu ihrem Wagen zu klettern, was mit dem bodenlangen Kleid und den hochhackigen Schuhen kein leichtes Unterfangen war.
»Also, äh, diese Sterbliche macht sich jetzt davon.«
Er holte sie am Straßenrand wieder ein und umfasste sie erneut.
Das reicht, dachte sie und wirbelte zu ihm herum. »Hören Sie, Mister, wer oder was immer Sie auch sein mögen, nehmen Sie die Hände von mir.« Damit marschierte sie zur Fahrerseite und stieg ein. Sobald sie saß, sah sie ihn im Scheinwerferlicht stehen. Für jemanden, der gerade von einem Auto angefahren wurde, konnte er sich erstaunlich schnell bewegen.
Als sie die Wagentür zuschlug, konnte sie ihn einen Moment lang deutlich sehen. Er war groß und breitschultrig und hatte üppige, schwarze Locken. Seine Wimpern waren so dicht und lang, dass sich Emily fragte, ob er überhaupt etwas sehen konnte. Seine Kleider waren dunkel und schienen fleckig zu sein, doch Emily hatte nicht vor zu bleiben und herauszufinden, was für Flecken das waren. Der Motor lief noch, also waren keine Stunden, wie es Emily erschienen war, sondern nur ein paar Minuten seit dem Unfall vergangen. Sie wollte um den Irren herumfahren, aber in dem Augenblick, in dem sie das Lenkrad umfasste, sank er vor ihren Augen zu Boden und blieb wie tot im Scheinwerferlicht liegen.
Emily sprang leise fluchend aus dem Wagen, half ihm aufzustehen und stützte ihn. »Kommen Sie, ich bringe Sie in ein Krankenhaus.« Sie seufzte matt.
Er lehnte sich an sie. Obwohl er gerade eine steile Böschung heraufgelaufen war, machte er jetzt einen erbärmlich hilflosen Eindruck.
»Ich wusste, dass Sie mich nicht allein zurücklassen können«, sagte er mit einem Lächeln. »Sie hatten immer schon eine Schwäche für verwundete Männer.«
Sie half ihm auf den Beifahrersitz, befestigte den Sicherheitsgurt und setzte sich hinters Steuer, erst dann dachte sie über seine Worte nach. Eine Schwäche? Na klar, der Typ ist ein Schwachkopf, ein Irrer.
Sie fuhr mit einem Verrückten an ihrer Seite in den kleinen Gebirgsort, in dem sie in dem romantischsten Gasthof der Welt ein Zimmer gebucht hatte. Ab heute würde sie jeden auslachen, der ihr weismachen wollte, er hätte schon ein schlimmeres Wochenende erlebt als sie. Ja, dachte sie, sie hatte tatsächlich eine Schwäche für Kranke!
»Ich kann keine Verletzung feststellen«, sagte der junge Arzt zu Emily. »Kein Kratzer, nicht einmal ein blauer Fleck. Sind Sie sicher, dass Sie ihn überhaupt angefahren haben?«
»Ein solches Geräusch vergisst man nie«, entgegnete sie und nahm ihm gegenüber vor dem Schreibtisch Platz. Es war zwei Uhr morgens, ihr neues Kleid hatte Risse, sie war schmutzig und müde und wollte nichts weiter, als sich in einem Bett verkriechen und diesen furchtbaren Tag vergessen.
»Also, entweder Sie beide hatten großes Glück oder ...«
Er brauchte es nicht auszusprechen, sie sah ihm an, dass er dachte, sie beide könnten zu viel getrunken oder irgendetwas geschnupft haben. Was für Drogen nahmen Engel? Gab es nicht ein Zeug, das Engelsstaub hieß? Oder verwechselte sie das mit dem Engelshaar, das man an Christbäume hängte?
»Ist mit Ihnen alles in Ordnung, Miss Todd?« Der junge Arzt musterte sie eingehend.
»Was ist mit seinem Gerede, dass er ein Engel ist und so ...?«, versetzte sie scharf. Sie war hier nicht der Patient.
Der Doktor blinzelte sie erstaunt an, dann starrte er auf sein Klemmbrett mit dem Krankenblatt. »Er heißt Michael Chamberlain, ist fünfunddreißig Jahre alt, geboren in New York, eins fünfundachtzig groß, 75 Kilo schwer, hat schwarzes Haar, braune ...«
»Woher haben Sie diese Informationen?«, fauchte sie, entschuldigte sich aber sofort. »Tut mir Leid, es war eine lange Nacht für mich.«
»Es war für uns alle eine lange Nacht«, erwiderte der Arzt und machte ihr damit klar, dass er normalerweise keine Patienten um zwei Uhr an einem Samstagmorgen behandelte. »Die Informationen stammen aus seinem Führerschein«, beantwortete er ihre Frage. »Dort haben wir alle Angaben gefunden, die wir brauchen. Aber jetzt würde ich wirklich gern nach Hause gehen und noch ein wenig schlafen. Die ersten Patienten kommen schon um acht Uhr in die Klinik. Ich schlage vor, dass Sie Mr. Chamberlain in die Klinik nach Asheville bringen, wenn Sie wünschen, dass er noch einmal untersucht wird. Wenn es Ihnen also nichts ausmacht...«, endete er vielsagend.
Emily zögerte. Am liebsten hätte sie noch einmal beharrlich daraufhingewiesen, dass dieser Mann wenigstens eine leichte Verletzung davongetragen haben musste.
Aber der Arzt zog die Augenbrauen hoch, und das genügte, um sie zum Schweigen zu bringen. Er war der Ansicht, dass sie ihn aus dem Bett geholt hatte, damit er seine Zeit mit einem kerngesunden Mann verschwendete.
Aber Emily wusste, dass sie diesen Chamberlain mit einer solchen Wucht angefahren hatte, dass er zehn Meter weit geschleudert worden war. »Danke«, brachte sie heraus, dann ging sie langsam aus dem Büro in den Warteraum.
Sie hatte damit gerechnet, dass der Verrückte dort saß und auf sie wartete, aber es war keine Spur von ihm zu sehen. Sie atmete erleichtert auf. Wieso konnte man Geisteskrankheiten nicht sehen wie eine Narbe oder ein Muttermal?, überlegte sie. Manchmal muss man einen Menschen jahrelang kennen, bis man merkt, dass er verrückt ist.
Als Emily zur Eingangstür kam, fühlte sie sich bereits ein wenig entspannter. Was ging bloß in ihr vor? Der Mann war von einem Auto angefahren worden! Es war unmöglich vorherzusehen, was ein Mensch sagt oder tut, wenn er gerade zehn Meter weit eine Böschung hinuntergeschleudert wurde. Vielleicht hatte sie ihn falsch verstanden, und er hatte in Wirklichkeit gesagt, dass ihn ein Schutzengel vor Schlimmerem bewahrt hätte. Ja, natürlich, dachte sie lächelnd. An Schutzengel zu glauben war in letzter Zeit groß in Mode. Einen zu haben hieß, dass man persönlich von himmlischen Kräften bewacht wurde. Ein Schutzengel vermittelte einer Person, etwas ganz Besonderes zu sein.
Dieser Gedanke beschäftigte sie so sehr, dass sie den Mann nicht sah, ehe sie im Auto saß und ihren Sicherheitsgurt anlegte.
»Jetzt verstehe ich, warum Sterbliche so viel schlafen«, sagte er und gähnte, dass die Kieferknochen knackten. Emily fuhr erschrocken zusammen. Er saß seelenruhig auf dem Beifahrersitz.
»Was haben Sie in meinem Wagen zu suchen?« Sie schrie beinahe.
»Ich habe auf Sie gewartet«, erklärte er, als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt.
»Wie sind Sie hereingekommen? Das Auto war verschlossen und...« Sie winkte ab, als er den Mund aufmachte und setzte hinzu: »Wenn Sie mir jetzt erzählen, dass Sie ein Engel sind und alle Türen öffnen können, dann ...« Sie war noch nie gut darin gewesen, anderen zu drohen. Statt den Satz zu beenden, öffnete sie die Tür, um auszusteigen. »Emily«, sagte er und hielt sie am Arm zurück.
Sie riss sich los. »Nehmen Sie Ihre Hände von mir!« Sie atmete ein paar Mal tief durch, um sich zu beruhigen. »Hören Sie, ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie wollen, aber ich möchte, dass Sie aus meinem Wagen steigen und dorthin verschwinden, wo Sie hergekommen sind. Es tut mir sehr Leid, dass ich Sie angefahren habe, aber der Arzt sagt, dass Ihnen nichts fehlt, also können Sie nach Hause gehen. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?«
Er gähnte wieder ausgiebig. >>Dies ist nicht Ihre Stadt, oder? Haben Sie eines dieser ... mmm ... wie nennt ihr so was? Einen Ort, an dem Sie die Nacht verbringen.«
»Ein Hotelzimmer?«
»Ja«, bestätigte er und sah sie bewundernd an, als wäre sie ein Genie. »Haben Sie ein Hotelzimmer, in dem wir bleiben können?«
»Wir?«, wiederholte sie. Sie konnte ihre Wut kaum noch im Zaum halten. Sie hatte keine Angst mehr vor ihm, sie wollte ihn nur noch loswerden.
Er legte den Kopf an die Nackenstütze und lächelte. »Ich kann Ihre Gedanken lesen, Emily. Sie denken an Sex. Wieso haben die Sterblichen so oft Sex im Kopf? Wenn sich die Menschen doch nur ein wenig Selbstbeherrschung auferlegen würden ...»
»Raus!«, kreischte sie. »Steigen Sie sofort aus meinem Wagen! Verschwinden Sie aus meinem Leben!«
»Es geht um diesen Mann, stimmt’s?«, fragte er und sah sie an. »Er hat Sie wieder enttäuscht, hab’ ich Recht?«
Im ersten Moment hatte sie keine Ahnung, wovon er überhaupt redete, dann wäre sie um ein Haar explodiert. »Donald? Sie fragen mich nach dem Mann, den ich liebe?«
»Gibt es in diesem Land nicht eine Bezeichnung für so jemanden? Oder war das in Persien? Wie war das noch? O ja, ein Schatz. Er ist Ihr ...«
Emily ballte die Fäuste und fuhr zu ihm herum, als wollte sie ihm einen Boxschlag versetzen. Aber er hielt ihre Handgelenke fest und starrte ihr ein paar Sekunden tief in die Augen. »Sie haben ziemlich schöne Augen, Emily«, sagte er leise. Seine tiefe Stimme machte sie stutzig, dann wand sie sich aus seinem Griff und ließ sich auf dem Fahrersitz zurücksinken.
»Was wollen Sie von mir?«, fragte sie niedergeschlagen.
»Ich weiß nicht«, erwiderte er. »Ich weiß wirklich nicht, warum ich hier bin. Michael sagte mir, dass es ein großes Problem auf der Erde gebe, mit dem Sie zu tun haben, und er fragte mich, ob ich bereit sei, in einen menschlichen Körper zu schlüpfen, um dieses Problem zu lösen.«
»Ich verstehe«, entgegnete Emily matt. »Und wer ist dieser Michael?«
»Der Erzengel Michael natürlich.«
»Klar«, gab Emily zurück. »Dass ich darauf nicht gleich gekommen bin! Und ich nehme an, Gabriel ist Ihr bester Freund.«
»Lieber Himmel, nein! Ich bin nur ein Engel auf der sechsten Ebene. Diese beiden sind ... na ja, es gibt nicht einmal mehr eine Ebene, mit der ihr Status zu beschreiben wäre. Aber wenn Michael einen um etwas bittet, dann tut man es, ohne Fragen zu stellen.«
»Also sind Sie auf die Erde gekommen, um mir zu helfen, etwas zu tun...«
»Oder Ihnen bei einer Sache zu helfen, in die Sie verwickelt sind.«
»Ja, natürlich. Danke, dass Sie das richtig gestellt haben. Und jetzt, da das geklärt ist...«
»Emily, wir sind beide müde. Diese menschlichen Körper sind wirklich schwerfällig und plump ...Wie drücken Sie sich aus? Ich bin katzenmüde.«
»Hundemüde«, korrigierte sie ihn resigniert.
»Ja, das bin ich - hundemüde«, sagte er. »Und ich denke, ich möchte mich ausruhen. Können wir jetzt in Ihr Hotel gehen? Sie haben doch ein Zimmer mit zwei Betten, nicht? Oder haben Sie meine Anweisungen nicht befolgt? Manchmal ist es wirklich schwierig, sich den Sterblichen verständlich zu machen. Ihr Menschen hört nicht sehr gut zu.»
Emily öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder. Vielleicht brauchte sie nur zu schlafen, und wenn sie aufwachte, merkte sie, dass alles nur ein Traum war. Sie steckte den Schlüssel ins Zündschloss und fuhr ohne ein weiteres Wort zu dem Gasthof.