Kapitel 8

Greenbriar lag in einem eigenartigen Talkessel - eine Teetasse, hatte jemand diese Mulde vor langer Zeit einmal genannt, und der Name war geblieben. Leider benutzen die Leute heute den Begriff in nicht allzu freundlicher Art und Weise: »Ich kann es kaum erwarten, aus dieser Teetasse herauszukommen«, sagen sie. Während Emily die kleine Stadt als Ort des Friedens ansah, fanden die meisten anderen das Leben dort langweilig. Greenbriar sei die langweiligste Stadt in Amerika, meinten einige. Sie behaupteten scherzhaft, dass Sheriff Thompsons Revolver im Holster verroste, weil er ihn nie benutzen musste.

Die kleine Stadt war nur über eine stark abschüssige Straße zu erreichen, und auf der anderen Seite führte eine steile Straße wieder hinaus, für die lediglich die hartgesottensten Mountainbike-Fahrer Begeisterung aufbringen konnten. Ansonsten war der Ort von schroffen Bergen umgeben, die man nur mit Steigeisen und starken Sicherungsseilen erklimmen konnte.

In diesem Kessel lag Greenbriar, in dem zweihundertsechzehneinhalb Menschen (Mrs. Shirley war wieder schwanger) lebten, und alle sagten, dass diese Leute nur aus Trägheit blieben: Sie seien schlicht zu faul, um in einen anderen Ort überzusiedeln. Abgesehen von denen, die in den örtlichen Läden beschäftigt waren, fuhren alle zur Arbeit in die Großstadt. Manche machten es wie Donald, blieben die Woche über dort und verbrachten nur das Wochenende in Greenbriar.

Eine der wenigen Attraktionen, die Fremde in den Ort lockten, war die Bibliothek. Im letzten Jahrhundert hatte Andrew Carnegie das winzige Greenbriar besucht und befunden, dass dieser Ort malerisch und wie geschaffen für einen seiner schönen Bibliotheksbauten sei. Und jetzt nannte Emily dieses hübsche Gebäude ihr Eigen, und dort tat sie ihr Bestes, den Staats- und Bundesregierungen mit ihren Bitten um Geld für Bücherkäufe auf die Nerven zu gehen. Sie schrieb Bettelbriefe an Autoren und Verlage und flehte ständig um Sachspenden für ihre kleine Bibliothek. Jedes Jahr besuchte sie den Kongress der Buchhändler und schleppte Massen von Freiexemplaren mit nach Hause, die sie dann ihren Kunden zugänglich machte.

Es war Emilys unermüdlichen Bemühungen zu verdanken, dass es in Greenbriar die am besten ausgestattete Stadtbibliothek des Staates gab. Die Menschen kamen von weit her, um den Geschichtenerzählern oder den Autoren bei ihren Lesungen zuzuhören, sich die Ausstellungen über die Buchdruckerkunst anzusehen oder die Veranstaltungen nicht zu verpassen, die Emily inszenierte, um immer mehr Leute auf ihre Bibliothek aufmerksam zu machen.

Die anderen Bewohner von Greenbriar mochten sich vielleicht wünschen, woanders zu leben, aber Emily nicht. Sie liebte die Stadt und die Menschen hier, als wären sie ihre Familie, und in gewisser Weise waren sie das auch. Ihre Eltern waren gestorben, sie hatte keine Geschwister oder sonstige Verwandte, deshalb waren ihr nur noch Donald und diese kleine Stadt geblieben.

Aber jetzt scheint auch noch der Mann, der neben mir sitzt, zu mir zu gehören, dachte sie und warf einen Seitenblick auf Michael. Er war vollkommen in die Musik vertieft. Die ganze Zeit hatte er am Radio herumgespielt, von einer Station zur anderen gewechselt und Emily mit Fragen über alles, was er hörte, bombardiert. Sie sagte sich, er tue wohl nur so, als hätte er in seinem Leben noch nie Country und Western, eine Oper oder Rock ’n’ Roll gehört.

Als sie in Greenbriar ankamen, war es schon spät und dunkel. Emily war froh darüber; sie wollte nicht, dass jemand den Fremden in ihrem Auto sah. Es war - auch wenn ihn keiner erkannte - besser, wenn ihn niemand zu Gesicht bekam, weil Donald bestimmt kein Verständnis für ihre Handlungsweise aufbringen könnte.

Ihre Wohnung befand sich zum Glück am Ortsrand in einem (zumindest für Greenbriars Verhältnisse) großen Gebäude. Im Erdgeschoss waren ein Lebensmittelladen, ein Postamt und ein Eisenwarengeschäft untergebracht, das obere Stockwerk war in zwei Wohnungen aufgeteilt; eine war ihre, die andere bewohnte Donald.

Kurz nachdem sie sich kennen gelernt hatten, war Donald auf den Gedanken gekommen, sich eine Bleibe außerhalb der Großstadt zu suchen, wo er seine Wochenenden verbringen konnte. Er wusste selbstverständlich, dass es sich in seinem politischen Lebenslauf besser machte, wenn er aus einem kleinen Ort kam - und einen kleineren als Greenbriar gab es kaum. Deshalb hatte er die Wohnung über dem Eisenwarenladen gemietet.

Bald kam er an jedem Wochenende, und er und Emily wurden unzertrennlich - zumindest bei seinen Aufenthalten in Greenbriar. Emily hatte ihn nur einmal in der Großstadt besucht, um zu sehen, wo er arbeitete, sich seine Wohnung mit den Spiegelwänden anzuschauen und die Leute kennen zu lernen, mit denen er beruflich zu tun hatte. Dieses eine Mal hatte ihr gereicht. Sie war sich fehl am Platze und nutzlos vorgekommen zwischen all den groß gewachsenen, dürren Frauen in schwarzen Kostümen mit schultergepolsterten Jacketts und kurzen Röckchen. Sie hatte sich in ihrem braun und weiß gemusterten Kleid gefühlt wie eine Kuhmagd, die in einen Palast geraten war.

Donald und sie hatten nie darüber gesprochen, doch es schien eine stillschweigende Übereinkunft zwischen ihnen zu bestehen, dass sie in Greenbriar bleiben und da sein sollte, wenn er an den Wochenenden nach Hause kam. »Meine Wochenendfrau«, nannte er sie oft. »Nur solange es keine Wochentagsfrau gibt«, gab sie scherzhaft zurück. Er meinte dann, Emily würde ihn an den Wochenenden so sehr beanspruchen, dass er die Woche zum Ausruhen brauchte, und sie lachten.

Jetzt war sie im Begriff, mit einem Mann, der ihr im Grunde vollkommen fremd war, in ihre Wohnung zu gehen, die nur durch einen Flur von Donalds getrennt war. Allerdings hatte sie manchmal, wenn sie ihn ansah, das Gefühl, ihn schon seit Ewigkeiten zu kennen.

Emily fuhr auf den Parkplatz hinter dem Haus und stellte den Wagen im entlegensten, dunkelsten Winkel ab. Es war besser, wenn niemand merkte, dass sie schon zu Hause war. Schließlich sollte sie eigentlich ein langes romantisches Wochenende mit dem Mann, den sie liebte, verbringen. Es war ein langes Wochenende gewesen, aber alles andere als romantisch - es sei denn, man sah Geschosse, Bomben und Kletterpartien aus dem Fenster als romantisch an.

»Ja, das ist es«, sagte Michael beinahe ehrfürchtig. »Ich habe dieses Haus tausend Mal gesehen, wenn Sie hergefahren oder von der Bibliothek nach Hause gegangen sind.«

»Sie waren noch nie hier«, entgegnete sie strenger als beabsichtigt, aber die Situation machte sie nervös. Was hatte sie dazu gebracht, diesen Mann mit hierher zu bringen? Und was sollte sie jetzt, da er hier war, mit ihm anfangen?

»Es ist alles gut«, sagte Michael, als er seine Hand auf ihre legte, und wie immer legte sich Emilys Aufregung.

Sie wandte sich ihm lächelnd zu, dann stieg sie aus dem Wagen.

Trotz seiner Behauptungen war Emily nicht auf Michaels Reaktion vorbereitet, als er ihre Wohnung sah. Er drängte sich förmlich an ihr vorbei durch die Tür, fand blind den Schalter der Tischlampe und wanderte mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen umher.

»Ja, ja«, rief er, »es ist alles da. Es hat sich kein bisschen verändert. Da ist der Schreibtisch, an dem Sie gesessen und Briefe an Ihre Mutter geschrieben haben. Emily, es hat mir Leid getan, dass ihr Tod Ihnen so viel Kummer und Leid verursacht hat, aber sie wartet auf Sie, und Sie werden sie Wiedersehen, wenn die Zeit gekommen ist. Ah, und dies ist der Tisch, den Sie ersteigert haben. Sie waren so glücklich, dass Sie den Mann überbieten konnten und den Zuschlag bekommen haben. Und da sind Ihre eigenen Bücher. Ich sehe Sie ...«

Er drehte sich um. »Wo ist das lange Ding, auf dem Sie liegen, wenn Sie lesen?«

Emily kniff grimmig die Lippen zusammen, dann sagte sie: »Ich habe die Chaiselongue in Donalds Wohnung gestellt. Hören Sie, es gefällt mir nicht, dass Sie mich ausspioniert haben. Ich denke ...«

»Ausspioniert? Emily, nichts liegt mir ferner. Ich passe auf Sie auf, und wie könnte ich das tun, wenn ich nicht über Sie wachte? Oh, dies!« Er nahm einen gläsernen Briefbeschwerer in die Hand. »Ich weiß noch, wie Sie ihn gekauft haben. Sie waren dreizehn und dachten ...«

»Ich war zwölf«, unterbrach sie ihn scharf und nahm ihm den Briefbeschwerer aus der Hand, um ihn wieder auf den Tisch zu legen.

Er schien ihren wachsenden Ärger gar nicht zu bemerken und ging ins Schlafzimmer. Emily blieb einen Moment wie angewurzelt stehen - sie wusste nicht, ob sie einen Tobsuchtsanfall bekommen oder sich nur wundern sollte. Als sie hörte, dass er eine Schublade aufzog, fiel die Entscheidung. Sie stemmte die Hände in die Hüften und marschierte in ihr Schlafzimmer. Michael inspizierte ihren begehbaren Schrank und strich mit den Händen über ihre Kleider. »Raus hier«, fauchte sie und knallte die Tür so heftig zu, dass sie ihm fast die Finger eingeklemmt hätte.

Michael war gänzlich unbeeindruckt. »Sie sollten dieses rote Kleid tragen, Emily. Es sieht toll aus an Ihnen. Ich war derjenige, der Sie dazu verleitet hat, es zu kaufen.«

»Schnüffeln Sie bei all ihren Schützlingen so herum?«, fragte sie und verbesserte sich sofort. »Nicht, dass Sie überhaupt Schützlinge haben, aber...« Es war nicht leicht, zornig zu sein, wenn man jede Bemerkung näher ausführen oder beinahe widerrufen musste.

Michael blieb unvermittelt stehen und schaute auf ihr Bett nieder. Er berührte kurz die weiße Überdecke, die sie Vor Jahren in einem Laden in den Bergen gekauft hatte. »Emily, ich fühle mich seltsam. Sehr eigenartig. Ich fühle ...«

Als er sich ihr zuwandte, war die Glut in seinen Augen nicht zu übersehen.

Sie wich instinktiv zurück. »Ich denke, Sie sollten jetzt besser gehen. Oder ich gehe. Oder ...«

Er wandte sich ab. »So ist das also«, murmelte er leise. »Jetzt verstehe ich euch Sterbliche ein bisschen besser.«

Es war offensichtlich, worauf er anspielte. »Ich glaube wirklich, Sie sollten nicht hier bleiben.«

Sein Kopf fuhr hoch, und sein Blick war durchdringend. »Emily. Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben - niemals. Ich verspreche es.«

Die Leidenschaft hatte sein Gesicht von einem Augenblick auf den anderen gezeichnet, und sein Ausdruck wechselte ebenso rasch wieder zu einem distanzierten, aber freundlichen Lächeln. »Und jetzt sollten wir uns ein bisschen ausruhen. Eure Körper sind ja so schwach. Sie brauchen ständig Nahrung oder Schlaf.«

»Wo werden Sie schlafen?«, fragte Emily nervös.

»Nicht dort, wo ich gern würde«, erwiderte er. Sein Grinsen war so großspurig, dass sie lachen musste. Das Lachen machte sie lockerer.

»Hören Sie auf, mit mir zu flirten. Ich ziehe das Sofa im Wohnzimmer aus, dort können Sie übernachten. Und morgen früh sehen wir uns das Madison-Haus an. Danach können Sie Greenbriar verlassen.«

»Emily, ich gehe, wann immer Sie es wünschen. Ich wollte mich Ihnen nie aufdrängen.«

»Schluss damit«, schrie sie beinahe. »Wenn Sie nicht aufhören, sich wie ein Heiliger aufzurühren, werde ich ...«

»Ich bin kein Heiliger, Emily.« Seine Augen funkelten. »Ich bin ein ...« Er brach ab und grinste. »Ich bin ein sehr müder Mann. Macht ihr Sterblichen nicht irgendetwas mit einer Couch, bevor ihr darauf schlaft?«

Als Emily ein Laken und einen Deckenbezug holte, fragte sie sich erneut, was, zum Teufel, sie eigentlich machte.

Sie wachte auf, weil eine Hand ihren Kopf berührte, und instinktiv schmiegte sie sich an diese Hand. Sie öffnete ihre Augen einen kleinen Spalt und sah einen hübschen, dunkelhaarigen Mann mit riesigen Flügeln. »Michael«, flüsterte sie und lächelte, als sie seinen Kuss neben ihren Lippen spürte. »Heißen alle Engel Michael?«, murmelte sie verschlafen.

Sie brauchte einen Moment, um wach zu werden, aber dann richtete sie sich abrupt auf und stieß sich ihren Kopf an seinem, als er sich aufs Bett setzte.

»Was bilden Sie sich ein? Was tun Sie hier?«, fauchte sie ihn an.

»Ich bin hergekommen, um Sie zu wecken, und als ich Sie daliegen sah - Sie sehen wunderschön aus im Schlaf...« Seine Augen waren weit aufgerissen. »Emily, ich glaube, ich habe gerade einer Versuchung nachgegeben.«

Er war so schockiert, dass sie ein Lachen nicht unterdrücken konnte. Es war noch zu früh am Morgen, um ärgerlich zu sein. »Gab es nicht schon einmal einen Engel, der das getan hat? Und hat man ihn nicht aus dem Sie-wissen-schon verjagt?«

»Emily, darüber macht man keine Witze. Es ist mir verboten, Versuchungen nachzugeben. Ich ... ich könnte Schwierigkeiten bekommen.«

Emily freute sich diebisch über seine entsetzte Miene und die angstvollen Worte. Welche Frau träumte nicht davon, so verführerisch zu sein, dass sie einen gut aussehenden Mann zu einer Sünde verleiten konnte? »Oh, gut.« Sie setzte sich auf und streckte sich - sie wusste, dass sich ihr Nachthemd bei dieser Bewegung eng an ihre Brüste schmiegte.

Michael zog eine Augenbraue hoch. »Ich glaube, Ihnen ist ein böser Dämon hierher gefolgt, und er hat gerade Besitz von Ihrer Seele ergriffen. Sind Sie nicht eine verheiratete Frau?«

»Eine verlobte«, verbesserte sie ihn hastig. »Das ist alles.«

Als sie merkte, dass er sie beinahe so weit gebracht hatte, Donald zu verleugnen, warf sie mit dem Kissen nach ihm. »Raus hier! Ich muss duschen und mich anziehen.«

Sein Gesicht blieb ernst. »Es ist nicht nötig, mich aus dem Zimmer zu werfen, da ich Sie schon oft unter der Dusche gesehen habe. Am besten gefällt mir, wenn Sie Ihre Beine mit Lotion einreiben. Und was ist das für ein kleines rosafarbenes Ding, mit dem Sie ihr rundes, kleines ...»

»Raus! Verschwinden Sie, bevor ich Sie bei der Polizei anzeige, weil Sie ein Spanner sind.«

Michael blieb an der Tür stehen. »Ich hatte mal einen Spanner als Schützling. Soll ich Ihnen von ihm erzählen, während Sie unter der Dusche sind?« Er konnte gerade noch die Tür hinter sich zuziehen, ehe das nächste Kissen auf ihn zuflog. Sie hörte ihn noch lachen, als er längst auf dem Weg in die Küche war.

Unter der Dusche machte sie sich ernsthaft Gedanken darüber, was sie mit diesem Mann tun sollte. Wenn sie auf die letzten Tage zurückblickte, erschien es ihr, als hätte sie sich bemüht, ihn loszuwerden. Oder nicht? Aber jedes Mal, wenn sie versuchte wegzukommen, hielt sie irgendeine Kraft zurück.

Ich sollte Donald anrufen und ihn fragen, was ich tun soll, überlegte sie, aber sie konnte sich seinen Zorn nur zu gut vorstellen. »Du hast einen der zehn meistgesuchten Verbrecher in deiner Wohnung aufgenommen, Emily? Das FBI fahndet überall nach diesem Mann, und du willst mit ihm in ein Spukhaus gehen? Wie bitte? Du sagst, er ist ein Engel und beschützt dich seit Jahrhunderten? Oh, wenn das so ist, verstehe ich natürlich alles.«

Nein, Donald würde keinerlei Verständnis aufbringen. Und das zu Recht, oder?

Aber was sollte sie mit diesem Mann machen? Ihn auf die Straße schicken und darauf warten, dass ihn jemand der Polizei meldete? Bestimmt war eine hohe Belohnung auf ihn ausgesetzt, die jeder gern einheimsen würde. Aber sie konnte sich ja nicht gut weiterhin morgens von seinen Küssen wecken lassen.

Sie hatte die Stimme ihrer Mutter im Ohr: »Emily, triff ausnahmsweise einmal eine Entscheidung mit dem Kopf, nicht mit dem Herzen.« Einen umherirrenden Mann bei sich aufzunehmen war sicherlich eine Entscheidung, die sie nur mit dem Herzen getroffen hatte.

Andererseits wollte sie alles, was sie konnte, über das Madison-Haus herausfinden. Spukte es dort tatsächlich, oder bildeten sich das die Leute nur ein? Und wenn es spukte, wessen Geist fand keine Ruhe? Und was war aus dem Leichnam von Captain Madison geworden, der wegen Mordes hingerichtet worden war?

Sie drehte die Dusche ab, trat aus der Kabine und nahm ein Handtuch. Woher sollte ein vom FBI gesuchter Mann wissen, ob es Gespenster in einem Haus gab oder nicht?, dachte sie gereizt. Nur wenn sie ihm abnahm, dass er ein Engel war, konnte sie glauben ...

Sie frottierte sich das Haar und griff nach dem Fön. Michael Chamberlain war kein Engel. Er hatte lediglich hellseherische Fähigkeiten und war sehr geschickt, wenn es galt, den Leuten etwas einzureden.

Trotzdem dachte sie, als sie Lipgloss auflegte, daran, dass es gut wäre, in Begleitung und nicht allein ins Madison-Haus zu gehen. Donald hatte sie nur ausgelacht, als sie ihm einen entsprechenden Vorschlag gemacht hatte, und ihre Freundinnen hatten sich schlichtweg geweigert. Daran war sie selbst schuld, weil sie erzählt hatte, was bei ihrem ersten Besuch vorgefallen war.

Sie nahm sich vor, mit Michael zu dem Haus zu gehen und sich dann etwas auszudenken, wie sie ihn wegschicken konnte - heute Abend. Sie konnte sagen, dass sie ihre Ruhe brauchte, weil sie morgen wieder arbeiten musste, und dass er ohnehin nicht tagsüber allein in ihrer Wohnung bleiben konnte.

Sie fühlte sich besser, weil sie endlich zu einem vernünftigen Entschluss gekommen war, und ging be-schwingt ins Schlafzimmer, um eine Jeans und einen leichten Pullover aus dem Schrank zu holen. Ganz normale Sachen, dachte sie. Nur, der Pullover war bei der Wäsche eingegangen und ein kleines bisschen zu eng, und die Jeans hatte einen Riss an der Kehrseite. Vorjahren war sie an einem Nagel hängen geblieben, und seither lag die Jeans in der hintersten Ecke des Schranks. Donald mochte es nicht, wenn sie Jeans trug, und schon gar keine mit einem sieben Zentimeter langen Riss am Po. Sie war unsicher in diesem Aufzug und überlegte, ob sie nicht doch etwas anderes, was ihrem Alter mehr entsprach, anziehen sollte, als sie die Tür öffnete. Sie blieb wie angewurzelt stehen. Ihre schöne, saubere Küche sah aus, als wäre der Kühlschrank explodiert. Überall lag etwas herum, Dosen waren halb geöffnet, der Eierkarton war umgefallen, das Eigelb floss auf den Boden. Auf einer Herdplatte stand eine rauchende Pfanne mit verkohltem Inhalt. In dem Moment, in dem Emily das Chaos bemerkte, ging der Rauchalarm los.

»Es sieht so einfach aus, wenn Sie das machen», schrie Michael, der mitten in dem Durcheinander stand und sie verblüfft ansah. »Kommt jetzt die Polizei?«

Emily lief zur Besenkammer, schnappte sich einen Besen und schaltete damit den Alarm aus.

»Emily, Sie sind so hübsch, wenn Sie wütend sind«, sagte Michael, der auf dem Beifahrersitz saß.

»Das ist die älteste Anmache der Welt«, gab sie zurück. »Und Sie werden die Küche wieder sauber machen.«

»Sehr gern.« Er grinste. »Vielleicht bringen Sie mir das Kochen bei.«

»So lange werden Sie nicht mehr hier sein. Genau genommen müssen Sie heute Abend schon weg.«

»Ja, natürlich. Vielleicht nehme ich ein Flugzeug. Es ist vielleicht ganz hübsch, in einem dieser Dinger zu fliegen.«

»Wohin möchten Sie gehen?«, erkundigte sie sich, ohne vorher nachzudenken.

Er betrachtete sie mit blitzenden Augen. »Ich weiß nicht. Wohin würden Sie wollen?«

Sie öffnete den Mund, um »Paris« zu sagen, warf aber gerade noch rechtzeitig einen kurzen Blick auf ihn. »Donald und ich wollen in den Rockies campen.«

»Wirklich? Das ist interessant. Ich hätte eigentlich gedacht, Sie sind eher der Museumstyp. Ich sehe Sie in Rom, nein, warten Sie - in Paris.«

Emily enthielt sich jeden Kommentars und sah starr auf die Straße. »Da ist es«, sagte sie und deutete mit dem Kinn auf das alte Haus auf dem Hügel.

Das 1830 erbaute Gebäude war riesig und verschachtelt, und Emily dachte oft, dass die Leute nur behaupteten, es würde dort spuken, weil es seit vielen Jahren vernachlässigt und dem Verfall überlassen wurde. Beinahe alle Fensterscheiben waren zerbrochen, und das Dach hatte hier und dort Löcher. Die Stadt war Eigentümerin des Hauses, konnte sich aber den Unterhalt nicht leisten und machte sich daher auch nicht die Mühe, wenigstens das Notwendigste reparieren zu lassen.

»Hübsches Haus«, sagte Michael. »Aber Sie haben immer schon große Häuser gemocht, nicht wahr? Hab’ ich Ihnen schon von der Zeit erzählt, als Sie eine der Zofen dieser Königin waren?«

Sie hatte nicht vor, sich diesen Unsinn anzuhören oder ihn gar zu glauben.

»Es war die mit den roten Haaren und dem großen ...« Er fuhr sich rund um den Hals.

»Halskrause?«

»Spitzen. Oh, sie liebte Perlen. Und Sie liebten sie. Sie war sehr gut zu den Frauen, die in ihren Diensten standen - das heißt, solange sie nicht gegen ihren Willen heirateten. Sie dachte, wenn sie selbst mit dem Land verheiratet war, sollten alle anderen Ladys ihrem Beispiel folgen.“

»Elizabeth«, sagte Emily leise, als sie vor dem Haus stehen blieb. »Sie sprechen von Queen Elizabeth I., oder?“

»Wahrscheinlich. Es ist schwierig, die Eine von der Anderen zu unterscheiden. Ich erinnere mich, dass Sie die Häuser mochten, in denen sie lebte.«

Als sie den Zündschlüssel aus dem Schloss zog, sah sie, dass Michaels Augen funkelten. Er wusste also, wie sehr sie sich für all das, was er sagte, interessierte. Es war natürlich nicht möglich ... oder hatte er tatsächlich den Hof von Elizabeth I. gesehen? Wenn ja, dann könnte er vielleicht ein paar Fragen beantworten, die die Historiker seit Jahrhunderten quälten.

»Sie versuchen wieder, mich vom Eigentlichen abzulenken«, beschwerte sie sich.

»Nein, Emily, ich bin nur...« Er beendete den Satz nicht. Sie fragte sich, was er sagen wollte, und wartete, aber er schwieg.

Emily stieg aus dem Wagen und schaute zum Haus. Überall standen Schilder mit der Aufschrift »Betreten verboten«, und die kaputten Fenster im Erdgeschoss waren mit Brettern vernagelt, aber das alles hielt sie nicht zurück.

Als Michael neben sie trat, bemühte sie sich, sich so geschäftsmäßig wie möglich zu geben. »Ich möchte, dass Sie durch das Haus gehen und Ihre ... Ihre Fähigkeiten nutzen. Erzählen Sie mir, was Sie fühlen. In diesem Haus sind furchtbare Dinge geschehen, und ich glaube, da drin gibt es starke Schwingungen. Ich hoffe, Sie spüren sie deutlich genug, um mir zu sagen, was das ist.«

»Ich verstehe«, erwiderte er ebenso ernst. »Ist es mir gestattet, mit diesen Schwingungen zu sprechen

Er machte sich lustig über sie, das war ihr klar. »Sie können mit ihnen fortlaufen, dann könnt ihr meinetwegen bis ans Ende aller Tage glücklich zusammen leben«, erklärte sie liebenswürdig.

Michael kicherte und ging voran zum Eingang. Emily wäre beinahe auf eine vermoderte Holzdiele getreten, aber Michael fasste nach ihrem Arm und zog sie von der gefährlichen Stelle weg.

Emily holte einen großen Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn in das rostige Türschloss. »Ich weiß nicht, wieso man sich überhaupt die Mühe macht abzuschließen. Hier geht sowieso niemand hinein. Nur die Kinder kommen nah genug heran, um Steine durch die Fenster zu werfen, aber sonst wagt sich kein Mensch hierher.«

»Angst vor Gespenstern, wie?«, sagte Michael. Er schien sich über die Menschen, ihre Schwächen und die Furcht vor dem, was sie nicht sehen konnten, zu amüsieren.

»Wir sind nicht alle so aufgeklärt wie Sie.« Sie drückte mit der Schulter gegen die Tür. »Wir haben nicht Ihre Wahrnehmungskraft, aber das ist noch lange kein Grund...« Sie stieß zum dritten Mal zu, aber diesmal streckte Michael die Hand aus und legte sie über ihrem Kopf an die Tür - sie schwang leicht und geräuschlos auf.

Unglücklicherweise hatte sich Emily bereitgemacht, mit Wucht zu schieben, und als der Widerstand plötzlich wich, geriet sie ins Taumeln und wäre beinahe der Länge nach in der Eingangshalle hingeschlagen, wenn Michael sie nicht abgefangen hätte. »Sie hätten mich warnen können«, brummte sie, als sie sich den Staub vom Pullover klopfte, der mit der Wand in Berührung gekommen war. »Und warum haben Sie tatenlos zugesehen, wie ich mir beinahe den Arm zerquetscht habe, ehe Sie mit Ihrem kleinen Zauberkunststück die Tür geöffnet haben?«

Sie sah zu Michael auf und war überrascht von seinem Ausdruck. Echte Angst zeichnete sein Gesicht, während er sich langsam in der großen Eingangshalle umsah.

»Emily«, sagte er leise, »hören Sie mir ganz genau zu. Ich möchte, dass Sie dieses Haus verlassen, und zwar sofort

»Was ist los?«, fragte sie, ohne den Blick von ihm zu wenden. Michael standen buchstäblich die Haare zu Berge.

»Stellen Sie keine Fragen, gehen Sie einfach.«

»Nicht, bevor ich nicht weiß, was vor sich geht«, gab sie entschlossen zurück und stemmte die Hände in die Hüften. Immerhin war es ihr Spukhaus.

»Dieser Geist ist sehr erdverbunden, deshalb hat er physische Kräfte. Er hat vor, diesen Körper zu töten.« Michael schob Emily zur Tür.

Sie brauchte einen Augenblick, bis sie die Bedeutung seiner Worte verstand. »Heißt das, er will Sie töten?«

Er machte sich nicht die Mühe, ihr zu antworten, sondern drängte sie durch die Tür ins Freie. »Nur Gott kann einen Geist vernichten. Körper sind ...»

Mehr bekam sie nicht mit, weil die Tür, die sich normalerweise so schwer öffnen und schließen ließ, ins Schloss fiel.

Emily versuchte, sie wieder aufzudrücken, aber sie war verschlossen. Sie probierte es mit dem Schlüssel, doch der passte nicht mehr ins Schloss. »Michael!“, schrie sie und hämmerte an die Tür. »Lassen Sie mich sofort rein!« Keine Reaktion. Sie hörte nicht den geringsten Laut. Sie lief zu einem Fenster, um durch einen Spalt zwischen den Brettern zu spähen, aber sie sah nicht einmal einen Schatten.

In diesem Moment vernahm sie Geräusche. Ihr stockte der Atem, als sie hörte, wie anscheinend etwas durch die Luft flog und mit einem dumpfen Knall auf dem Holzboden aufschlug. Sie überlegte fieberhaft, was sie tun sollte. Den Sheriff alarmieren - und ihm sagen, dass ein Gespenst einen Engel angriff und dass er schnell kommen und etwas unternehmen musste? Was zum Beispiel?, dachte sie. Und wenn der Sheriff Michael sah, würde er nicht augenblicklich das FBI einschalten?

Emily ging zurück zur Tür, um mit Fäusten darauf einzuschlagen, doch schon nach dem ersten Pochen ging sie auf. Mit wild klopfendem Herzen wagte sich Emily in die düstere Halle.

Niemand war zu sehen, und das ganze Haus war mucksmäuschenstill. Sie sah sich vorsichtig um und hätte beinahe einen Schrei ausgestoßen, als sie an die Säbel stieß, die in den Bodendielen steckten. Die Klingenspitzen waren etwa fünf Zentimeter in das Holz eingedrungen. Die Griffe schwangen leicht hin und her.

Emily streckte die Hand aus und berührte einen der Säbel. Der Mann, der seinerzeit wegen Mordes gehängt worden war, hatte als Captain in der US-Kavallerie gedient.

Emily kreischte in Panik: »Michael!«, und rannte die Treppe hinauf.

Ohne nachzudenken, wer oder was diese Säbel durch die Luft geschleudert haben mochte, stürmte Emily durchs Haus und riss die Türen zu den Zimmern und Kammern auf. Vor Jahren hatte sie eine Kopie der Baupläne von dem noch immer existierenden Architekturbüro erworben, das seinerzeit das Haus entworfen hatte. Sie hatte die Pläne studiert, bis sie sich blind in dem Gebäude zurechtgefunden hätte.

»Michael, wo sind Sie?«, schrie sie. Ihre Stimme hallte durch die leeren Räume, und mit einem Mal fühlte sie sich nicht mehr so allein und fürchtete sich kaum mehr vor dem, was sie um sich herum spürte.

Erst als sie im zweiten Stockwerk, der obersten Etage des Hauses, ankam, wurde ihr bewusst, dass sie einer Hysterie nahe war. Hatte sich Michael so plötzlich aus dem Staub gemacht, wie er in ihr Leben getreten war?

Als eine starke Hand aus dem Nichts kam und sich fest auf ihren Mund legte, während sich ein Arm um ihre Taille schlang, trat Emily um sich und wehrte sich mit aller Macht.

»Au!«, flüsterte Michael ihr ins Ohr. »Hören Sie auf damit. Ihre Schuhe sind hart - das tut weh!«

Sie biss ihm in die Hand, und als er sie losließ, wirbelte sie wütend zu ihm herum. »Wo sind Sie gewesen?«, wollte sie wissen. »Ich habe Sie im ganzen Haus gesucht. Sie hätten mir antworten können und ...«

Michael fasste sie an der Hand, lief los und zerrte sie hinter sich her. »Kommt man noch weiter hinauf - gibt es ein ...? Ich kenne das Wort dafür nicht.«

»Dachboden. Ja, dort. In diesem Raum befindet sich ein Schrank mit einer versteckten Treppe. Captain Madison tat sehr geheimnisvoll, wenn es um den Dachboden ging.«

»Erwähnen Sie nie mehr seinen Namen«, versetzte Michael grimmig und rannte, mit ihr im Schlepptau, in das Zimmer. Er riss eine halb von der Holzvertäfelung verborgene Tür auf. »Stimmt es, dass dort ein Ausgang ist? Ich fühle, dass dies hier kein abgeschlossener Raum sein kann.«

»Ja. Der Captain hatte einen Geheimgang, aber ich weiß nicht, ob der nach all den Jahren nicht baufällig ist. Das Haus verrottet allmählich.«

»Der Geist und Verstand dieses Mannes ist verrottet«, gab Michael verhalten zurück, als sie die Treppe zum Dachboden hinaufstiegen.

»Lieber Himmel«, sagte Emily und sah sich um. Hier oben war sie noch nie gewesen. Überall standen Truhen, alte Schränke und andere Dinge, die sie sich sehr gern genauer angeschaut hätte.

»Daran dürfen Sie nicht einmal denken«, sagte Michael und ergriff wieder ihre Hand. »Wo ist der Ausgang? Wir müssen weg von hier.«

Emily musste sich konzentrieren, aber es fiel ihr sehr schwer. An einer Wand stand eine Glasvitrine mit alten Büchern. Was waren das für Schätze? Seltene Exemplare? Von den Autoren signierte Erstausgaben? Vielleicht sogar Originalhandschriften von klassischen Romanen? Oder ... »Emily!«, rief Michael scharf. »Wo ist der Ausgang?«

Sie zwinkerte ein paar Mal, um in die Wirklichkeit zurückzufinden. »Da, glaube ich - unter den Dachtraufen. Aber der Geheimgang ist ganz bestimmt gefährlich. Vielleicht sollten wir...» Sie schielte wieder sehnsüchtig zu den Büchern hin.

»Was? Hier bleiben und aufgespießt werden?«

Sie blieb im Hintergrund, während Michael die Wand abtastete, um die Tür oder einen Riegel zu finden. »Da ist es«, sagte er und drückte die Luke einfach mit der Hand auf, weil er keine Klinke finden konnte. Als er sich nach Emily umschaute, stand sie vor der Glasvitrine, ihre Hand nach dem Schloss ausgestreckt.

Michael packte sie, schob sie zu der kleinen Öffnung und drückte sie auf die Knie. »Ich gehe voran. Falls Sie zurückgehen, um sich irgendwelche materiellen Güter anzusehen, dann werde ich dafür sorgen, dass es Ihnen Leid tut«, drohte er und verschwand in dem dunklen Loch.

»Alice im Kaninchenbau«, sagte sie, dann holte sie tief Luft und kroch Michael nach.

In ihrer Nähe waren Geräusche zu hören. Emily wusste nicht, ob das das Ächzen und Knacken des alten Hauses war, oder Dinge, über die sie lieber nicht genauer nachdenken wollte.

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zu erzählen, was hier vor sich geht? Ich dachte, Sie wären ein Freund der Geister. Können Sie nicht einfach mit diesem Mann reden?«

»Tasten Sie sich mit der Hand hier entlang«, sagte er, fasste nach ihr und führte sie. Emily sah nichts, nicht einmal Michael, der direkt vor ihr war, aber er schien Licht und Dunkelheit unterscheiden zu können. »Gut so, jetzt kommen Sie. Langsam. Ja, so ist es richtig. Wir sind bald hier draußen.«

»Würden Sie mir bitte antworten?«, drängte sie ungeduldig. Sie konnte diese Stille in der Finsternis nicht ertragen; sie wollte die Gewissheit, dass er bei ihr war.

»Der Geist in dem Haus will diesen Körper töten, damit mein Geist dorthin zurückkehrt, wohin er gehört. Ich ziehe es allerdings vor, nicht zu sterben, bis ich herausgefunden habe, weshalb ich überhaupt hierher geschickt wurde.«

»Verstehe.« Seine Erklärung jagte ihr noch mehr Angst ein, deshalb versuchte sie, ihre Furcht durch Wut zu ersetzen.

»Sie sind ein Ärgernis«, fauchte sie. »Warum haben Sie keine Angst?«

»Angst wovor?«

»Vor dem Tod. Jeder fürchtet sich vor dem Tod.«

»Geben Sie Acht hier! Die Diele ist morsch. Gut. Sie machen das sehr gut, Emily. Die Menschen haben Angst vor dem Tod, weil sie nicht wissen, was danach kommt. Ich weiß es. Und es ist was ziemlich Gutes.«

»Jemand versucht Sie umzubringen, und Sie ergehen sich in spiritueller Philosophie?«, gab sie zurück.

»Kennen Sie einen besseren Zeitpunkt als diesen für ein Gebet?« Belustigung schwang in seinem Ton mit.

»Eigentlich nicht.« Sie spürte, wie die Angst die Überhand gewann. Sie hasste diesen Dachboden, dieses Herumkriechen und ...

»Adrian, wo bist du?«, fragte Michael laut, als ob er sie von ihren Gedanken ablenken wollte.

»Wer ist Adrian?«

»Mein Boss.«

»Ich dachte, Erzengel Michael ist Ihr Boss.« Eine Spinnwebe streifte ihr Gesicht, und Emily fuchtelte hysterisch durch die Luft. Michael drehte sich zu ihr um und streifte ihr sanft das klebrige Gespinst von der Wange.

»Nein«, sagte er leise, ohne die Hand von ihrem Gesicht zu nehmen. Emily spürte, wie ihre Ängste schwanden. »Erzengel Michael steht ungefähr zweihundert Ebenen über Adrian, und ich stehe zehn Ebenen unter Adrian.«

»Oh, ich verstehe«, meinte sie, aber im Grunde verstand sie gar nichts. Als sich Michael wieder umdrehte und weiterkroch, war sie wesentlich ruhiger, aber die Stille konnte sie immer noch nicht ertragen. »Was Sie da beschreiben, klingt eher wie die Hierarchie in einer Kapitalgesellschaft, nicht wie die Himmelsordnung.« Ehe er etwas erwidern konnte, fügte sie hinzu: »Und wagen Sie es bloß nicht, mir jetzt zu erzählen, dass Kapitalgesellschaftshierarchien auf der Himmelsordnung basieren. Das würde ich nicht glauben. Sie haben einen anderen Ursprung.«

»Die grundlegende Struktur ist dieselbe. Der Satan klaut Ideen.«

»Was für eine Überraschung«, versetzte sie sarkastisch.

Er kicherte. »Emily, ich werde Sie vermissen.«

»Glauben Sie, die Person, die Sie wegbringt, ist tot oder lebendig?«, flüsterte sie.

Michael kroch lachend durch eine Öffnung, und plötzlich sah sie trübes Licht. Er streckte die Hand aus und fasste nach ihrer. Wenigstens konnte sie hier aufrecht stehen und musste nicht mehr auf den Knien herumrutschen. Und entweder hatte das Dämmerlicht oder Michaels Berührung ihre Angst vertrieben.

»Er ist hier«, sagte Michael und atmete erleichtert auf.

»Wer?«, fragte sie im Flüsterton. Wenn sie die Baupläne des Hauses richtig in Erinnerung hatte, dann befanden sie sich jetzt im Erdgeschoss in einem geheimen Raum neben Captain Madisons Arbeitszimmer. Der Raum war kleiner als ein moderner begehbarer Schrank, und die Tür im Arbeitszimmer war so getarnt, dass sie niemandem auffiel.

»Adrian ist hier«, sagte Michael lächelnd. »Er hat keinen Körper, den dieser irdische Geist bedrohen könnte, deshalb braucht er keine Angst zu haben. Adrian wird den Mann beruhigen, und Sie sind in Sicherheit.«

Sie wollte gar nicht daran denken, wie wenig Wert Michael auf sein Leben legte, während er ständig an ihres zu denken schien. »Haben Sie versucht, die Tür zu öffnen?«, erkundigte sie sich und streckte die Hand danach aus.

Doch er hielt ihre Hand fest. »Noch nicht. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt«, sagte er ruhig.

Er klang eigenartig, aber Emily wollte lieber nicht darauf eingehen. Es war besser, Scherze zu machen, so konnte sie wenigstens ihre Angst unter Kontrolle halten. »Großartig, ich sitze in einer Kammer fest, zusammen mit einem Engel, der in den Körper eines Mörders geschlüpft ist, und andere Engel versuchen da draußen ein wütendes Gespenst zu beschwichtigen. So ist es doch?«

»Sie waren immer ein kluges Kind, Emily. Klug und schön. Emily ...«

Seine Stimme war so ernst, dass sie zu ihm aufsah. Er war ihr so nah, dass sie seine Wärme spürte. Ihr Herz klopfte ziemlich schnell, aber sie redete sich ein, dass das an der beängstigenden Situation lag und nicht an seiner Gegenwart. -Dieser Körper und dein Körper... ich fühle mich seltsam«, murmelte er. »Ich möchte meine Lippen auf deinen Hals drücken. Dieser Kuss erscheint mir im Augenblick so lebensnotwendig wie das Atmen. Darf ich?«

»Nein, selbstverständlich nicht«, sagte sie, wandte sich jedoch gleichzeitig ihm zu und hob ihr Kinn, um ihm Zugang zu ihrem Hals zu gewähren.

Seine Lippen berührten ihren Hals, und Emily war sicher, noch nie etwas so Göttliches gespürt zu haben. Er war so zärtlich und doch leidenschaftlich. Unwillkürlich schlang sie die Arme um seine Taille und zog ihn näher an sich, dann drehte sie ihr Gesicht so, dass sein Mund den ihren fand.

In der nächsten Sekunde flog die Tür auf, und grelles Licht flutete in die Kammer und blendete Emily. Sie zwinkerte. Sie sah keine Menschenseele im angrenzenden Raum.

Michael war blass geworden. »Ich bin auf dem Fluss ohne Peitsche«, murmelte er.

»Paddel«, korrigierte sie ihn mit gepresster Stimme. Ihr wurden die Knie so schwach, dass sie kaum noch stehen konnte, als Michael sie losließ.

Michael stand fast wie ein Soldat in Hab-Acht-Stellung da und schien jemandem zuzuhören. Aber Emily entdeckte weit und breit niemanden.

Nach einer Weile wandte er sich ihr zu. »Emily, bleib hier. Das wird keine angenehme Sache. Adrian ist in schrecklicher Stimmung.« Mit diesen Worten schloss er die Tür hinter sich und ließ sie allein in der düsteren Kammer zurück.

Sie hörte Michaels Stimme im anderen Raum, und obwohl sie kein Wort verstand, so war sein Tonfall doch ganz anders als sonst und zeugte von Verehrung und tiefstem Respekt. Er klang wie ein Soldat, der von seinem Vorgesetzten abgekanzelt wurde.

Emily erholte sich langsam - ob von Michaels Kuss oder der Tortur im Geheimgang, wollte sie lieber nicht wissen. Stattdessen ergriff die Neugier von ihr Besitz. Natürlich konnte es nicht sein, aber vielleicht wurde auf der anderen Seite der Tür doch ein Engel von einem anderen scharf zurechtgewiesen, und wenn das so war, sollte sie möglichst nichts verpassen.

Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt und sah Michael mit gesenktem Kopf mitten im Raum stehen. Er nickte.

»Es ist der Körper«, sagte er betreten. »Ich habe offensichtlich keine Kontrolle über ihn...Ja, ich verstehe. Aber sie ist so schön, dass ich ihr kaum widerstehen kann.«

Emily lächelte. Man hatte ihr oft gesagt, sie sei süß und auf eine angenehme Art hübsch, aber so wie dieser Mann von ihrer Schönheit sprach, glaubte sie ihm beinahe.

»Und ihr Geist ist schön!«, rief Michael leidenschaftlich, als müsste er ihre Ehre verteidigen, und Emilys Lächeln wurde noch breiter, während er schwieg und wieder lauschte. »Du weißt nicht, warum man mich hierher geschickt hat, oder?«, fragte Michael die unsichtbare Person. Er nickte und machte immer wieder: »Mhmm, mhmm ...« Nach ein paar Minuten drehte er den Kopf ein wenig in Emilys Richtung und erklärte: »Er sagt, dass er keine Vermutungen anstellen würde, was im Kopf eines Erzengels vor sich geht, doch er ist überzeugt, dass meine Mission bestimmt keine Küsse und Liebkosungen mit einschließt.« Er zwinkerte Emily zu. »Bist du bereit zu gehen? Dieser Körper ist hungrig.«

»Aber was ist mit...?«

Michael ließ ihr keine Zeit und zog sie aus dem Haus heraus zum Auto.

Emily räumte die Küche auf und schrubbte das angetrocknete Eigelb von der Schrankfront und vom Boden, während Michael auf einem Stuhl an ihrer kleinen Bar hockte und nachdachte.

Auf der Rückfahrt zu ihrer Wohnung war er ziemlich wortkarg gewesen, und es war nicht zu übersehen, dass er sich mit etwas quälte. Es hatte sie einige Mühe gekostet, die Ursache seiner Sorgen aus ihm herauszubekommen.

»Ich muss herausfinden, weshalb ich hier bin«, hatte er gesagt. »Nach allem, was heute geschehen ist, könnte ich abberufen werden, bevor ich erfahre, welche Mission ich erfüllen sollte. Ich fühle mich wie ein Sterblicher zu dir hingezogen, Emily, und ich lasse es zu, dass mich das von der Erforschung und Ausführung meiner Aufgabe ablenkt.«

Emily wusste darauf keine Antwort und erst recht keinen Rat. Er schien das Grauen, das sie in dem Spukhaus erlebt hatten, spielend überwunden zu haben, während sie immer noch zitterte. Auf einem Dachboden und durch Geheimgänge zu kriechen entsprach nicht ihrer Vorstellung von Spaß. Aber Michael beschäftigte sich nur mit der Frage, warum er hier auf Erden war.

»Was hast du für morgen geplant?«, fragte er sie, als sie Sandwiches für einen späten Lunch zubereitete.

»Ich gehe zur Arbeit. Erinnerst du dich an die Bibliothek? Dort wird das reinste Chaos herrschen, und ich muss ...”

»Ich begleite dich.«

»Nein, das tust du nicht. Kommt gar nicht in Frage. Du könntest gesehen werden.

»Zu hässlich?« Er versuchte zu scherzen, aber seine Augen blieben ernst.

»Nein, zu gefährlich. Man würde dich erkennen.«

»Und wenn mich jemand sieht, was könnte er tun -mich töten?«

»Ich wünschte wirklich, du würdest nicht so leichtfertig über so etwas Ernstes sprechen.«

»An meinem Tod wäre nur eines ernst - wenn er eintreten würde, ehe ich meine Aufgabe hier erfüllt habe, welche immer das auch sein mag.«

»Du glaubst also nicht, dass deine Mission etwas mit den Vorfällen im Madison-Haus zu tun hat?«

»Ich bin nicht sicher. Könnte sein, aber...« Er sah auf. »Ich denke einfach, dass ich es wissen werde, sobald ich damit konfrontiert bin. Ich mache mir Sorgen, dass ...« Er schaute auf seine Hände und schien den Satz nicht beenden zu wollen.

»Weswegen machst du dir Sorgen?«, hakte sie leichthin nach, obwohl sie wusste, dass er sich ernsthaft Gedanken machte.

Er richtete den Blick auf sie - seine Augen wirkten sanft. »Die Wahrheit ist, dass ich als Schutzengel nicht sehr gut bin. Ich neige dazu, einige meiner Schützlinge bevorzugt zu behandeln - ich mag manche Menschen, andere mag ich nicht. Wir alle streben danach, wie Gott zu sein. Er liebt alle. Wirklich. Es spielt keine Rolle, wer sie sind oder was sie getan haben - Gott liebt sie alle.« Michael atmete tief durch. »Wir bemühen uns, wie er zu sein, aber ich bin weit davon entfernt. Ich habe den Hang, mich in die Angelegenheiten einzumischen.«

»Und wie stellst du das an?«

»Ich warne meine Lieblinge vor Gefahren und dergleichen.«

»Zum Beispiel kitzelst du jemanden an der Nase, wenn Unheil droht, stimmt’s?«

»Genau. Ich nehme an, das wäre ganz in Ordnung, wenn ich es bei allen meinen Schützlingen machen würde. Aber das gelingt mir anscheinend nicht. Ich habe da zum Beispiel diesen Geist, der wirklich böse ist. Egoistisch und selbstsüchtig; eben böse. Er ermordet und verprügelt Menschen und quält Kinder.«

»Aber du solltest ihn lieben.«

»Ja, genau. Adrian behandelt seine Schützlinge alle gleich. Aber ich ...» Er sah sie niedergeschlagen an.

»Was hast du mit diesem bösen Geist gemacht?«

Michael zog eine Grimasse. »Ich habe dafür gesorgt, dass er festgenommen wird. In jeder seiner Lebensspannen flüstere ich jemandem ins Ohr, wo er sich aufhält, dann verhaften sie ihn und sperren ihn ein. Wenn er entkommt, stelle ich sicher, dass er wieder eingefangen wird. In einem Leben habe ich ihn zwanzig Jahre im Gefängnis schmoren lassen, weil er einen Löffel gestohlen hatte, denn ich wusste, was er tun würde, wenn er wieder freikommt. Als er entlassen wurde, verleitete ich ihn dazu, eine Melone zu klauen, und er wurde wieder eingesperrt.«

»Ja, du bist ein schrecklicher Engel«, sagte sie und konnte sich ein Lachen kaum verkneifen.

»Das ist nicht lustig. Gott hat euch Sterblichen einen freien Willen gegeben, und ich sollte diesen Willen nicht beeinflussen. Adrian würde mir klarmachen, dass sich der Mann hätte ändern können. Aber als ich ihn ins Gefängnis steckte, verwehrte ich ihm die Chance, es zu tun. Aber, Emily, wenn man jemanden beobachtet, der über dreihundert Jahre lang nur Böses tut und schlecht ist, denkt man: Der wird sich nicht ändern - niemals!«

Emily hatte keine Lösung für sein Problem parat. Sie hätte ihm nur beipflichten können. Aber sie wusste schließlich auch nicht, was es hieß, ein Engel zu sein. Natürlich war Michael kein Engel, fügte sie im Stillen hinzu.

»Senf oder Mayonnaise?«, fragte sie.

»Was ist das?« Sie erklärte es ihm und lenkte ihn so von seinen trüben Gedanken ab.