Kapitel 12

Du willst da wirklich hin?«, fragte Emily wütend und ungläubig zugleich. »Du willst mit diesen Männern in den Billardsalon gehen, die halbe Nacht mit ihnen trinken und wer weiß was sonst noch tun? Diese Männer wissen, wer du bist!«

Michael stand mit nacktem Oberkörper im Bad und rasierte sich seelenruhig, sein Haar war noch feucht von der Dusche. Er drehte sich nicht einmal nach Emily um.

»Willst du mir nicht antworten?«

»Sie haben keine Ahnung, wer ich bin. Nicht, wer ich wirklich bin«, sagte er, dann wischte er sich die Seifenreste vom Gesicht und sah nach, ob er sich irgendwo geschnitten hatte. Er war an den Umgang mit einer Rasierklinge nicht gewöhnt.

»Sie wissen das, was alle Welt glaubt, und für die Welt bist du ein gesuchter Mörder.«

»Weißt du, wo mein braunes Hemd ist?«, fragte Michael und suchte in Emilys Schrank danach. »Oder soll ich das grüne anziehen?«

»Zieh das an, das am besten zu Blut passt«, grollte sie. Sie lehnte mit verschränkten Armen am Türrahmen.

Als Michael mit seinem braunen Hemd in der Hand an ihr vorbeiging, hauchte er ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich hatte heute wie du einen sehr schönen Tag, und du wirst mir heute Abend auch fehlen.«

»Ich werde dich kein bisschen vermissen«, gab sie zurück. »Ein absurder Gedanke. Ich war in der letzten Woche so viel mit dir zusammen, dass ich mich darauf freue, eine Weile allein zu sein. Ich habe etliche Bücher hier, die ich gern lesen würde.«

Michael quittierte diese Behauptung mit einem kleinen Lächeln. Zum Teufel mit ihm, dachte Emily. Er hatte recht, der Tag war wunderschön gewesen. Es hatte ihr gefallen, ihm ihre winzige Stadt zu zeigen und ihn mit den Leuten bekannt zu machen. Die meisten Männer waren übers Wochenende heimgekommen, und Michael blieb vor vielen Häusern stehen und plauderte so zwanglos mit den Leuten, als hätte er sein ganzes Leben in Greenbriar verbracht.

Und alle mochten ihn. Sie wurden zu Tee, Kaffee und Limonade eingeladen. Als sie bei den Kellers auf der Veranda saßen, sagte Emily: »Ich möchte eines Tages so ein Haus wie dieses haben - mit einer großen Veranda, grünem Rasen und einer Schaukel.«

»Ich nicht.«

Sie sah Michael überrascht an, dann drehte sie sich weg. Was kümmerte es sie, welche Wünsche er hatte?

»Ich hätte lieber das Madison-Haus. Ich bin es gewöhnt, viel Platz zu haben, und das ist ein großes Haus. Und ich würde gern sechs Kinder haben.«

»Deine arme Frau«, sagte Emily und beobachtete ihn aus den Augenwinkeln.

»Ich glaube nicht, dass irgendjemand meine Frau bedauern müsste«, raunte er in einem Ton, der ihr kleine Schauer über den Rücken jagte, zu.

Mrs. Keller brachte Limonade und Kuchen, und sie sprachen nicht mehr davon, was sie sich wünschen würden, wenn die Dinge anders wären.

Irene war noch nicht aus der Großstadt zurück - vielleicht wollte sie ja auch gar nicht kommen-, deshalb konnte Michael sie nicht kennen lernen. Und es gab nur eine brenzlige Situation an diesem Tag. Als sie zu den Brandons gingen, sah Mr. Brandon, ein Anwalt, Michael unverwandt an und sagte: »Habe ich Sie nicht im Fernsehen gesehen?«

Emily brachte vor Angst kein Wort mehr heraus, aber Michael erwiderte strahlend: »Man hat ein Foto von mir gezeigt, ja.«

Mr. Brandon kramte offenbar in seinem Gedächtnis. »Hat man Sie nicht beschuldigt, ein Mafia-Killer zu sein, und Sie auf Anweisung des FBI ins Gefängnis gesteckt? Man hat auf Sie geschossen, oder?«

»Ja, das stimmt«, bestätigte Michael munter. »Man hat mich totgeschossen. Aber Emily hat mich gefunden und die Kugel mit einer Zange aus meinem Schädel gezogen. Seither bin ich ihr treu ergebener Sklave.«

Emily stand kurz vor einer Ohnmacht, aber Mr. Brandon fing nach einer Schrecksekunde lauthals zu lachen an, schlug Michael freundschaftlich auf den Rücken und lud ihn ein, am Abend mit den anderen Jungs im Billardsalon ein paar Biere zu trinken. Und genau auf diese Zusammenkunft bereitete sich Michael gerade vor.

Niemand hatte Emily gebeten.

»Wie sehe ich aus?«

Viel zu gut, dachte Emily, hätte sich aber lieber auf die Zunge gebissen, als das laut auszusprechen. »Annehmbar», sagte sie knapp, »und ich hoffe, du hast einen schönen Abend.»

Michael lachte nur, drückte ihr wieder einen Kuss auf die Wange und ging - Emily war zum ersten Mal seit Tagen allein.

Ohne Michael erschien ihr die Wohnung mit einem Mal zu groß, zu leer und insgesamt ungemütlich. »Lächerlich«, brummte sie, als sie Michaels Kleider aufräumte, die überall verstreut waren. Sie war ans Alleinsein gewöhnt, wieso bildete sie sich plötzlich ein, einen Mann, den sie kaum kannte, an ihrer Seite haben zu müssen, um sich nicht zu langweilen?

Mit neuer Entschlossenheit nahm sie einen Roman aus dem Regal, der schon seit einer Woche unberührt dalag, und versuchte, sich aufs Lesen zu konzentrieren. Da ihr das nicht gelang, machte sie sich daran, im Kühlschrank Ordnung zu schaffen, dann saugte sie die ganze Wohnung und bereitete einen Auflauf zu, den sie sofort einfror, weil die Frauen von Greenbriar Michael mit so viel Essen versorgt hatten, dass gar kein Platz für noch mehr war. Danach bezog sie ihr Bett frisch, stopfte die Wäsche in die kleine Waschmaschine in der Küche und bügelte die Hemden auf, die sie am Vormittag für Michael gekauft hatten.

Um ein Uhr nachts hatte sich Michael immer noch nicht blicken lassen, und Emily schlug die Nummer des Billardsalons im Telefonbuch nach, verkniff es sich jedoch, dort anzurufen. Er war ein Engel, was konnte ihm schon passieren?

Er ist selbstverständlich kein Engel, wies sie sich zurecht. Er ist nur... nur... sie wusste selbst nicht, wer er war, aber eines war ihr klar: Er kam ohne Hilfe nicht zurecht. Sie hatte ihm sogar zeigen müssen, wie man Schnürsenkel zubindet, weil er keine Schleife zu Stande gebracht hatte.

Um halb drei Uhr morgens hörte sie, wie ein Wagen vor dem Haus vorfuhr. Sie hastete durch die Wohnung, löschte überall die Lichter und lief in ihr Schlafzimmer, um sich schlafend zu stellen und so zu tun, als hätte sie gar nicht gemerkt, ob er da war oder nicht.

Aber Michael machte so viel Lärm, dass er einen Toten aufgeweckt hätte. Er sang lauthals ein Lied von einer Frau, die ihm das Herz brach, weil sie noch einen anderen hatte, und stieß gegen jedes Möbelstück, das im Zimmer stand.

Emily stand auf, schaltete das Licht im Wohnzimmer an und blitzte Michael böse an. Er grinste nur.

»Du bist betrunken«, stellte sie fest.

»Ja, das bin ich, und sieh dir das an, Emily, mein Liebes.« Er zog ein von verschüttetem Bier fleckiges Bündel Dollarscheine aus der Tasche. »Das habe ich gewonnen.«

Ihr blieb der Mund offen stehen, und sie ließ die Arme sinken. »Du hast gespielt?«, flüsterte sie. Und als er nickte, fügte sie hinzu: »Was würde Adrian dazu sagen?«

»Adrian, der Blödmann«, sagte Michael grinsend. »Das ist mein neues Schimpfwort. Ich habe heute Abend noch ein paar andere gelernt. Willst du sie hören?«

»Nein danke.«

»Was macht ein Wort gut oder schlecht?«, fragte er ernst, als er auch aus seinen anderen Taschen Geldscheine hervorkramte. »Und wieso ist ein Wort in einem Land schlecht und in einem anderen nicht? Und warum bist du so ungeheuer hübsch?«

Emily gab ihre gouvernantenhafte Haltung auf und schüttelte den Kopf. »Du wirst morgen früh einen schönen Kater haben, du solltest jetzt besser ins Bett gehen und versuchen, deinen Rausch auszuschlafen.« Sie ging auf ihn zu und stützte ihn, um ihm in ihr Schlafzimmer zu helfen. Es hatte keinen Zweck, ihn auf die Couch zu legen, weil er in seinem Zustand ohnehin herunterfallen würde.

Michael legte ihr kameradschaftlich den Arm um die Schultern. »Wir haben Pizza gegessen, Emily. Du hast mir nie was von Pizza erzählt. Und wir haben zugesehen bei einem ... äh ...« Er holte aus, als wollte er etwas werfen, und hätte dabei beinahe das Gleichgewicht verloren.

»Bei einem Footballspiel.«

»Richtig. Football. Und wir haben Männer gesehen, die sich gegenseitig schlugen.«

»Boxer«, sagte sie und schubste ihn aufs Bett, dann kniete sie sich hin, um ihm die Schuhe auszuziehen. »Und wie hast du das viele Geld gewonnen? Hast du in die Zukunft geschaut und Wetten auf die Gewinner abgeschlossen?«

Er hielt sich an ihrer Schulter fest. »Das war das Eigenartigste, Emily. Ich wusste bei jedem Spiel und jedem Kampf, wer gewinnen und was wann passieren würde, aber das spielte überhaupt keine Rolle. Und als wir uns das Spiel zum zweiten Mal anschauten auf... auf...«

»Video.«

»Ja, auf Video. Da wussten auch alle anderen, was als nächstes kommt, aber das hat niemandem etwas ausgemacht. Es hat uns beim zweiten- und sogar beim dritten Mal genauso gut gefallen. Ist das nicht komisch?«

»Du bist da auf eines der größten Geheimnisse aller Zeiten gestoßen - auf etwas, was jede Frau auf dieser Welt schon seit langem verblüfft. Wenn du dieses Geheimnis gelüftet hast, sag mir Bescheid. Jetzt steh mal kurz auf.«

Michael erhob sich gehorsam, sodass ihm Emily die Hose ausziehen konnte. »Das mache ich, Emily«, versprach er feierlich. »Ich tue alles, was du willst. Es waren viele Frauen dort, aber keine hatte ein so gutes Herz wie du. Deine Seele ist so rein und schimmernd, und doch so warm und liebevoll.«

Nachdem Emily ihm das Hemd über den Kopf gestreift hatte, schubste sie ihn zurück aufs Bett und deckte ihn zu. »Es ist schon spät, du musst jetzt schlafen.«

Aber als sie die Hand ausstreckte, um das Licht auszumachen, hielt er sie fest. »Emily, diese eine Woche mit dir war die schönste Zeit in meinem Leben. Ich habe jede Minute in deiner Gesellschaft genossen. Ich würde mein Leben geben, um dich vor Unheil zu bewahren.«

Sie entzog ihm ihre Hand, löschte das Licht und blieb noch einen Moment auf der Bettkante sitzen, um Michael anzusehen. Er hatte die Augen geschlossen, und sie dachte, er wäre eingeschlafen, deshalb berührte sie seine Stirn und strich ihm übers Haar an der Schläfe. Wenn er sie verließ, würde er dann die Erinnerung an sie mit sich nehmen?

Er sah so süß aus, wenn er schlief, und nur das fahle Mondlicht erhellte sein hübsches Gesicht. Sie kam sich vor wie eine Mutter, die ihr schlafendes Kind betrachtete, und beugte sich vor, um ihm einen Kuss auf die Stirn zu geben. Aber Michael packte sie und zog sie fest an sich - er lieferte den Beweis, dass Küssen ein reiner Instinkt war. Seine Hand glitt über ihren Rücken bis zum Nacken, dann drehte er ihren Kopf so, dass er besseren Zugang hatte, öffnete den Mund und küsste sie so leidenschaftlich, als wollte er sie verschlingen.

Emily war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig, als sie seinen starken Körper unter der dünnen Decke, seine Wärme und Kraft spürte, mit der er seine Hüften an ihre drückte.

»Emily«, flüsterte er, als er seine Lippen von ihren löste und ihren Hals liebkoste.

Irgendwie gelang es Emily, zur Vernunft zu kommen. Zumindest kam ihr wieder ins Bewusstsein, wer sie war, wer er war und wo sie sein sollte - ganz bestimmt sollte sie sich nicht mit einem Mann im Bett herumwälzen, den sie erst seit einer Woche kannte.

Mit großer Anstrengung und unter Aufwendung all ihrer Kraft stemmte sie sich gegen seine Brust und befreite sich aus seiner Umarmung. »Nein«, stieß sie heiser hervor.

Michael unternahm keinen Versuch, sie wieder an sich zu ziehen, aber sein Blick hätte um ein Haar ihren Widerstand gebrochen.

Aber es gelang ihr aufzustehen. »Ich lass’ dich jetzt lieber schlafen«, sagte sie mit bebender Stimme. Sie räusperte sich. »Wir sehen uns morgen.«

Ehe er ein Wort sagen und sie noch einmal in diese sehnsüchtigen Augen schauen konnte, verließ sie fluchtartig das Zimmer.

Die Sonne war gerade erst aufgegangen, und Emily saß auf der Balustrade der kleinen Terrasse und trank Tee. Sie hatte die Tür einen Spalt offen gelassen, um nicht zu verpassen, wenn sich Michael rührte, aber nach dem Alkoholkonsum und dem langen Abend war es unwahrscheinlich, dass er vor Mittag wach wurde. Sie war froh, ein wenig Zeit für sich zu haben und in Ruhe über das nachdenken zu können, was zwischen ihr und diesem ihr noch ziemlich fremden Mann vorgefallen war.

Vielleicht war es ihm nicht klar (oder er hatte es mit seiner außergewöhnlichen Wahrnehmungsfähigkeit erkannt), aber sie hatte sich gestern Abend zum Narren gemacht. Was spielte es für eine Rolle, wenn er mit anderen Leuten ausging? Was kümmerte es sie, wenn er sich in der Stadt zeigte? Oder wenn alle allein stehenden Frauen von Greenbriar und die Hälfte der verheirateten um ihn herumscharwenzelten? Das alles ging sie nicht das Geringste an. Das Einzige, was sie ...

Sie hörte einen Schrei in ihrer Wohnung, dann ein Poltern, als würde etwas Schweres auf den Boden fallen.

»Was, um alles in der Welt...«, rief eine Männerstimme.

»Wer, zur Hölle, sind Sie? Und was haben Sie hier zu suchen?«, brüllte eine andere.

Emily riss die Augen auf. »Donald«, keuchte sie und ließ ihren Teebecher fallen, als sie losrannte.

Im Schlafzimmer lag der halb nackte Michael auf dem Boden und sah zu Donald auf, der mit geballten Fäusten über ihm stand und ihn wütend anstarrte. So wie Emily die Situation beurteilte, war Donald kurz davor, sich auf Michael zu stürzen. Sie sprang mit einem Satz zwischen die beiden und baute sich schützend vor Michael auf, der, wie es den Anschein hatte, gerade lernte, was ein ausgewachsener Kater war. »Donald«, sagte Emily flehend, »lass uns ins Wohnzimmer gehen, dann erkläre ich dir alles.«

»Geh mir aus dem Weg, Emily«, stieß Donald durch zusammengebissene Zähne hervor. »Ich bringe ihn um.«

Michael presste eine Hand an seinen Kopf. »Ich glaube, dieser Körper stirbt ganz von selbst«, hauchte er jämmerlich.

»Bitte, Donald.« Emily legte eine Hand auf seinen Arm. »Komm mit, damit ich dir das Ganze erklären kann.«

Es dauerte einen Moment, bis Donald seine Wut soweit gezähmt hatte, dass er sich Emily zuwenden konnte. »Du willst, dass ich ihn hier allein lasse? In deinem Schlafzimmer?«

»Meine Kleider sind hier«, warf Michael arglos ein, und Emily bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick, weil sie sehr wohl wusste, dass er Donald noch mehr auf die Palme bringen wollte.

Donald ging auf ihn los, während sich Michael von der Decke befreite, in die er gehüllt war. Emily drängte Donald im letzten Moment zurück und presste die Hände gegen seine Brust. »Bitte«, flehte sie. Sie spürte Donalds hämmernden Herzschlag unter den Händen.

Als sich Donald einigermaßen gefasst hatte, war es Michael gelungen, sich aus der hinderlichen Decke zu winden und aufzustehen. Erst dann spürte Emily, dass sich Donalds Muskeln ein wenig entspannten. Er mochte fuchsteufelswild sein, aber er war kein Idiot - er sah auf den ersten Blick, dass Michael wesentlich größer und stärker war als er selbst. Donald war zwar schön wie ein Model aus der Werbung, aber er war relativ klein, und selbst die vielen Stunden, die er im Fitness-Studio verbrachte, hatten ihm nicht zu solchen Muskelpaketen verholfen, mit denen die Natur Michael ausgestattet hatte. Zudem sah Michael mit dem zerzausten dunklen Haar, den blitzenden Augen und den dunklen Stoppeln auf Wangen und Kinn genau aus wie der Gangster, der er angeblich war.

»Komm«, drängte Emily und bugsierte Donald zur Tür.

Widerstrebend ließ sich Donald ins Wohnzimmer schieben. Während Emily die Tür schloss, funkelte sie Michael, der in einer knappen Unterhose im Morgenlicht stand, böse an. »Zieh dich an«, zischte sie. »Und lass dich nicht blicken, bis ich dir sage, dass du rauskommen kannst.«

Er zwinkerte ihr lächelnd zu, als wäre alles in schönster Ordnung. Emily zog mit einem Ruck die Tür zu.

»Los, raus damit«, forderte Donald. »Ich will augenblicklich wissen, was dieser ... dieser ...« Er sah sie voller Entsetzen an. »Er ist der Mann, den wir in den Nachrichten gezeigt haben, stimmt’s?«, setzte er so leise hinzu, dass Emily ihn kaum verstehen konnte. Im nächsten Moment hielt er den Telefonhörer in der Hand.

»Was hast du vor?«, rief sie.

»Was du schon vor einer Woche hättest tun sollen. Ich rufe das FBI an. Wir sagen ihnen, dass er dich als Geisel festgehalten hat - ich bestätige deine Geschichte. Ich sage ...Was, zum Teufel, tust du?«, brüllte er, weil Emily das Telefonkabel aus der Dose an der Wand gerissen hatte.

»Du rufst niemanden an«, sagte sie. »Erst hörst du mir zu. Ich möchte dir alles erklären.«

»Du willst mir erklären, warum du einen Mann in deiner Wohnung beherbergst, der ganz oben auf der Fahndungsliste des FBI steht? Nein, sag es mir nicht. Lass mich raten. Er hat dir irgendeine haarsträubende Geschichte von seiner Unschuld aufgetischt und dir weisgemacht, dass man ihn fälschlicherweise beschuldigt, dass ihm kein Mensch glaubt und ...«

»Nein, nein, nein!«, unterbrach sie ihn vehement. Dann atmete sie tief durch, um einen klaren Kopf zu bekommen und sich eine Lüge auszudenken, die Donald davon überzeugen konnte, dass ihr gar nichts anderes übrig geblieben war, als einen gesuchten Mann bei sich aufzunehmen.

Donald verschränkte die Arme vor der Brust. »Schön, Emily, ich höre. Nein, warte, ehe du mir die zweifellos fantastischste Geschichte erzählst, die mir je zu Ohren gekommen ist, möchte ich wissen, warum du nicht dafür gesorgt hast, dass er aus deinem Bett verschwindet, bevor ich hier aufgetaucht bin.«

Emily versuchte, Ruhe zu bewahren und setzte sich. »Ich wusste nicht, dass du vorhast herzukommen«, sagte sie wahrheitsgemäß, während sie fieberhaft überlegte, wie sie Michaels Anwesenheit in ihrer Wohnung glaubhaft erklären konnte. Auf keinen Fall würde sich Donald mit der Wahrheit zufrieden geben.

Donald ging wortlos zum Anrufbeantworter und drückte auf einen Knopf. »Hi, Liebes, tut mir Leid, aber ich kann am Freitag noch nicht kommen, wie du sicher den Nachrichten entnommen hast. Dieses Attentat nimmt mich voll und ganz in Anspruch. Wahrscheinlich sehen wir uns am Samstagabend. Ich liebe dich.« Die nächste Nachricht war ebenfalls von Donald. »Sorry, Süße, aber ich schaffs heute nicht mehr. Ich habe seit zwei Tagen nicht mehr geschlafen, aber am Sonntag in der Früh bin ich bei dir - ganz bestimmt. Kuschle dich ins Bett und warte auf mich. Du wirst es nicht bereuen.«

Auf dem Band war noch eine dritte Nachricht. Eine Frauenstimme sagte: »Emily, meine Liebe, hier ist Julia Waters. Ich rufe an, um Michael für Sonntagabend zum Dinner einzuladen. Ich hoffe, er kann kommen. Oh, und wenn du nicht zu beschäftigt bist, hätten wir dich natürlich auch gern dabei.«

Donald sah Emily ungläubig an. »Die Leute aus der Stadt wissen Bescheid?«, erkundigte er sich entgeistert. »Sie haben ihn gesehen? Sie haben dich mit diesem Kriminellen zusammen gesehen? Ist dir bewusst, welche Strafe dich erwartet, wenn du einen solchen Kerl vor der Polizei versteckst?«

»Er ist nicht der, der er zu sein scheint«, sagte Emily ganz leise - ihr war noch immer kein plausibles Motiv dafür eingefallen, dass sie Michael geholfen hatte. Donald stand drohend vor ihr. Neben Michael mochte er klein und schmächtig wirken, aber im Augenblick erschien er ihr wie ein Riese.

»Du hast das Band nicht abgehört, oder?«, fragte Donald ruhig. »Deshalb lag er in deinem Bett. Vielleicht hast du ja die Nacht mit ihm verbracht, und es war dir gleichgültig, ob ich euch zusammen erwische oder nicht.«

»Nein«, gab sie scharf zurück. »Er war betrunken, als er heute Nacht heimkam, deshalb habe ich ihn in mein Bett gesteckt. Ich habe auf der Couch geschlafen. Wir haben nichts miteinander.«

»Und das soll ich dir glauben? Du hast mich die ganze Zeit angelogen - wieso solltest du ausgerechnet in diesem Punkt die Wahrheit sagen?«

Emily wusste, dass sie ihm Paroli bieten musste - wie Irene ihr immer wieder sagte, ließ sie sich viel zu oft zum Fußabtreter machen -, aber sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie in den letzten Tagen überhaupt nicht an Donald gedacht hatte. Eigenartigerweise hatte sich gestern auch kein Mensch nach ihm erkundigt. Emily warf einen Blick auf die Schlafzimmertür. Es würde sie nicht wundern, wenn Michael Schwarze Magie angewendet hätte, um Donald aus ihren Gedanken zu verbannen und andere Leute davon abzuhalten, seinen Namen zu erwähnen. Konnte er so was?

»Also«, drängte Donald, »ich warte.«

»Ich helfe ihm, die Wahrheit herauszufinden«, brachte sie mühsam heraus. »Er ist unschuldig.«

»Klar«, gab Donald zurück. »Die Gefängnisse sind voll von unschuldigen Menschen.«

Emily bewies Rückgrat. Sie bedachte ihn mit einem wütenden Blick. »Wenn du zu allem solche Kommentare abgibst, erspare ich mir jede weitere Erklärung.«

Donald ließ sich mit einer theatralischen Geste ihr gegenüber nieder. »Verzeih mir, dass ich nicht allzu gut gelaunt bin«, sagte er, »aber ich habe zwei Tage lang vor dem Krankenhaus gestanden und versucht, in Erfahrung zu bringen, ob der Bürgermeister das Attentat überlebt hat oder nicht. Aber davon hattest du natürlich auch keine Ahnung, oder? Nein, natürlich nicht. Du und ...«, er warf einen giftigen Blick auf die geschlossene Tür. »Ihr beide wart viel zu beschäftigt damit, gesellschaftliche Kontakte in ganz Greenbriar zu knüpfen - da hattet ihr natürlich keine Zeit für die Nachrichten. Wenn du jetzt bitte die Güte hättest, mir zu erzählen, wieso dieser Kerl bei dir wohnt. Wieso sagst du, er ist «heimgekommen-, als wäre dies hier sein Zuhause?«

Emily hätte gern gewusst, wie es dem Bürgermeister ging, aber eine solche Frage hätte nur Donalds schlimmste Befürchtungen bestätigt. Und sie brauchte sich nicht eingehend in ihrer Wohnung umzusehen, um zu wissen, warum Donald annahm, dass Michael seit Tagen hier kampierte. Seine frisch gebügelten Hemden hingen am Wäscheschrank, ein Paar seiner Schuhe stand neben der Couch, auf dem Tischchen neben der Eingangstür lagen drei zerfledderte Sportzeitschriften und der Inhalt seiner Hosentasche.

»Wir stellen Nachforschungen an, um herauszufinden, wer der wahre Täter ist«, erklärte sie lahm und senkte den Blick auf ihre Hände. Da Donald schwieg, schaute sie auf. Sein Gesicht war wutverzerrt, und Emily lief bei seinem Anblick ein eisiger Schauer über den Rücken. »Ich helfe ihm, wie ich dir immer bei deinen Recherchen geholfen habe«, sagte sie. »Du hast mir immer wieder gesagt, dass ich gut darin bin, deshalb ... Ich unterstütze ihn bei der Suche nach dem wahren Verbrecher.«

»Bist du in ihn verliebt?«, erkundigte sich Donald nüchtern.

»Nein, natürlich nicht«, versicherte sie rasch. »Er ist nur, na ja, ein Freund.«

»Normalerweise erlaubst du Freunden nicht, bei dir zu nächtigen.«

Plötzlich schoss Emily ein seltsamer Gedanke durch den Kopf: Warum verschwindet Donald nicht einfach? Würde nicht jeder andere Mann, der einen anderen in der Wohnung seiner Verlobten vorfindet, einen Tobsuchtsanfall bekommen und gehen?

»Und du glaubst ihm«, stellte Donald fest. »Du nimmst ihm jede Lüge ab, die er sich zusammenreimt, fütterst ihn, bietest ihm Obdach und machst ihn mit allen Bewohnern der Stadt bekannt. Habe ich das richtig verstanden?«

»Es ist nicht so, wie es aussieht«, murmelte sie. »Er...« Sie sah Donald in die Augen. »Er hat sein Gedächtnis verloren und kann sich an gar nichts mehr erinnern.«

»Wie bitte?«

»Er weiß nicht einmal mehr, welches Essen ihm besonders gut schmeckt, wie man Kleider kauft oder einen Job und eine Wohnung bekommt.«

Donalds Blick sprach Bände.

»Er weiß nichts«, setzte sie mit einem, wie sie hoffte, versöhnlichen Lächeln hinzu. »Ehrlich, er kann nicht einmal Knöpfe zumachen ohne Hilfe.«

Donald stand ohne ein Wort auf, nahm sein Jackett, das er auf einen Stuhl gelegt hatte, und sah auf Emily nieder. »Emily, eine Sache lernt ein Journalist ziemlich schnell -er riecht es, wenn jemand lügt. Und du hast mir gerade eine Lüge nach der anderen aufgetischt. Ich weiß nicht, was in Wirklichkeit vorgeht. Vielleicht erpresst er dich, oder er hat gedroht, dir etwas anzutun. Aber da du dir nicht von mir helfen lässt, kann ich nichts für dich tun.«

Als er sein Jackett anzog, sprang Emily auf. »Donald, es tut mir Leid, ehrlich. Ich versuche, dir etwas zu erklären, was ich selbst nicht verstehe. Wenn du nur ein bisschen Geduld hast, dann ...«

»Dann was?«, fiel er ihr ins Wort. »Dann entscheidest du dich für einen von uns? Dann weißt du, ob du mich, den du schon seit Jahren kennst, willst oder ihn, einen berüchtigten Verbrecher, der dir erst vor einer Woche über den Weg gelaufen ist? Du meinst, ich soll mich gedulden, bis du dir klar geworden bist, wer von uns beiden der Richtige für dich ist?«

»Ich ... ich weiß es nicht«, stammelte sie. »Ich verstehe gar nichts mehr. Mein Leben ist vollkommen durcheinander.«

»Gut, ich will es dir etwas leichter machen. Entweder er oder ich - darum geht es hier«, sagte er leise und ging.