Kapitel 11

Als sie endlich wegkamen - Emily hatte Michael mindestens ein dutzend Mal den Telefonhörer übergeben und zugehört, wie er Einladungen annahm -, war es draußen schon fast dunkel. »Es ist zu spät für einen Spaziergang«, sagte sie eingeschnappt. Natürlich war ihr klar, dass sie wegen einer Kleinigkeit, einem verpatzten Picknick, schmollte, und kam sich lächerlich vor. Immerhin war sie gewöhnlich an den Wochentagen und auch viele Wochenenden ganz allein, wenn Donald Dienst in der Redaktion hatte.

Aber Michael nahm den Picknickkorb, ergriff ihre Hand und führte sie aus der Wohnung, ohne auf das Klingeln des Telefons zu achten. »Du fürchtest dich doch nicht im Dunkeln, oder?«, neckte er sie und rannte so schnell mit ihr die Treppe hinunter, dass es ein Wunder war, dass sie nicht stürzte.

»Nicht mehr«, entgegnete sie lachend. »Nicht nach dem heutigen Tag und nachdem ich Gespenster ausgescholten und ihnen gesagt habe, dass sie sich anständig benehmen sollen. Und wann hattest du Zeit, mit ihnen zu sprechen? Jedes Mal, wenn ich nach dir gesehen habe, hast du den Kindern Geschichten erzählt.«

»Ephraim kam zu mir und hat mir Bericht erstattet, während ich die Eisenbahn des kleinen Jeremiah repariert habe.«

Sie erreichten den Waldrand. Emily zögerte. Sie war ein vernünftiges Wesen und ging normalerweise nicht nachts in einen dichten Wald.

»Komm schon«, drängte Michael und zog sie weiter. »Die Waldelfen zeigen uns den Weg.«

»Oh, natürlich«, murmelte sie und stolperte ihm nach. »Wieso habe ich nicht selbst daran gedacht? Waldelfen. Ephraim war doch nicht derjenige, der ... äh ...«

»Der seine Frau ermordet, zerstückelt und die Körperteile in einer Truhe versteckt hat?«

»Was?« Sie blieb abrupt stehen. Waldelfen oder nicht, Geschichten über zerstückelte Frauenleichen konnte sie in einem finsteren Wald nicht vertragen.

Michael sah sie grinsend an. Seine weißen Zähne blitzten in dem grauen Dämmerlicht auf. »Nein, Ephraim hat niemanden getötet. Er wurde angeklagt und hingerichtet, aber er hat geschworen, so lange auf der Erde zu bleiben, bis der wahre Mörder gefunden wird.«

»Oh, und hat er den Mörder gefunden?«

»Vermutlich nicht, da er immer noch hier ist. Ich wünschte, ihr Sterblichen würdet aufhören, irgendwelche Schwüre auf dem Totenbett abzugeben. Das verursacht eine Menge Probleme. Man braucht sich ja nur den armen Ephraim anzusehen«, sagte er und zerrte sie weiter.

»Ja, er ist ein armer Teufel. Er langweilt sich zu Tode ... das ist wahrscheinlich ein unpassender Ausdruck für ein Gespenst. Wann wurde seine Frau ermordet?«

Michael blieb stehen und schien zu lauschen. Emily fragte sich, wie die Stimmen von Waldelfen klingen mochten. Plötzlich nahm Michael wieder ihre Hand und führte sie in ein Gebüsch, das sie für undurchdringlich gehalten hätte. Aber da war ein schmaler Pfad, der auf einer Lichtung mit einer Quelle endete. Sogar im Dunkeln konnte Emily sehen, wie unglaublich schön es hier war.

»Gefällt es dir?«

»Es ist wunderschön«, flüsterte sie und sah zu den Bäumen auf, deren Äste ein Dach über ihren Köpfen bildeten. Michael öffnete den Picknickkorb und nahm eine Flasche Wein heraus. »Die Elfen sind unanständige Wesen«, sagte er, als er Wein in ein Glas goss. »Sie erlauben den Sterblichen nur, diesen Ort zu besuchen, wenn eine fruchtbare Frau dabei ist. Wenn man ihnen Glauben schenken darf, dann sind die meisten erstgeborenen Babys der Stadt hier gezeugt worden.«

Emily nahm lachend das Glas entgegen.

»Du hast mir eine Frage gestellt - welche war das noch mal?«, wollte Michael wissen. Er kramte in dem Korb und schob ihre Hand weg, als sie versuchte, ihm zu helfen.

»Hm, ich weiß nicht mehr.« Sie streckte ihre Beine im Gras aus und lauschte dem Plätschern des Wassers. Vielleicht bildete sie sich das nur ein, aber diese Lichtung kam ihr ungeheuer romantisch und verwunschen vor.

»Emily«, sagte Michael leise, »lehn dich nicht so weit zurück. Hast du irgendetwas dabei, womit du dein Haar zusammenbinden kannst?«

Für einen Moment ritt sie der Teufel, und sie streckte sich träge und schleuderte ihr Haar nach hinten. Mi-chaels Tonfall gab ihr das Gefühl, eine unwiderstehliche Verführerin zu sein.

»Verschwindet!«, schrie Michael und fuchtelte mit dem Arm durch die Luft. »Weg hier. Verschwindet alle!«

Seine harsche Stimme zerstörte den Zauber, und Emily richtete sich abrupt auf. »Was soll das?«

»Niederträchtige Kreaturen. Sie sagten, sie könnten ..."

»Was?«

»Uns vor Adrians Blicken abschirmen.< Michael hielt den Blick gesenkt. »Und dass du gerade fruchtbar bist«, setzte er im Flüsterton hinzu.

»Oh.« Mehr fiel Emily nicht ein.

»Kommen wir auf Ephraim zurück«, bestimmte Michael geschäftsmäßig.

»Ja«, stimmte sie ihm zu und nahm den Teller, den er ihr reichte. »Zu dem Mann, der seine Frau nicht zerstückelt hat.« Vielleicht würde ein Gespräch über einen Mord sie von der betörenden Atmosphäre dieser abgeschiedenen, süß duftenden Lichtung ablenken und ihr helfen, sich auf das zu konzentrieren, woran sie und Michael eigentlich denken sollten.

»Ja, Ephraim.« Das klang fast so, als hätte Michael Schwierigkeiten, sich zu erinnern, wer Ephraim überhaupt war. »O ja. Er erzählte mir, dass er vor ein paar Jahren einem Mann begegnete, der Captain Madison gekannt hat.«

»Vor ein paar Jahren? Aber Captain Madison ist vor ungefähr hundert Jahren gestorben - oh, ich verstehe. Tote unter sich. Geister. Sag mal, veranstalten sie Partys oder haben sie ein reges Gesellschaftsleben?“

Das sollte ein Scherz sein, aber Michael fasste es nicht so auf. »Nein, gewöhnlich nicht. In Wahrheit sind Geister, die auf der Erde bleiben, nachdem ihre Körper gestorben sind, nicht sehr glücklich. Den meisten ist nicht einmal bewusst, dass sie keine Körper mehr haben. Und in den meisten Fällen hält sie eine Tragödie hier auf Erden fest.«

Emily blinzelte. Es war eigenartig, mit jemandem zusammen zu sein, der keine Ahnung hatte, dass Geister und Gespenster etwas waren, wovor man sich fürchtete. Aber Captain Madison hatte sogar Michael Angst eingejagt.

»Wie auch immer. Was hat Ephraims Freund über diesen grauenvollen Mann gesagt?«

»Das ist es ja gerade«, sagte Michael, während er ihr Glas neu auffüllte. »Er meinte, dass es weit und breit keinen freundlicheren Mann als Captain Madison geben könnte. Er war großzügig und hochherzig. Die Männer auf seinem Schiff liebten und verehrten ihn so sehr, dass sie für ihn freiwillig in den Tod gegangen wären.«

»Für den Mann, der im Madison-Haus mit Säbeln nach dir geworfen hat? Für diesen Captain Madison?«

»Ganz genau für diesen. Das mag ich. Was ist es?«, fragte er und hielt ihr eine Schüssel hin.

»Keine Ahnung. Es ist so dunkel, dass ich es nicht sehen kann. Außerdem ist die Frau, die dir das geschenkt hat, in dich, nicht in mich verliebt. Aber ihre Haarfarbe ist nicht echt.«

Sie sah Michaels Zähne aufblitzen und wusste, dass er grinste. »Du kannst nicht sehen, was in der Schüssel ist, aber du siehst die Schüssel gut genug, um zu wissen, wer sie mir gegeben hat?«

Darauf ging Emily nicht näher ein. »Wenn Captain Madison tatsächlich ein so guter Mann war, warum spukt er dann in diesem Haus? Und wieso hat man ihn des Mordes angeklagt und gehängt? Ich glaube, ihr Geister habt ein schlechtes Gedächtnis.«

»Ephraim sagt, die Menschen, die Captain Madison kannten, konnten nicht glauben, dass er einen Mord begangen haben soll. Nach allem, was er gehört hat, war das Mädchen, das der Captain heiratete, schwanger, und der Vater des Babys hatte die Stadt verlassen.«

»Ah ...« Emily aß ein Plätzchen und leckte sich den Puderzucker von den Fingern. »Das würde Sinn machen. Vielleicht verliebte sich der Captain in das Mädchen, und als der Liebhaber Jahre später zurückkam, brachte der Captain ihn um. Die Liebe kann sogar die freundlichsten Menschen dazu bringen, schreckliche Dinge zu tun.«

»Tatsächlich?« Michael zog eine Augenbraue hoch. »Das hätte ich nicht gedacht, aber ich habe ja auch kaum etwas von dieser Welt gesehen.«

»Okay, Methusalem, ich weiß, dass du ein alter Mann bist, aber ...«

»Methusalem? Habe ich dir erzählt, dass er einer von meinen Schützlingen war?«

Emily riss eine Hand voll Gras aus und warf es nach ihm. »Kannst du nicht einmal eine Minute ernst bleiben? Wie sollen wir herausfinden, warum du hier bist, wenn wir uns keine Gedanken drüber machen?«

Er richtete den Blick auf seinen Teller, den er nun zum dritten Mal füllte. »Ich dachte, ich bin ein entflohener Häftling und habe mir meinen Lebensunterhalt als Killer verdient - also das meinst du damit, wenn du sagst, dass wir den Grund für mein Hiersein herausfinden wollen?«

»Vielleicht bist du kein Engel, aber ich weiß, dass du kein Mörder bist.« Sie sah ihn an. »Glaubst du, dass Cap-tain Madison fälschlicherweise hingerichtet wurde und er deshalb so zornig ist? Und warum weigert er sich, diese Erde zu verlassen? Vielleicht wurdest du hergeschickt, um die Wahrheit aufzudecken und seinem Geist zur Ruhe zu verhelfen?«

Michael stopfte sich etwas in den Mund, was wie Wackelpudding aussah. Er hat den Geschmack eines Neunjährigen, dachte sie.

»Vielleicht wurde er für ein Verbrechen gehängt, das ein anderer begangen hat - in meiner Branche sieht man so etwas oft -, aber was könnte das mit dir zu tun haben, Emily? Captain Madison ist nicht einer meiner Schützlinge, aber du bist einer. Ich wurde deinetwegen hergeschickt.«

»Wenn ich dieses Geheimnis lüfte, ein Buch darüber schreibe und auf die Bestsellerliste komme, könnte ich reich werden. Vielleicht könnte mir Reichtum schaden.«

»Ich glaube das nicht.«

»Zu weltlich, was?«

»Eindeutig. Was ist das hier?«

»Kirschkuchen. Du solltest wirklich nicht Frikadellen, Wackelpudding und Kuchen durcheinander essen. Also was könnte Captain Madison, abgesehen davon, dass ich seit vier Jahren Nachforschungen über ihn anstelle, damit zu tun haben? Und was hat Captain Madison mit dir zu tun?«

»Ich glaube allmählich, dass wir am falschen Baum bellen.« Emily musste nachdenken, um zu verstehen, was er damit meinte. »Den falschen Mond anheulen«, sagte sie. »Du bist also der Ansicht, dass du nicht wegen Captain Madison hier bist?«

Sie musste warten, bis er einen riesigen Bissen Kuchen hinuntergeschluckt hatte. »Emily, ich bin ehrlich vollkommen durcheinander. Ich habe jetzt fast eine Woche mit dir verbracht, und vielleicht hat meine Wahrnehmung erheblich gelitten, aber ich kann wirklich nichts Böses und kein Unheil in deiner Umgebung erkennen. Oh, es gibt einige Frauen, die neidisch auf dich sind, aber..."

»Auf mich? Warum, um alles in der Welt, sollte mich jemand beneiden?«

»Mal sehen. Wo soll ich anfangen? Du bist jung und hübsch, du bist klug und setzt Dinge in Bewegung. Die Leute mögen dich, vertrauen dir und suchen deine Nähe. Du bekommst Auszeichnungen, wirst geehrt und hast einen Freund. Du ...«

»Okay, ich hab’s kapiert«, sagte sie verlegen, aber dennoch erfreut. »Also denkt niemand insgeheim daran, mich zu ermorden?«, scherzte sie, doch Michael blieb vollkommen ernst.

»Nein. Bis jetzt habe ich niemanden gesehen, der das Vorhaben könnte, aber man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Gehe ich recht in der Annahme, dass du morgen nicht in der Bibliothek arbeitest?«

»Gidrah übernimmt an den Samstagen den Dienst.« Sie fügte nicht hinzu, dass sich vermutlich kein Mensch blicken lassen würde, wenn er nicht dort war.

»Könnten wir morgen ein wenig in der Stadt herumgehen? Ich möchte in alle Läden gehen und jedes Haus sehen. Irgendwo muss Gefahr lauern. Ich spüre sie nur nicht.«

»Gut. Du kannst Irene kennen lernen. Sie ist meine beste Freundin und arbeitet während der Woche in der Stadt. Sie ist die persönliche Sekretärin eines furchtbar berühmten Anwalts und kann viele erstaunliche Geschichten erzählen.«

»Du hast sie immer schon gemocht«, flüsterte Michael leise.

»In vergangenen Leben?«, fragte sie in einem Ton, der ausdrücken sollte, dass sie nicht an so was glaubte -oder wenn doch, dass sie dem keine große Bedeutung beimaß. Aber sie hätte gern erfahren, wie sie und Irene sich kennen gelernt hatten.

Aber er verlor kein Wort mehr über Irene. »Können wir gehen?«, fragte er und begann, die Sachen in den Korb zu packen. »Der Wein hat mich schläfrig gemacht.«

Emily war nicht sicher, was geschehen war, aber sie wusste, dass ihm irgendetwas die Laune verdorben hatte. Er schwieg auf dem ganzen Heimweg, aber er hielt ihre Hand und führte sie durch die Dunkelheit, als könne er sehen wie am helllichten Tag. Einmal hörte sie ihn murmeln: »Haltet den Mund«, und sie glaubte, ein Kichern und das Flattern von Flügeln zu vernehmen.

Als sie in die Wohnung kamen, sah sie, dass das Licht an ihrem Anrufbeantworter blinkte, aber sie hatte keine Lust zu hören, dass noch eine Frau Michael zu einer Party oder ins Kino einlud. Er ging gleich unter die Dusche, und als er mit einem Handtuch um die Hüften zurückkam, eröffnete er ihr, dass er sich schlafen legen wollte. »Habe ich irgendetwas Falsches gesagt oder getan?«, fragte sie betreten.

»Was könntest du falsch machen? Du hast in Jahrhunderten nichts Falsches getan«, antwortete er und ging zur Wohnzimmercouch. Emily rührte sich nicht vom Fleck, bis er über die Schulter sagte: »Emily, Liebste, geh zu Bett. Und schließ deine Tür ab. Verbarrikadiere sie, damit ich nicht in dein Zimmer kann.«

»Oh.« Sie lächelte verstohlen und zog sich zurück. Sie machte die Tür zu, verschloss sie aber nicht.