Kapitel 18

Nach neuesten Erkenntnissen kann nicht mehr mit Sicherheit behauptet werden, dass Miss Todd in den grausigen Mord, der heute Morgen geschehen ist, verwickelt war. Allerdings können sich die Behörden erst absolute Klarheit über die Vorgänge verschaffen, wenn Miss Todd gefunden wird. Das waren die Nachrichten von heute. Donald Stewart verabschiedet sich für heute von Ihnen.«

Emily wandte sich von dem Fernseher im Inneren des Ladens ab, nur um eine ganze Reihe anderer Bildschirme zu sehen, die ihr Foto zeigten. »So viel zu Donalds Ehrgefühl und seinen Karrierebestrebungen«, murmelte sie. Sie hätte ihre Drohung wahrmachen und ihn bloßstellen sollen. Zähneknirschend ging sie hinaus auf die Straße.

»Ich weiß nicht, was das hier ist, aber es ist gut«, sagte Michael, als er ihr eine fettige Tüte und einen großen Pappbecher reichte.

»Das sind Tacos«, erklärte sie nach einem Blick in die Tüte und schüttelte den Kopf. Sie hatte sich noch immer nicht von den Ereignissen des Morgens erholt. Michael hatte es irgendwie fertig gebracht, dass ein Mann in einer riesigen Limousine angehalten und ihnen angeboten hatte, sie in die Stadt mitzunehmen. Die Fahrt war sehr angenehm gewesen, und als sie ausgestiegen waren, hatte der Mann Michael sogar ein Geldscheinbündel in die Hand gedrückt.

»Wie hast du es geschafft, dass die Limousine durch Greenbriar gefahren ist?«, fragte Emily erstaunt.

»Hexerei«, erwiderte er grinsend. »Schwarze Magie.«

»Sei lieber still, sonst hört dich Adrian.«

»Ich glaube fast, Adrian ist ein wenig neidisch. Ich wette, Erzengel Michael hat ihn niemals gebeten, irgendetwas auf Erden zu tun. Und außerdem denke ich, dass ich keineswegs degradiert werde, wenn ich diese Sache durchgezogen habe. Möglicherweise macht sich Adrian sogar Sorgen, dass ich danach eine Ebene über ihm stehen könnte.«

Emily schüttelte entrüstet den Kopf. »Engel sollten wirklich nicht neidisch oder ehrgeizig sein.«

»Und die Sterblichen sollten in Frieden und Harmonie miteinander leben. Warte hier, ich besorge uns etwas zu essen«, sagte er. »Dann gehen wir in die Wohnung von deinem Schatz.«

Ausnahmsweise hatte Emily nicht protestiert, dass Michael Donald so nannte.

Jetzt verschlang sie einen fettigen Taco nach dem anderen, während Michael sie durch die Straßen manövrierte. Sie war nicht erpicht darauf, in Donalds Wohnung zu gehen. Was würden sie dort vorfinden? Beweise seiner Untreue? In Wahrheit wünschte sich Emily, dass sich Donald an jeden einzelnen süßen Moment erinnerte, den sie gemeinsam erlebt hatten, und sich nach ihr verzehrte. Hirngespinste!, rief sie sich zur Ordnung, als sie sich dem Apartmenthaus näherten, in dem Donald lebte.

»Ich brauche dir wohl nicht zu erzählen, dass der Portier uns nicht ohne Donalds Erlaubnis zu ihm hinauflässt«, sagte sie, doch Michael lächelte überlegen.

Tatsächlich benahm sich der Portier so, als wäre Michael ein uralter Freund, der nach langer Zeit wieder aufgetaucht war, und Minuten später standen sie im Aufzug.

Michael wurde grün im Gesicht. »Das geht zu schnell -es ist zu hoch«, hauchte er benommen, als sie den Lift im sechsundzwanzigsten Stockwerk verließen.

Emily wusste, dass Donald einen Ersatzschlüssel hinter dem Notausgang versteckte, aber Michael brauchte nur die Hand auf den Knauf der Tür zu legen, und schon öffnete sie sich.

»Deine Wohnung gefällt mir besser«, stellte Michael fest, als er das viele Glas, den Chrom, die schwarzen Ledersessel und die verspiegelten Wände betrachtete.

»Schön, jetzt hast du alles gesehen, und wir können wieder gehen«, sagte Emily. Sie fühlte sich ausgesprochen unbehaglich in dieser Wohnung, in der sie sich so selten aufgehalten hatte.

»Es ist hier«, flüsterte Michael.

Emily hatte verstanden: »Er ist hier«, und war schon fast bei der Tür, als Michael sie am Ärmel zurückhielt.

»Feigling. Er ist nicht da.« Wie immer hatte er ihre Gedanken gelesen. »Zumindest glaube ich das. Sollen wir in seinem Schlafzimmer nachsehen? Vielleicht finden wir eine übrig gebliebene Blondine.«

»Sehr lustig. Ich hoffe, Adrian setzt dich auf die Ebene, die dir wirklich angemessen ist.«

»Dann könnte ich all die Männer aus deinen früheren Leben Wiedersehen«, gab er zurück. »Soll ich dir von dem Leben erzählen, in dem du dich an einen Spieler weggeworfen hast? Du hast mehr als vierzig Jahre in dem Glauben verbracht, dass er sich ändern würde.«

»Würdest du bitte nach dem suchen, was du hier zu finden hoffst, und mich und all meine Vorleben in Ruhe lassen?«

»Das kann ich nicht«, entgegnete er und ging im Zimmer umher. »Zumindest in den nächsten hundert Jahren kann ich dich nicht allein lassen. Sag mal, Emily, wie soll der Mann sein, mit dem du dein Leben verbringen willst?«

»Klug, geistreich und mir ergeben - sklavisch ergeben. Und reich, damit er mit mir nach Paris fahren kann.«

»Ich dachte, du wolltest an einem Fluss campen und Rafting machen - das war’s doch, oder?« Plötzlich sog er scharf die Luft ein, als er an einem großen Schrank vorbeiging. »Es ist da drin.«

Wider jede Vernunft blieb Emily wie angewurzelt stehen und starrte gebannt auf den Schrank. Was war in diesem Schrank? Böse Dämonen? Gespenster? Etwas oder jemand, der herausspringen und sich nie mehr einsperren lassen würde?

Als Michael die Schranktür öffnete, wäre Emily beinahe in Ohnmacht gefallen und schnappte nach Luft. Aber in dem Schrank standen nur Bücher - Reihe um Reihe ledergebundene Bände.

»Sie sehen nicht gerade unheilvoll aus«, bemerkte Emily. Sie war ärgerlich mit sich selbst, weil sie sich hatte ins Bockshorn jagen lassen. »Das sind Skripte von Donalds Sendungen. Ich weiß das, weil ich den Buchbinder für ihn aufgetan habe.«

Vorsichtig, als könnte er sich die Hand verbrennen, nahm Michael eins der Bücher heraus und schlug es auf. Emily hatte Recht gehabt, es waren Skripte. Der edle lederne Einband täuschte - die gebundenen Seiten darin waren billiges, mit Handschrift beschmiertes Papier. Michael schlug den Band zu und stellte ihn an seinen Platz zurück, dann strich er mit der Hand über die Reihen der Buchrücken.

»Was machst du da?«, fragte Emily ungehalten. »Du willst mir doch nicht weismachen, dass Bücher vom Bösen besessen sein können!«

Er drehte sich zu ihr um und sah sie ernst an. »Was hast du damit zu tun, mit diesen ...«

»Skripten«, half sie nach. Sie hatte seine Eifersucht satt. »Es sind nur die Manuskripte zu längst ausgestrahlten Sendungen von Donald. An ihnen ist nichts Finsteres oder Unheilvolles.«

»Was hattest du damit zu schaffen?«

»Ich?«, begann sie, wurde dann aber etwas nachdenklicher. »Ich habe bei den Recherchen geholfen, das ist alles. Donald hatte die Ideen, und ich ...« Sie verstummte, weil Michael sie betrachtete, als wüsste er genau, dass das eine Lüge war.

»Also schön, es ist während der Woche ziemlich einsam in Greenbriar, deshalb habe ich eine Menge gelesen. Und vielleicht bin ich hin und wieder auch auf etwas gestoßen, was für eine von Donalds Storys interessant sein konnte. Dann habe ich manchmal ein bisschen weiter geforscht. Ich habe die landesweite Fernleihe unter Bibliotheken und das Internet benutzt... Hör auf, mich so anzuschauen! Ich habe nicht in Dateien herumgeschnüffelt, die mich nichts angehen, und habe auch nichts Illegales oder Verwerfliches getan. Ich habe nur Donald geholfen, mehr nicht.«

»Kein Wunder, dass er dich gebeten hat, ihn zu heiraten«, brummte Michael.

»Was soll das heißen?«

»Emily, du hast seine Karriere gemacht. Du bist seine Karriere. Wie viele dieser Storys hast du ihm vorgeschlagen? Wie umfangreich waren deine Recherchen? Wie viele Storys hast du geschrieben?«

»Ein paar«, sagte sie. Nur weil Donald ein verlogener, hinterlistiger Mistkerl war, brauchte sie ihm nicht nachzueifern. Im Abspann der Sendungen war immer Donald als Autor und Redakteur genannt worden. Emilys Name war nirgendwo aufgetaucht.

Und genau so hatte sie es gewollt, zumindest hatte sie sich das immer wieder eingeredet. Einige der Stories waren ziemlich kontrovers gewesen, und ...

Sie sah zu Michael auf. »Vielleicht bin ich ein paar Leuten auf die Zehen getreten, und jemand hat in Erfahrung gebracht, dass ich irgendeine Sache aufgedeckt habe, nicht Donald. Meinst du das könnte es sein?«

»Ja, genau das meine ich.«

Die Gedanken wirbelten durch Emilys Kopf, und sie erinnerte sich an all die Storys, bei denen sie Donald »geholfen« hatte. Auf diese Weise hatten sie sich sogar kennen gelernt. Emily hatte mehrmals an Donald geschrieben und ihn gebeten, in ihrer Bibliothek einer Gruppe von Halbwüchsigen einen Vortrag über Fernsehberufe zu halten, aber sie erhielt immer nur Formbriefe als Antwort, in denen stand, dass es sein Terminkalender nicht zuließe, nach Greenbriar zu fahren. Sie hatte sich das Gehirn zermartert, wie sie ihn in ihre Bibliothek locken konnte. Sie las zufällig etwas über bedrohte Tierarten, erinnerte sich an eine dumme Äußerung einer Bauunternehmersgattin und an etwas, was sie im Fernsehen gesehen hatte. Als sie alles zusammensetzte, hatte sie eine ziemlich gute Story - sie schrieb sie und schickte sie an Donald.

Zwei Wochen später kam Donald nach Greenbriar, verabredete sich mit Emily und hielt einen Vortrag vor den Schülern. Schließlich mietete er eine Wohnung und machte die winzige Stadt zu seinem zweiten Zuhause. Donald überprüfte, was Emily geschrieben hatte, fand heraus, dass jedes Detail der Wahrheit entsprach und machte einen Exklusivbeitrag für die Abendnachrichten aus ihrer Geschichte. Zu guter Letzt musste der Bauunternehmer ein Großprojekt, an dem er bereits gearbeitet hatte, abbrechen, weil er Gutachten gefälscht und seltene Tier- und Pflanzenarten rigoros vernichtet hatte. Emily hatte gehört, er habe Millionen verloren, weil ihm durch diese Geschichte lukrative Aufträge entzogen worden seien. Aber Donald war für diese Story ausgezeichnet worden, und er hatte seinen Erfolg gefeiert, indem er Champagner und Rosen für Emily gekauft und ihr die Jungfräulichkeit genommen hatte.

»Warum bist du plötzlich so eigenartig?«, fragte Michael. »Wie viele dieser Storys haben wohl jemandem einen Grund gegeben, dich zu hassen?«

Emily lächelte matt. »Ich dachte eigentlich, sie hassen Donald. Er hat sie im Fernsehen vorgetragen und Preise dafür eingeheimst.«

»Auch wenn du anderer Ansicht bist, muss ich dir sagen, dass man keine Intelligenzbestie sein muss, um zu erkennen, dass Donald ein Schwachkopf ist. Er hat ein hübsches Gesicht und kann gut vom Blatt ablesen. Kein Mensch, der nur eine halbe Stunde in seiner Gesellschaft verbringt, glaubt, dass er diese Skandale selbst hätte aufdecken können. Donald umzubringen würde den Killern nicht das Geringste nützen. Man muss die Quelle des Ärgernisses vernichten, und diese Quelle bist du.«

»Oh.« Emily ließ sich schwer auf eine Ledercouch fab len. »So habe ich das nie betrachtet. Ich habe Donald gebeten, mich herauszuhalten und meinen Namen nicht zu erwähnen. Ich wollte nie im Rampenlicht stehen. Mir lag lediglich daran, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde.«

Ein Lächeln huschte über Michaels Gesicht. »Es gefällt mir, dass du dich nie geändert hast. Du hast immer schon für die Gerechtigkeit gekämpft. Zwei Mal musstest du sogar deswegen dein Leben lassen.«

»Wird es in diesem Leben auch so sein?«, fragte sie ängstlich. »Nicht, solange ich etwas damit zu tun habe. Jetzt lass uns arbeiten. Wir müssen nach einem Fall suchen, der noch nicht veröffentlicht wurde. Fällt dir einer ein?«

»Schließt das den Fall des Mannes mit ein, der bald aus der Haft entlassen wird?«

Michael sah sie erstaunt an. »Wieso hast du eigentlich nicht sofort an deine Recherchen gedacht, als ich dich fragte, ob es Böses in deiner Umgebung gibt?«

»Ich dachte, dass kein Mensch von meiner Arbeit weiß. Donald sagte immer, ich sei seine Geheimwaffe.«

»Donald wollte den ganzen Ruhm für sich«, versetzte Michael angewidert. »Aber was geschehen ist, ist nicht mehr zu ändern. Wo sollen wir mit der Suche anfangen?

Wenn wir uns einen Fall nach dem Anderen vornehmen, könnte ich fühlen, von welchem das Böse ausgeht...

»Warum berührst du nicht einfach nur die Buchrücken?«

»Die Ausstrahlung ist zu schwach. Ich fühle die negative Energie in diesem Schrank, aber ich kann den Ursprung nicht orten. Wo sind deine Originalunterlagen?«

»Auf einer Computerdiskette«, erwiderte sie und machte absichtlich keine präziseren Angaben.

Michael funkelte sie an.

»Na schön. Alle Informationen befinden sich in Donalds Notebook - das ist ein transportabler Computer. Er wollte keine der Unterlagen in meinen Händen lassen, weil...« Emily verstummte und sah Michael an.

»Du brauchst es mir nicht zu sagen, ich kenne den Grund. Er wollte nicht, dass irgendjemand durch Zufall in Erfahrung bringt, dass du die ganze Arbeit gemacht hast, während er Däumchen drehte.«

»So hat er sich eigentlich nicht ausgedrückt, aber vielleicht trifft das den Kern.«

»Wo ist dieser Computer?«

»Du kannst nicht in den persönlichen Dingen eines Anderen herumschnüffeln. Das ist verboten und unmoralisch, außerdem habe ich nicht die geringste Ahnung, wo der Computer sein könnte. Ich nehme an, er hat ihn in seinem Büro.«

»Das bezweifle ich. Er müsste befürchten, dass jemand ein bisschen Detektiv spielt. Sollen wir uns hier mal umschauen?«

Emily erhob keine Einwände, weil sie wusste, dass sich Michael nicht von seinem Vorhaben abbringen lassen würde. »Im Schlafzimmer?«, erkundigte sie sich stattdessen. »Oder willst du im Wohnzimmer anfangen?«