Kapitel 23

Als Emily aufwachte, lag sie in einem Kofferraum. Sie erkannte den Geruch, die Geräusche und das Holpern sofort.

Sie war fassungslos. Geknebelt in einem engen Kofferraum irgendwohin verfrachtet zu werden, kam nur im Film vor, oder es passierte anderen Menschen, aber nicht ihr. Nicht der langweiligen, kleinen Bibliothekarin, deren höchstes Glück es war, eine Erstausgabe im Antiquariat aufzustöbern.

»Michael«, schrie sie in Gedanken. Sie konnte nicht reden, weil man ihr den Mund zugeklebt hatte. Sie hätte Michael gern noch einmal gesprochen und ihm gesagt, dass sie ihn liebte; nicht weil er ein Engel war, sondern weil er alle Wesen - ob mit oder ohne Körper - respektierte und sich um sie sorgte.

Und sie war sich seiner Liebe sicher und überzeugt, dass er ihr auch noch von Herzen zugetan war, nachdem sie ihm so übel mitgespielt und ihn betäubt hatte. Natürlich würde er ihr die Leviten lesen und ihr klarmachen, was für eine Dummheit sie begangen hatte, aber er würde sie nach wie vor lieben. Wie viele Frauen konnten so etwas von den Männern, die in ihrem Leben eine Rolle gespielt hatten, schon behaupten? Emily hatte sich immer bemüht, Donald alles recht zu machen, um ihn nicht zu verlieren, bei Michael brauchte sie nur sie selbst zu sein.

»Ich liebe dich«, dachte sie wehmütig, und heiße Tränen stiegen ihr in die Augen, als ihr klar wurde, dass sie nie mehr die Gelegenheit bekommen würde, ihm ihre Liebe persönlich zu gestehen und ihm zu sagen, dass er Recht und sie Unrecht gehabt hatte oder dass sie die Zeit mit ihm genossen hatte. Er war interessant, geistreich und liebevoll - all das, was sich eine Frau von einem Mann wünschte. Und sie hatte ihn wie Dreck behandelt, dachte sie und ließ den Tränen freien Lauf.

Sie war dem Tode geweiht und würde Michael nie mehr in seiner menschlichen Gestalt sehen. Im nächsten Leben würde sie sich nicht mehr an ihn erinnern, auch wenn er vom Himmel aus über sie wachte. Wenigstens hielt er in den nächsten hundert Jahren noch schützend seine Fittiche über sie. Plötzlich erschienen ihr hundert Jahre viel zu kurz.

Als der Wagen anhielt, war Emily ganz ruhig. Vielleicht hatte ihr das Zusammensein mit Michael die Angst vor dem Tod genommen - schließlich wusste sie jetzt, was sie danach erwartete. Sie zweifelte nicht mehr an einem Leben nach dem Tod oder an der Wiedergeburt. Aber sie hatte die Gewissheit, dass sie Michael nie Wiedersehen würde.

Als der Kofferraum geöffnet wurde, war sie nicht überrascht, lauter Bäume zu sehen. Also würden spielende Kinder ihren Leichnam finden, und kein Mensch würde sie identifizieren können.

»Gut, bringen wir’s hinter uns«, sagte Charles, als er sie aus dem Kofferraum hievte und in den Wald zerrte. Ihr war klar, dass sie sich von diesem Mann keine Gnade erhoffen durfte - er hatte kein Herz.

Bitte lass mich in Würde sterben, betete sie. Lass mich nicht winseln und flehen.

David wurde als erster auf die Geräusche aufmerksam. »Was ist das?«, fragte er nervös. Die anderen waren so gelassen, dass Emily sich fragte, ob sie schon öfter gemordet hatten. Die Männer waren als die »tödlichen Drei« bekannt, und das vielleicht aus gutem Grund.

Vielleicht hatte Michael auf die Hexerei zurückgegriffen, denn das Motorrad stand neben ihnen, sobald das Dröhnen des Motors zu hören war. Es war eine dieser alten Harley-Davidsons, die nur hartgesottene Rowdys fuhren, aber für Emily war es in diesem Augenblick das schönste Fahrzeug der Welt. Wenn Michael auf einem schwarzen Hengst durch den Wald geritten wäre, um sie zu retten, hätte er nicht mehr einem Helden aus alten Zeiten gleichen können.

»Lösen Sie ihre Fesseln«, befahl Michael seelenruhig, als er von der Maschine abstieg.

Charles lachte höhnisch und richtete einen Revolver auf Michaels Kopf. »Bringen Sie mich nicht zum Lachen, Mann. Stellen Sie sich neben sie.«

»Gern.« Michael schlenderte zu Emily und löste das Klebeband, das ihr den Mund verschloss. Sie machte sich auf den Schmerz gefasst, aber sie spürte nicht das Geringste.

»Ihr könnt nicht beide umbringen“, rief David mit schriller Stimme.

»Natürlich können wir das«, widersprach seine Schwester. »Eigentlich ist das die perfekte Lösung. Er tötet sie und erschießt dann sich selbst. Ausgezeichnet. So was passiert immer wieder.«

»Ich habe der Polizei gesagt, wo sie Sie finden können und was Sie Vorhaben«, erklärte Michael, während er Emilys Fesseln aufknotete. Zumindest merkte sie, dass die Fesseln weg waren, aber sie sah nicht, dass sich Michaels Hände bewegten.

»Jeder Polizist ist käuflich«, erklärte Statler. »Außerdem hat dieser Idiot Donald so schlimme Dinge über diese Frau verbreitet, dass alle Welt glauben wird, sie habe nur das bekommen, was sie verdient.«

Davids Schwester bedachte Emily mit einem eisigen Lächeln. »Meine Liebe, es ist ein bisschen spät für diese Erkenntnis, aber es ist ein Fehler, einem Mann zu trauen. Donald macht gemeinsame Sache mit uns. Er hat uns auf Ihre Spur gesetzt und zur Belohnung das Versprechen bekommen, dass er bei der nächsten Gouverneurswahl als Kandidat aufgestellt wird.«

Emily starrte sie fassungslos an, und Michael nahm ihre Hand. Wie immer beruhigte sie seine Berührung augenblicklich. Sie dachte daran, wie sehr sie ihn liebte, und er schien ihre Gedanken zu kennen, denn er drückte leicht ihre Hand. Sie fühlte sich gleich viel besser.

»Sie können mich nicht töten«, sagte Michael, ohne sich von Emilys Seite zu rühren. »Egal was Sie mir antun, ich sterbe nicht, bevor höheren Orts beschlossen wird, dass ich diese Erde verlassen soll.«

Michael hatte sich David und seiner Schwester zugewandt und konnte nicht sehen, dass Charles spöttisch grinsend auf ihn zielte und auf den Abzug drückte.

Emily überlegte keinen Augenblick. Sie wusste nur, dass sie ohne Michael nicht mehr auf diesem Planeten sein wollte. Wenn er ging, dann würde sie auch gehen, und so verließen sie wenigstens gemeinsam diese Welt.

Ohne an ihr eigenes Leben zu denken, warf sie sich vor Michael, und die Kugel durchbohrte ihr Herz.