Kapitel 10

Als sich Emily am Freitagabend in der Badewanne zurücklehnte und die Augen schloss, dachte sie daran, dass sie in dieser Woche so gut wie alles falsch gemacht hatte. Gleichzeitig musste sie sich eingestehen, dass es die interessanteste Woche ihres Lebens gewesen war. Selbstverständlich hätte sie in Donalds Gesellschaft eine schönere Zeit erlebt, rief sie sich ins Bewusstsein, aber trotzdem waren diese Tage außergewöhnlich gewesen.

Als Michael am Dienstag in der Bibliothek aufgetaucht war, hatte sie befürchtet, dass er erkannt werden könnte. Sie hatte ihn schon in einer Blutlache auf der Straße vor sich liegen gesehen. FBI-Agenten und Mafia-Killer mit Revolvern neben ihm. Doch trotz ihrer schlimmsten Vorstellungen war an diesem Nachmittag kein Kopfgeldjäger erschienen, und ihre Nervenanspannung löste sich allmählich.

Allerdings hatte sie kaum Zeit, sich wirklich zu entspannen, denn sie hatte keine zwei Minuten ihre Ruhe, nachdem Susan Shirley die Bibliothek verlassen und in der Stadt verbreitet hatte, dass ein akzeptabler Fast-Junggeselle in der Bibliothek saß.

Greenbriar war eine Stadt von Pendlern, und während der Woche sah man kaum einen Mann auf den Straßen. Die meisten verbrachten wie Donald die Woche in Stadtwohnungen und kamen am Freitagabend mit Aktentaschen voller Arbeit nach Hause.

»Dies ist eine Militärstadt«, hatte Irene einmal behauptet. »Die Männer ziehen jeden Montag in den Krieg und kehren am Wochenende mit Bombenneurosen zurück.«

Emily fand Greenbriar nicht so schlecht, aber manchmal schienen die Frauen doch von so etwas wie Mannstollheit besessen zu sein.

Sobald sich herumgesprochen hatte, dass sich ein erwachsenes, heterosexuelles männliches Wesen in der Stadt aufhielt, wurde Michael zur Attraktion des Jahres.

Und er hat es in vollen Zügen genossen, dachte Emily angewidert, während sie mit dem Schwamm über ihr linkes Bein fuhr. Er liebte jede Minute, in der er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, ob sie ihm nun von einsamen Frauen oder von Kindern, die ihre Väter kaum zu Gesicht bekamen, entgegengebracht wurde.

Michael gab es bald auf, sich mit Emilys Recherchen über das Madison-Haus zu beschäftigen - was ihm, wie sie vermutete, nicht gerade schwer fiel -, und widmete sich ganz den Bewohnern von Greenbriar. Zur Mittagszeit ließ er die Papiere auf dem Tisch liegen und schlenderte zu der Ecke, die Emily mit kleinen Stühlen, großen Bodenkissen und einem dicken Teppich für die Kinder eingerichtet hatte. Emily hatte einem Raumausstatter drei Monate in den Ohren gelegen und um diese Sachspenden gebettelt.

Emily stempelte ein Buch nach dem anderen ab -ganz Greenbriar suchte einen Vorwand, hier zu sein, und lieh sich Bücher aus-, und Michael richtete währenddessen so etwas wie eine Reparaturwerkstatt in der Kinderecke ein. Es fing ganz harmlos an, als der Puppe eines Kindes, dessen Mutter Michael in der Stadt willkommen hieß, der Kopf abfiel. Die allein erziehende Mutter, eine geschiedene Frau, bemerkte die großen Tränen in den Augen ihrer kleinen Tochter nicht, aber Michael sah sie sofort. Er kniete sich hin, nahm die Puppe und den Kopf und setzte beides wieder zusammen.

Die Mutter plapperte aufgeregt, ohne wirklich etwas zu sagen, versuchte aber Eindruck auf das Objekt ihrer Begierde zu machen, während Michael nur Augen für die Kleine hatte.

»Kennst du Geschichten?«, flüsterte das kleine Mädchen und sah Michael flehend an.

»Ich kenne viele Geschichten über Engel«, sagte er sanft. »Und ich würde nichts lieber tun, als dir einige davon zu erzählen.«

Das Kind nickte und legte die Hand in Michaels, dann folgte es ihm zu einem der großen Sitzpolster. Die Mutter blinzelte verwirrt, dann wandte sie sich an Emily und fragte, ob sie ihre Tochter eine Weile hier lassen könne, während sie selbst Besorgungen mache.

»Ich ...«, begann Emily. Sie wollte nicht, dass die Bibliothek als Kindertagesstätte missbraucht wurde, aber dann warf sie einen Blick auf Michael und die Kleine; sie saßen auf dem Kissen, und das Kind sah Michael gebannt an, während er seine Geschichte erzählte. Emily erlaubte, dass das Mädchen blieb.

Danach lief alles aus dem Ruder. Kinder aus der ganzen Stadt strömten herbei, brachten kaputte Spielsachen mit und lauschten begeistert Michaels Geschichten.

Um drei Uhr rief Emily ihre Teilzeit-Hilfskraft an und bat sie zu kommen, weil einer allein nicht mehr mit dem Ansturm fertig wurde. Gidrah war so erschrocken über diese Bitte, dass sie kein Wort sagte und in null Komma nichts vor dem Tresen stand. Emily fragte lieber nicht, wie schnell sie gefahren war.

»Grundgütiger Gott«, sagte Gidrah und riss die Augen auf, als sie den Betrieb in der ansonsten so ruhigen Bibliothek sah. »Wer ist das?«

Gidrah war einen guten Kopf größer als Emily und brachte etliche Pfunde mehr auf die Waage, und sie war die großherzigste Person, die Emily je kennen gelernt hatte. Gidrah lebte mit ihrem Mann, der sich nur hin und wieder blicken ließ, und zwei halbwüchsigen Söhnen, deren Leben hauptsächlich aus Essen und Fernsehen bestand, am Rande der Stadt. Sie hatte Emily einmal gestanden, dass die Arbeit in der Bücherei die größte Freude ihres Daseins war.

»Mein Cousin«, antwortete Emily über die Köpfe der drei Frauen hinweg, die darauf warteten, dass ihre Bücher abgestempelt wurden. »Könnten Sie das hier übernehmen, während ich die Bücher für die Kunden heraussuche?«

»Klar.« Gidrahs Augen waren noch immer kugelrund, als sie Michael inmitten der Kinder anstarrte. »Ist er der Rattenfänger von Hameln?«

»Nein, ein Engel«, gab Emily, ohne nachzudenken, zurück, dann sah sie Gidrah an, zuckte mit den Achseln und verschwand zwischen den Regalen. Sobald sie nicht mehr hinter dem Tresen festsaß, erging es ihr wie all den anderen Frauen - sie wollte unbedingt hören, was Michael den Kindern erzählte.

Mit einem Stapel Büchern in den Armen blieb sie am Rand einer Gruppe stehen und lauschte. Sie wusste selbst nicht, was sie erwartet hatte - vielleicht religiöse Lehren oder Episoden aus der Bibel. Aber er erzählte von Amerikas Geschichte und dem Revolutionskrieg, als wäre er selbst dabei gewesen.

Und er konnte all die Fragen beantworten, die die Kinder ihm stellten. »Was haben sie gegessen?« - »Was haben sie gemacht, wenn sie auf die Toilette mussten?« -»Haben ihre Daddys in der Stadt gearbeitet?« - »Mochten sie Videospiele?«

Nichts brachte Michael aus der Fassung. Emily schlich sich unwillkürlich näher heran, weil sie selbst gern ein paar Fragen gestellt hätte. Aber als Michael zwinkernd zu ihr aufschaute, erinnerte sie sich an ihre Pflichten und brachte den wartenden Kunden die Bücher.

Gidrah stempelte, so schnell sie die Karte aus den Büchern ziehen konnte. »Ich glaube, Sie sollten lieber das Fenster zumachen, sonst fliegen diese Papiere da drüben noch überall herum«, sagte sie und deutete mit dem Kinn zu dem Tisch in der Ecke, auf dem die Dokumente über das Madison-Haus lagen.

Emily beobachtete voller Entsetzen, wie eine Seite nach der anderen umgeblättert wurde, als würde ein Unsichtbarer dort sitzen und die Schriftstücke lesen. Ein dicker Ordner wurde von dem Stapel genommen, auf den Tisch gelegt und aufgeschlagen.

Emily musste sich sehr beherrschen, um nicht loszurennen und so die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, trotzdem stieß sie gegen zwei Stühle, als sie zu dem Tisch eilte. »Hört auf damit«, fauchte sie. »Ihr beide erschreckt meine Kunden.« Augenblicklich blieben die Papiere reglos liegen.

Sie hätte es dabei bewenden lassen können, doch irgendwie hatte sie das Gefühl, zwei Kunden verprellt und ihnen die Benutzung der Bibliothek verwehrt zu haben. Sie hatte kein Recht dazu, nur weil diese beiden Kunden körperlos waren, oder?

»Verdammt, verdammt und noch mal verdammt«, fluchte sie, dann zog sie den großen Wandschirm aus Kork aus der Ecke und stellte ihn vor den Tisch. »Jetzt könnt ihr weitermachen«, sagte sie. »Aber wenn jemand hierher kommt, rührt ihr keinen Finger, verstanden?«

Emily war nicht sicher, aber als sie sich umdrehte, glaubte sie, eine Männerstimme sagen zu hören: »Danke.«

Sie riss die Hände hoch. »Na, großartig. Ich helfe Gespenstern, ihre Langeweile zu überwinden.«

Gidrah deutete auf den Wandschirm. »Mit wem haben Sie geredet?«

»Mit mir selbst«, gab Emily zurück. »Ich habe meine Unterlagen über das Madison-Haus da drüben und will nicht, dass sie jemand anrührt.« Sie machte sich davon, ehe Gidrah fragen konnte, warum sie die Papiere nicht ins Büro brachte. Was hätte sie darauf sagen sollen? Dass es ihr lieber war, wenn diese beiden toten Männer, von denen einer vielleicht ein Mörder gewesen war, ihr Büro nicht betraten?

Jetzt lag sie in der Badewanne und dachte daran, dass es vier Tage lang in der Bibliothek zugegangen war wie in einem Tollhaus. Zuerst waren die Frauen gekommen, um Michael kennen zu lernen - in ihren Augen stand die Hoffnung auf eine wilde Romanze und eine dauerhafte Verbindung. Zumindest glaubte Emily, das in ihren glühenden Blicken lesen zu können. Doch mit der Zeit veränderten sich die Dinge.

»Lasset die Kinder zu mir kommen«, hatte Gidrah am Mittwochnachmittag gesagt, als sie beobachtete, wie Michael mit den Kleinen scherzte und lachte und ihnen ein Spiel aus dem fünfzehnten Jahrhundert zeigte. »Diese Szene erinnert mich an den Bibelspruch. Er will, dass die Kinder zu ihm kommen - genau wie Jesus.«

»Ich denke, Michael steht auf einer anderen Ebene«, erwiderte Emily spitz, als sie einen Bücherstapel auf den Tresen legte.

»Ebene?«, wiederholte Gidrah lächelnd. »Ich glaube, Sie sind eifersüchtig, Emily. Und das kommt mir merkwürdig vor, da Sie doch mit Donald verlobt sind und bald heiraten wollen. Wie geht’s ihm übrigens? Was sagt er dazu, dass Sie mit diesem muskulösen, dunkelhaarigen Adonis in einer Wohnung wohnen?«

Emily schwieg.

»Gut, gut«, fuhr Gidrah fort. »Der Röte nach zu schließen, die in Ihre Wangen steigt, würde ich sagen, dass Mr. News nichts von diesem ... äh ... Cousin weiß. Sagen Sie, wie sind Sie genau mit ihm verwandt?«

Emily fragte sich, wieso ihr Gidrahs Sinn für Humor jemals gefallen hatte. »Mütterlicherseits«, erwiderte sie freundlich. »Wir haben dieselbe Großmutter.«

»Oh«, machte Gidrah und stempelte drei Bücher ab. »Die Großmutter, die mit meiner Großmutter zur Schule gegangen ist? Die, die einen Mann aus Tulsa geheiratet und nur eine Tochter - Ihre Mutter - zur Welt gebracht hat? Diese Großmutter?«

»Ich hasse Kleinstädte«, murmelte Emily, als sie sich hinter ein Regal zurückzog.

Nur an den Abenden verbrachte sie einige Zeit mit Michael, und sie benahmen sich wie Menschen auf der Flucht, die ihren Verfolgern zu entkommen versuchten. Am Dienstag standen, als Emily die Bibliothek zuschloss, ein paar Frauen mit einer dampfenden Backform auf der Straße. »Wenn Sie den ganzen Tag arbeiten und einen Gast haben, können Sie doch bestimmt ein bisschen Hilfe gebrauchen, Emily«, sagte eine von ihnen - Emily kannte sie nicht, aber sie entdeckte eine weiße Stelle an ihrem Ringfinger, die daraufhindeutete, dass sie ihren Ehering vor kurzem abgezogen hatte.

»Ich danke Ihnen, aber...«, begann Emily, doch Michael nahm die Pastete an sich und schenkte der Frau ein strahlendes Lächeln.

»Hier, da stehen mein Name, meine Adresse und meine Telefonnummer drauf«, sagte sie. »Sie können mir den Topf irgendwann zurückbringen.«

Es war eine Einweg-Backform aus Alu. Emily verzog den Mund zu einem knappen Lächeln. »Natürlich«, murmelte sie, »reizend von Ihnen.« Sie wandte sich Michael zu. »Können wir gehen?«

Auf dem Weg zu ihrer Wohnung blieben vier Autos neben ihnen stehen. Die Frauen, die am Steuer saßen, erinnerten Michael an irgendwelche Einladungen, die er tagsüber angenommen hatte. Emily und Michael fanden siebzehn Nachrichten vor, die zwischen Wohnungstür und Rahmen steckten. »Für dich«, sagte Emily und drückte ihm die Zettel in die Hand.

Sie ging sofort in ihr Schlafzimmer und nahm sich vor, nie wieder herauszukommen. Sie wusste selbst nicht, warum sie so wütend war. Als Michael, ohne vorher anzuklopfen, hereinkam, hob sie an, ihm unmissverständlich klarzumachen, dass dies ihr ganz privater Bereich sei, aber sie brachte kein Wort heraus. Stattdessen brach sie zu ihrem Entsetzen in Tränen aus.

Michael stürzte zu ihr, setzte sich aufs Bett und nahm sie in die Arme. »Alles ist gut«, tröstete er sie. »Niemand jagt mich, niemand will mich verhaften.«

»Darum geht es nicht«, schluchzte sie und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen. »Es ...« Genau genommen hatte sie selbst nicht die geringste Ahnung, was mit ihr los war, aber irgendwie schien ihre Niedergeschlagenheit damit zusammenzuhängen, dass Michael nicht mehr ihr ganz allein gehörte. Aber das wollte sie unter keinen Umständen eingestehen, nicht einmal sich selbst.

»Komm, lass uns etwas essen und dann ein wenig in den Wald gehen«, sagte Michael, der noch immer die Arme um sie geschlungen hatte. »Ich will mit dir allein sein und hören, was du den ganzen Tag gemacht hast. Und ich erzähle dir von den Kindern.«

»Und von diesen Frauen«, fügte Emily wie ein trotziges kleines Mädchen hinzu.

»Weißt du, Emily, nicht eine einzige von denen hat ein so gutes Herz wie du. Nicht eine besitzt deinen reinen Geist oder deine Großzügigkeit. Einige von ihnen sind regelrechte ... wie ist die Bezeichnung für diesen Fisch, den ihr Sterblichen so sehr fürchtet?«

»Hai?«

»Genau. Sie mochten mich gar nicht und wollen mich nicht einmal genauer kennen lernen - sie wollen nur einen Mann.«

Wenn er, wie es die meisten anderen Männer getan hätten, behauptet hätte, sie sei die schönste Frau der Stadt, hätte sie ihm kein Wort geglaubt. Aber er sprach von ihrer Gutherzigkeit und ihren inneren Werten.

Bevor sie etwas erwidern konnte, klopfte jemand an die Tür. Emily verzog das Gesicht.

»Zieh die Jeans an - die mit dem Riss auf der Kehrseite -, und ich kümmere mich ums Essen, dann sehen wir zu, dass wir von hier wegkommen«, sagte er, als er zur Wohnungstür ging. »Alfred und Ephraim haben mir heute einige interessante Dinge erzählt. Morgen brauchen sie Papier und Bleistifte, damit sie sich Notizen machen können.«

Emily war drauf und dran zu fragen, wer Alfred und Ephraim waren, aber sie kannte die Antwort.

»Sie können unmöglich schreiben - jeder könnte sehen, wie sich die Stifte bewegen«, rief sie Michael nach. Als ihr bewusst wurde, was sie gerade von sich gegeben hatte, musste sie selbst lachen. Hätte sie nicht wie alle Menschen Angst vor Gespenstern haben müssen? Sie stand auf, um ihre zerrissenen Jeans aus dem Schrank zu holen.