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»Es ist schrecklich, wie man sie ganz offen als Untermenschen behandelt«, sagte Hammer. »Jeder Mensch hat seinen Stolz, auch wenn er völlig ungebildet ist. Und wenn man den Stolz eines Menschen immer wieder verletzt, macht man ihn sich zum Feind. Erst gestern habe ich einen Farbigen kennengelernt, der mir erzählte, was sein Vater auf einer Kaffeeplantage alles mitgemacht hat. Es war kaum zu glauben.«

»Kein Wunder, daß wir in der ganzen Welt verhaßt sind«, sagte Helen.

Jim schenkte allen Wein nach und setzte sich. »Ich finde, wir sollten uns nicht immer wieder wegen Dingen herumquälen, die vor fünfzig Jahren passiert sind.«

»Warum nicht?« fragte Hammer.

Caroline lächelte. »Merkst du denn nicht, Paul, daß Jim solche Sachen bloß sagt, um dich noch mehr hochzubringen?«

»Eine Ungerechtigkeit bleibt eine Ungerechtigkeit, ganz gleich, wie lange sie zurückliegt«, sagte Hammer ein wenig salbungsvoll.

»Schön, und wenn du festgestellt hast, daß eine Ungerechtigkeit passiert ist – was kannst du dann noch dagegen tun?« fragte Jim.

»Ich kann versuchen, sie wiedergutzumachen.«

»Aber du kannst doch durch nichts auch nur das geringste daran ändern?«

»Natürlich kann man Geschehenes nicht ändern, aber …«

»Hört auf, hört auf«, rief Caroline. »Soll das den ganzen Abend so weitergehen? Jim will dich doch bloß ärgern, Paul.«

Jim tat beleidigt. »So etwas traust du mir zu?«

»Selbstverständlich.«

»Et tu, Brutus!«

»Was übersetzt heißt: Du kannst dich auf was gefaßt machen, wenn wir heute abend zu Bett gehen«, sagte Hammer lächelnd.

»Das wäre wenigstens mal eine Abwechslung«, erwiderte Caroline. »Meistens ist er so müde, daß er sich hinlegt und nach fünf Sekunden schon schnarcht.«

»Ich schnarche nicht«, sagte Jim.

»Und wie. Manchmal hört es sich an wie das Nebelhorn der Queen Mary.«

»Das kannst du nie gehört haben – dazu bist du viel zu jung.«

Caroline lachte. »Solche falschen Schmeicheleien verfangen bei mir nicht, mein Herr.«

Jim aß das kleine Stück Brie, das er sich genommen hatte, und trank seinen Wein aus. Seit sie auf der Farm lebten, hatten die Hammers sich als richtige Freunde erwiesen. Sie kannten seine Vergangenheit, doch das schien ihnen nicht das mindeste auszumachen: sie zeigten weder Mitgefühl noch übertriebenes Interesse, sondern betrachteten das Ganze als eine natürliche Angelegenheit, über die man nur sprach, wenn es nötig war.

»Einen Penny für deine Gedanken, Jim«, sagte Helen plötzlich.

»Ich würde sogar zwei dafür geben, wenn sie skandalös genug sind. Woran hast du gedacht? Hast du den wahren Grund erfahren, warum Molly ohne Hugh nach Schottland gefahren ist?«

»Wenn du’s unbedingt wissen willst – ich dachte, daß Paul der anständigste Kerl ist, den ich je gekannt hab.«

»Du Knallkopf!« rief Hammer.

Helen lachte. »Du machst ihn ja ganz verlegen.«

 

Es war Mittwoch, der 25. September. Das Wetter war plötzlich umgeschlagen, seit dem Morgen fiel ein feiner Nieselregen vom bleifarbenen Himmel.

Elkin zündete sich eine neue Zigarette an und blickte auf die Uhr. Noch eine Stunde. Er war sich seines Plans jetzt nicht mehr so sicher. Womöglich ging irgend etwas schief … Er wandte sich plötzlich um und sagte zu Friendly: »Weißt du genau, was du zu tun hast?«

»Dem Fahrer das Zeug ins Gesicht sprühen und sie dann beide k.o. schlagen.« Friendly ließ seine riesige Faust durch die Luft sausen.

Er scheint’s begriffen zu haben, dachte Elkin. Doch es war verdammt schwer zu sagen, wieviel wirklich in seinen dicken Schädel eingedrungen war, und wenn er … Elkin fluchte leise. Er benahm sich wie ein altes Weib, machte sich Sorgen um hundert Dinge. Er durfte nur an eins denken: daß dies eine ganz große Sache war, der Schlüssel zu Noshs Reich. Alles war genauestens geplant, alles würde wie geplant klappen.

»Es ist Zeit, Mike, wir müssen los«, mahnte Bailey.

»Ich bestimme hier«, erwiderte er gereizt. »Zieht die Handschuhe an.«

Sie verließen das Haus, gingen zum Ende der Straße und dann nach rechts zu einem Parkplatz neben einem alten Kino. Es gab keinen Wächter, nur einen Parkscheinautomaten neben dem Eingang. In der hinteren linken Ecke des Platzes standen zwei Kombiwagen, ein grüner und ein brauner. Elkin, Friendly und Bailey gingen zu dem grünen, hinter dessen Lenkrad Campbell saß. Pigeon, der in dem braunen Kombi wartete, tat, als sähe er sie nicht.

Elkin setzte sich auf den Beifahrersitz, Bailey und Friendly hinten auf den Boden. Bailey überzeugte sich, doch die vier Uniformmützen, die vier Regenmäntel, die beiden Spraydosen und das Funkgerät waren da.

»Okay«, sagte Elkin.

Campbell fuhr los. Der braune Kombi blieb stehen. Pigeon würde erst in fünf Minuten aufbrechen und nach Norden fahren, bis er auf die Umgehungsstraße stieß.

Da nur wenig Verkehr herrschte, dauerte die Fahrt durch Dracenden nicht lange, und sie erreichten die Küstenstraße früher als geplant. Sie fuhren die zweiundzwanzig Kilometer bis Gerlingford mit sechzig und waren zur vorgesehenen Zeit an der nördlichen Abzweigung zur Umgehungsstraße.

Sie kamen an dem Panzer aus dem Ersten Weltkrieg vorbei, auf dessen Turm ein Korb mit verdorrten Blumen stand, und bogen in die High Street ein. Der Verkehr war viel stärker als in Dracenden, und sie verloren ziemlich viel Zeit. An der ersten Verkehrsampel mußten sie anhalten, und die zweite sprang kurz vor ihnen auf Gelb. Campbell betätigte den Blinker, gab Gas und wollte einbiegen. Plötzlich bremste er.

»Was soll denn das, verdammt noch mal?« fragte Elkin, der nach vorn geschleudert wurde.

»Polente«, murmelte Campbell.

Elkin warf einen Blick auf den uniformierten Polizisten, der neben dem Eingang eines Möbelgeschäftes stand, und verfluchte seine Nervosität. Doch es hing soviel von der Einhaltung des Zeitplans ab. Bailey begriff das, Campbell und Friendly jedoch sicher nicht.

Die Ampel sprang auf Grün, und sie bogen in die Station Road ein.

Elkin ging im Geist noch einmal die Einzelheiten des Überfalls durch. Es war ein einfaches Vorhaben, so einfach, daß Red Pigeon lange nicht geglaubt hatte, daß es Erfolg haben konnte. Alles hing von der Einhaltung des Zeitplans ab – mit ihr stand und fiel der Plan. Wenn die Sache mißlang, würde Nosh Townley sich halbtot lachen.

Sie kamen am Busbahnhof und der Garage vorbei, fuhren über die Eisenbahnbrücke und bogen bei dem Kino nach links ab.

Hundert Meter weiter begegnete ihnen ein weißer Streifenwagen. Eine Sekunde lang verlor Elkin den Kopf und war überzeugt, daß aus irgendeinem Grund Alarm gegeben worden war. Doch er beruhigte sich sofort wieder und sagte sich, daß das natürlich völliger Unsinn war. Der Streifenwagen war sicher rein zufällig in dieser Gegend.

Das Tor der Zigarettenfabrik tauchte auf, und Campbell parkte hinter einem uralten Mercedes, auf den der Schrottplatz schon wartete.

Die Minuten verrannen langsam. Der Nieselregen wurde etwas stärker, und Wasser rann über die Windschutzscheibe, so daß Campbell hin und wieder die Scheibenwischer einschalten mußte. Elkin schaute auf die Uhr. Der Lastwagen war bereits seit fünf Minuten überfällig, was bisher noch nie vorgekommen war. Sicher, das mit dem Streifenwagen war Zufall gewesen, aber …

Das Tor ging auf, und ein Mann trat auf die Straße und wartete, bis zwei Autos vorbeigefahren waren. Dann winkte er den Laster mit dem Anhänger heraus. Der Laster bog nach Süden ab und fuhr davon. Schwarzer Qualm quoll aus dem Auspuff.

Elkin atmete auf. Campbell legte schnell den Gang ein und brauste los. Bailey nahm einen Kaugummi aus der Tasche, packte ihn aus und steckte ihn in den Mund. Friendly rieb sich grinsend seine Knollennase.