15
Jim erwachte aus tiefem, traumlosem Schlaf und merkte, daß er an der Schulter gerüttelt wurde. Er rührte sich nicht, bis Carolines aufgeregtes Flüstern seine Benommenheit durchdrang. »Jim … Jim. Ich hab eben eine Wagentür gehört.«
Er setzte sich hastig auf. »Bist du sicher?«
»Nicht ganz, aber … Jim, ich hab Angst. Ich bin aus einem schrecklichen Alptraum aufgewacht, und als ich wieder einzuschlafen versuchte, hab ich das Geräusch gehört.«
Er stieg aus dem Bett, ging zum Fenster, zog den Vorhang ein Stück beiseite und spähte hinaus. Obwohl es ziemlich finster war, konnte er undeutlich auf dem Weg die Umrisse eines Autos und zwei dunkle Gestalten erkennen. Er lief zur Tür, öffnete sie, ging zum Treppenabsatz, kniete nieder und tastete nach dem Telefon. Er nahm den Hörer ab und wählte 999. Das Rufzeichen ertönte. Herrgott, wieso meldete sich denn niemand? Das war doch …»Was wünschen Sie: Polizei, Krankenwagen oder Feuerwehr?«
»Polizei.«
Wieder aas Rufzeichen. »Distriktspolizei. Was gibt’s?«
»Hier Parker, Rowan Tree Farm. Die Männer sind wieder da. Um Himmels willen, kommen Sie sofort her.«
»Wo ist die Farm, bitte?«
»Bei Catchforth Cross. Ich hab zwei Männer gesehen, und …«
»Bitte noch mal Ihren Namen?«
»Herrgott noch mal … Parker. Sie haben neulich versucht, mich zusammenzuschlagen. Jetzt sind sie wieder da.«
»Ich schicke sofort einen Streifenwagen.«
Er legte auf. Wie lange würde es wohl dauern, bis der Streifenwagen kam? Fünf Minuten, zehn Minuten? Vielleicht sollte er den Dorfpolizisten anrufen. Aber der wohnte fünf Kilometer weit weg, und wenn er im Bett lag … Die Hammers. 322. Oder 233? Warum mußte ausgerechnet in so einem Moment sein Gedächtnis versagen? 322.
Er tastete mit drei Fingern nach den Nummern und wählte 322. Es klingelte.
»Ja?« meldete sich eine verschlafene Stimme.
»Hier Jim. Die Männer sind wiedergekommen – eben ist ein Auto vorgefahren. Ich hab die Polizei angerufen, aber wer weiß, wie lange sie brauchen wird …«
»Aber … aber …«
»Du hast doch eine Schrotflinte. Geh bitte vors Haus und gib ein paar Schüsse ab. Das wird sie vielleicht vertreiben.«
»Aber ich …«
Die Stimme brach ab. Jim klopfte auf die Gabel des Telefons. Nichts … Offenbar war die Leitung durchschnitten worden. Dann blieben nur noch Sekunden … Aber vielleicht würden Pauls Schüsse sie vertreiben …
Er hörte das kratzende Geräusch, mit dem ein Schlüssel ins Schloß der Küchentür geschoben wurde. In einer Lade seiner Kommode im Schlafzimmer lag ein Totschläger – sein Vater hatte ihn vor vielen Jahren in Port Said gekauft. Er rannte zurück.
»Versteck dich im Schrank«, flüsterte er aufgeregt.
»Jim …«
»Los, Carry, in den Schrank …«
Während er die rechte Lade der Kommode herauszog, sprang sie aus dem Bett. Sie ging zu dem Einbauschrank, öffnete die Tür, schob sich hinein und zog die Tür zu.
Er wühlte in der Schublade herum … Endlich – da war der Totschläger.
Paul Hammer hatte inzwischen genug Zeit gehabt, die Schrotflinte zu holen und vor das Haus zu laufen. Warum schoß er nicht?
Aus der Küche drang ein lautes Klirren. Anscheinend hatten sie die Fensterscheibe eingeschlagen. Er steckte die rechte Hand durch die Schlinge des Totschlägers, umklammerte ihn und lief hinaus.
Helens Gesicht war von Angst verzerrt. »Paul, du bleibst hier.«
Er stand in der Mitte des Schlafzimmers. »Aber Jim hat gesagt …«
»Das sind gefährliche Verbrecher.«
»Ja, aber … Ich will doch nur ein paar Schüsse abgeben.«
»Du gehst nicht«, rief sie mit schriller Stimme. »Denk bitte an Juliana und Casper.«
»Ich kann ihm aber vielleicht helfen.«
»Willst du, daß sie dich erschlagen?« schrie sie.
Er schwieg.
»Du wirst nicht seinetwegen dein Leben riskieren! Er ist selber schuld an allem!«
»Aber Caroline …«
»Unsere Kinder sind wichtiger als die beiden.«
»Er sagte, er hat die Polizei angerufen«, murmelte Hammer. »Du hast recht. Eigentlich ist das ihre Sache.«
Jim stürzte in die Küche. Er hoffte, sie so zu erschrecken, daß sie die Flucht ergreifen würden, doch im Licht ihrer Taschenlampen sah er, daß es vier Männer waren. Sie befanden sich bereits in der Küche, und ein fünfter stieg eben durchs Fenster.
Er schlug mit dem Totschläger zu und traf den Mann, der ihm am nächsten stand, seitlich am Kopf; der Mann schrie auf, taumelte an die Wand und sackte zusammen. Die andern drei stürzten auf ihn zu. Er versetzte dem ersten einen Schlag auf die Schulter. Als er wieder ausholte, wurde sein rechter Arm gepackt und brutal herumgedreht. Eine Faust traf ihn in den Magen, und er krümmte sich zusammen. Jemand trat ihn mit dem Fuß in die Seite, und der Schmerz brachte ihn wieder zu sich. Er richtete sich auf. Der fünfte Mann war hereingeklettert und eilte durch die Küche; sein Gang kam ihm irgendwie vertraut vor.
Die drei Männer kamen auf ihn zu; ihre mit Strümpfen überzogenen Gesichter sahen im Licht der Taschenlampen unheimlich und grotesk aus. Er wich zurück, bis er an die Tür des Kühlschranks stieß; dann warf er sich zu Boden, rollte sich herum und versuchte ihnen zu entkommen. Ein Gummiknüppel traf ihn auf den Kopf und betäubte ihn halb. Der Schlag eines anderen lahmte ihm den linken Unterarm. Er holte mit dem Totschläger aus, doch ein Gummiknüppel sauste auf seinen Nacken nieder, und er brach zusammen. Sie bearbeiteten ihn mit Fußtritten. Dankbar spürte er, wie er das Bewußtsein verlor, doch ein Tritt in die Seite war so schmerzhaft, daß er laut aufschrie und wieder zu sich kam.
Im ersten Stock ertönte ein durchdringender Schrei, gleich darauf ein zweiter. Jim versuchte verzweifelt sich hochzurappeln, um Caroline zu Hilfe zu eilen, doch er sank kraftlos wieder auf den Boden. Einer der Männer rief den anderen etwas zu, und sie rannten aus der Küche und die Treppe hinauf.
Die Schreie brachen ab. Er hörte laute Männerstimmen, dann polterten Schritte die Treppe herunter. Die Männer liefen an ihm vorbei. Der eine fluchte, als er durch das eingeschlagene Fenster kletterte.
Jim hörte Caroline schluchzen – ein tiefes, heftiges Schluchzen, das ihren ganzen Körper erschüttern mußte. Er nahm alle Kraft zusammen, um sich aufzurichten, doch er sackte wieder zusammen.