11

Atkins wohnte in einem polizeieigenen Haus, fünf Minuten vom Präsidium entfernt. Es war hübsch und einfach, und er hätte auch gern nach seiner Pensionierung in so einem Haus gelebt, doch obwohl seine Frau und er sich einiges Geld zusammengespart hatten, war es wegen der Geldentwertung zweifelhaft, ob sie sich das würden leisten können.

Wenn es sich ermöglichen ließ, aß er mittags immer daheim – das Essen in der Kantine war schlecht –, und an diesem Samstag kam er zehn Minuten zu früh. June bereitete gerade den Pudding zu, und so setzte er sich an den Tisch und zündete sich eine Zigarette an.

Er dachte an Parker. Atkins mochte Verbrecher nicht, deshalb hätte er Parker gegenüber Abneigung empfinden müssen, denn er war schuld am Tod eines Menschen. Er empfand jedoch Achtung vor ihm, denn Menschen, die zu kämpfen verstanden, hatte er immer geachtet, und er wußte, welchen Kampf es kostete, aus einem verkommenen Anwesen, wie der Rowan Tree Farm, einen existenzfähigen Hof zu machen.

Was steckte wirklich hinter der ganzen Sache? Ein Trick erschien ihm höchst unwahrscheinlich, doch wenn es keiner war, wie waren dann der Laster und der Anhänger in Parkers Scheune gekommen? Der Raubüberfall bewies, daß die Ganoven äußerst gerissen waren, und gerissenen Ganoven würde nicht so ein Irrtum unterlaufen. Es gab irgend etwas an der Sache, wohinter er noch nicht gekommen war, und sein Instinkt sagte ihm, daß es etwas sehr Gefährliches war.

»Hör auf zu träumen«, sagte June.

Er blickte auf. »Was?«

»Komm auf die Erde zurück, das Essen ist fertig.«

Er stand auf, ging um den Tisch herum zum Herd und tat sich Fleisch, Kartoffeln und Erbsen auf einen Teller. Dann setzte er sich und begann zu essen.

»Stimmt irgendwas nicht?« fragte sie besorgt.

Er schüttelte den Kopf. »Das ist ja gerade der Haken – ich habe keine Ahnung. Diese Sache mit den Zigaretten macht mir ziemliches Kopfzerbrechen.«

»Wieso?«

Er schluckte einen Mundvoll Kartoffeln hinunter, bevor er antwortete. »Die Burschen haben bewiesen, daß sie sehr clever sind und trotzdem etwas unglaublich Dummes getan. Es gibt nur eine Erklärung dafür: daß dieser Parker sie hereinlegen wollte. Aber seit ich Parker kennengelernt habe, traue ich ihm das nicht zu. Es muß irgendwas geben, das ich noch nicht entdeckt habe, einen Schlüssel zu dem ganzen Problem …« Er brach ab und starrte schweigend vor sich hin.

Sie seufzte. »Anscheinend hast du vergessen, daß du dir heute nachmittag freinehmen und mit mir Ruth besuchen wolltest?«

»Ja, tatsächlich«, erwiderte er.

»Hätte ich nur auf meine Mutter gehört. Sie hat mich davor gewarnt, einen Polizisten zu heiraten.«

»Ich weiß, sie hat sich alle Mühe gegeben, dich davon abzubringen.« Er aß eine Weile; dann schnippte er plötzlich mit den Fingern. »Mein Gott, daß ich darauf nicht schon früher gekommen bin – Friendly! Ganz klar – wenn etwas so Dummes passiert, dann muß jemand die Hand im Spiel haben, der nicht ganz richtig im Kopf ist. Es muß irgendwas zwischen Friendly und Parker sein …« Er verstummte wieder.

»Was ist Parker für ein Mensch?« fragte sie.

»Ein zäher, selbstsicherer Bursche, einer, der entschlossen ist, sich durchzubringen, nachdem er mal einen Fehler gemacht hat und im Gefängnis war.«

»Es kommt selten vor, daß du über einen Vorbestraften etwas Positives sagst«, antwortete sie erstaunt.

»Ich weiß.« Er zuckte die Achseln. Darin hob er den Kopf und blickte auf die Uhr an der Wand. »Mein Gott, es ist höchste Zeit. Ich muß los.«

»Kommt gar nicht in Frage. Zuerst ißt du in aller Ruhe fertig – sonst holst du dir noch ein Magengeschwür«, sagte sie energisch. »Du arbeitest sowieso schon viel zuviel. Wenn sie dir nicht mal eine richtige Mittagspause gönnen, dann sollen sie zu mir kommen und mir das sagen.«

Er lachte leise. »Ich glaube kaum, das sie sich das trauen.«

Um Viertel drei war Atkins wieder im Präsidium. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch und zündete sich eine Zigarette an. Ein erfahrener Kriminalist hatte in manchen Fällen ein gewisses Gefühl; in diesem Fall hatte er es, und es gefiel ihm gar nicht. Er rief im Archiv an und bat um Auskunft über Friendly. Nach zehn Minuten meldete ihm der Sergeant, Friendly habe vor fünf Jahren eine kleine Strafe wegen Wilderei bekommen. Mit ihm zusammen war James Parker angeklagt gewesen.

Atkins begann auf einem Blatt Papier herumzukritzeln. Zwischen dieser Sache und Parkers Verurteilung wegen tödlicher Körperverletzung lagen drei Jahre – also mußte mehrere Jahre lang eine Beziehung zwischen Parker und Friendly bestanden haben. Die Freundschaft war auseinandergegangen – Parker hatte mit Friendly Schluß gemacht. Was für eine Wirkung hatte so etwas wohl auf einen Menschen wie Friendly?

Es klopfte, und Sergeant Witley trat ein. »Ich komme eben aus Dracenden, Sir. Ich habe mit dem diensthabenden Inspektor gesprochen und dann sämtliche Süßwarengeschäfte abgeklappert, in denen dieser Kaugummi verkauft worden sein könnte. Der Besitzer eines der Geschäfte hat Bailey ziemlich zögernd identifiziert.«

»Wieso zögernd?«

»Es ist ein schäbiger kleiner Laden im Westen von Dracenden, in der Nähe der Eisenbahnbrücke. Der Bursche hat sich sämtliche Fotos angeschaut, und erst als er sie das zweite Mal durchsah, zog er Baileys Foto hervor und sagte, er glaube, dieser Mann sei vor kurzem in seinem Geschäft gewesen.«

»Ganz sicher war er sich nicht?«

»Nein, Sir. Und er hatte auch keine Ahnung, was Bailey gekauft hat.«

Kein sehr toller Beweis, dachte Atkins wütend. »Zu dumm! … Also schön, dann fahren wir jetzt zu Elkin und knöpfen ihn uns vor. Ich muß nur noch schnell telefonieren. Ich habe den Chef gebeten, einen Haussuchungsbefehl ausstellen zu lassen.«

»Liegen denn dafür genug Beweise vor?«

»Nein, aber das brauchen wir ihm ja nicht auf die Nase zu binden.«

Sie stiegen in den Dienstwagen – Atkins benützte ihn so oft wie möglich, weil das Kilometergeld für seinen eigenen Wagen sehr gering war – und fuhren in Richtung Dracenden bis zur Kreuzung bei Kriton, wo sie nach rechts abbogen.

»Wo wollen Sie denn hin, Sir?« fragte Witley.

»Zum Polizeirevier in Ampton Cross. Ich möchte mich bei dem Dorfpolizisten nach Friendly erkundigen.«

Die Straße schlängelte sich zwischen hohen Böschungen und dichten Dornenhecken hindurch, und sie sahen nur wenig von den Feldern zu beiden Seiten. Ampton Cross lag drei Kilometer von der Hauptstraße entfernt, ein Dorf, das sich beiderseits einer L-förmigen Straße hinzog und an einem alten Steinbruch endete, der aussah wie eine Narbe zwischen den grünen Feldern. In der Mitte des Dorfes, gleich hinter einer alten Kirche mit einem Holzturm, befand sich das Polizeirevier, ein rechteckiges, modernes Gebäude, mit einem auf der rechten Seite angebauten Büro.

Der Dorfpolizist saß an seinem Schreibtisch über einem Stoß Akten. Er war ein ergrauter Mann mittleren Alters, der bis zur Pensionierung nur noch wenige Jahre hatte. Er erkannte Atkins sofort, stand auf und zog seine Krawatte zurecht.

Atkins setzte sich auf die Schreibtischkante und bot Zigaretten an. Ein wenig überrascht nahm sich der Dorfpolizist eine. Witley setzte sich auf einen der beiden Stühle.

»Ich hatte keine Ahnung, daß Sie kommen, Sir.«

Atkins knipste lächelnd sein Feuerzeug an. »Keine Vorwarnung durch den Buschtelegrafen? Wir sind zufällig vorbeigefahren, und da dachte ich, ich schau mal zu Ihnen herein und frage Sie, ob Sie mir helfen können. Wie lange sind Sie schon hier stationiert?«

»Fast sechs Jahre, Sir.«

»Dann können Sie mir sicher einiges über Albert Friendly erzählen. Was für ein Mensch ist er?«

»Nun, er ist ein bißchen beschränkt, Sir – ist er schon immer gewesen. Seine Mutter starb vergangenes Jahr, und bei dem Mann, den sie hatte, war sie wahrscheinlich froh, daß es für sie vorbei war. Ein richtiger Säufer, der Kerl. Albert hat nie einen richtigen Job gehabt, weil er’s nirgends lange aushielt. Die Dorfbewohner mögen ihn alle nicht. Als er ein Kind war, sollen ihm die anderen Jungens das Leben ziemlich sauer gemacht haben.«

»Sie meinen, sie haben ihn verspottet und schikaniert?«

»Genau, Sir. Er war immer ein Außenseiter. Und nach dieser Sache mit der Brücke wollte überhaupt niemand mehr etwas mit ihm zu tun haben.«

»Was war das für eine Sache?«

»Zwei der älteren Jungens, die ihn immer ärgerten, wohnten auf der anderen Seite des Flusses, ein Stück den Berg hinunter. Die Brücke war aus Holz, und als sie eines Tages drübergingen, brach sie ein. Friendly stand am Ufer und wollte sie nicht an Land lassen. Der eine Junge wäre fast ertrunken. Später hat man festgestellt, daß einer der Brückenpfeiler durchgesägt war.«

Atkins streifte die Asche seiner Zigarette auf dem Aschenbecher ab, der auf dem Schreibtisch stand. »Hatte die Sache irgendwelche Folgen?«

»Soviel ich weiß, nein, Sir – nur daß, wie gesagt, von da an niemand mehr etwas mit ihm zu tun haben wollte.«

»Was für Erfahrungen haben Sie selbst mit ihm gemacht?«

»Ich hatte nie Scherereien mit ihm. Ich habe ›Hallo‹ gesagt, wenn ich ihn sah, und er hat mit seinem großen Kopf genickt und gegrinst, und damit hatte sich’s.«

»Haben Sie ihn öfter mit irgendwem gesehen?«

»Ja, da war irgend so ein Bursche, mit dem er öfter rumzog …«

»James Parker?«

»Ich glaube, so hieß er. Er hatte zuviel Geld und zuwenig Verstand, wenn Sie mich fragen, Sir. Wenn ich Friendly mit ihm zusammen sah, dann kam mir Friendly vor wie ein …« Der Polizist suchte nach dem richtigen Wort. »Er kam mir immer vor wie ein kleiner Hund, der alles dransetzt, es seinem Herrn recht zu machen. Ich hab nie begriffen, was dieser Parker an ihm fand. Vielleicht war er schwul?«

Atkins schüttelte den Kopf. »Nein, das bestimmt nicht. Es machte ihm nur Spaß, alle andern vor den Kopf zu stoßen.« Er starrte auf die gegenüberliegende Wand, an der sich ein leeres Schwarzes Brett befand. »Haben Sie vor etwa drei Jahren irgendeine Änderung in Friendlys Verhalten bemerkt?« Der Polizist schüttelte den Kopf. »Nein, Sir.«

»Wann haben Sie ihn zum letztenmal gesehen?«

Der Polizist dachte angestrengt nach.

»Nicht so wichtig«, sagte Atkins. Er rutschte vom Schreibtisch. »Vielen Dank für Ihre Auskunft.«

»Tut mir leid, daß ich Ihnen nicht mehr sagen kann, Sir.«

Atkins verabschiedete sich und ging voraus zum Wagen. Als sie losfuhren, sagte er: »Können Sie sich in Friendlys Lage versetzen?«

»Inwiefern?« fragte Witley.

Atkins überraschte die Frage nicht; er wußte, daß Witley nicht viel Phantasie besaß. »Man mag Sie nicht, weil Sie geistig beschränkt sind; man hat Angst vor Ihnen, weil Sie mal einen Jungen, der Sie geärgert hat, fast ertränkt haben. Alle Leute im Dorf gehen Ihnen aus dem Weg. Was geschieht also, wenn jemand daherkommt und Ihnen eine Art Freundschaft anbietet? Sie greifen mit beiden Händen zu. Und dann ist mit dieser Freundschaft, die Ihnen so viel bedeutet, plötzlich Schluß. Das ist doch ein wirklich schmerzlicher Schlag, stimmt’s? Und Sie haben in der Vergangenheit gelernt, wie man zurückschlägt …« Er verstummte.

Während der Weiterfahrt nach Dracenden sprachen sie kaum. Im Büro des Polizeidirektors holten sie den Durchsuchungsbefehl ab, sprachen kurz mit dem für den Distrikt zuständigen Inspektor und fuhren dann hinaus zur Seaswaithe Road.

Als sie an der Tür von Nummer 36 klingelten, öffnete Elkin, und das erste, was die beiden entdeckten, war die Schramme an seiner Nase. Atkins reichte ihm den Durchsuchungsbefehl und trat in die Diele. Aus einem Zimmer auf der rechten Seite drang schallendes Lachen. »Wer ist dort drin?« Atkins deutete mit dem Daumen auf die Tür des Vorderzimmers.

»Freunde.«

Atkins trat in das Zimmer. Campbell und Pigeon saßen am Tisch und tranken. Als sie ihn erblickten, erstarrten ihre Gesichter, sie sahen ihn düster und haßerfüllt an. Friendly saß in einem Sessel. Er blickte nicht einmal auf, als sie eintraten.

»Ich möchte von jedem von Ihnen einen Schuh«, sagte Atkins.

Campbell und Pigeon sahen einander unsicher an. »Was soll denn das?« fuhr Elkin hoch.

»Los, machen Sie schon!«

Jeder zog einen Schuh aus. Witley untersuchte sie, wobei er keine sehr freundlichen Bemerkungen über den Geruch machte. Friendly hatte Größe elf, Campbell und Pigeon Größe zehn, Elkin Größe neun.

Atkins untersuchte beide Schuhe von Elkin. Sie hatten Gummisohlen mit einem deutlichen Muster. Von ihnen konnte der Abdruck zwischen den Brennesseln auf der Rowan Tree Farm also nicht stammen. Atkins gab die Schuhe zurück. »Ich möchte mich ein bißchen umsehen.«

»Wie wär’s, wenn Sie mir endlich sagen würden, was Sie eigentlich wollen?« beschwerte sich Elkin.

»Können Sie sich das nicht denken? Ich möchte gern wissen, ob ihr diese Trottel seid, die zwei Ladungen geklaute Zigaretten am falschen Platz untergestellt haben.«

Witley lachte. Elkin wurde rot. Daß man sich über ihn lustig machte, ärgerte ihn mehr als die Tatsache, daß die Polizei auf ihre Spur gekommen war. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

»Komisch, daß ich immer mit Leuten zu tun habe, die von nichts eine Ahnung haben. Kommen Sie, Witley, sehen wir uns die Bude mal an.«

Sie schauten in sämtliche Parterreräume und stiegen dann die Treppe hinauf. Die Diele im ersten Stock war L-förmig; von ihr gingen drei Schlafzimmer, ein Bad und eine Toilette ab.

In zwei Schlafzimmern herrschte schreckliche Unordnung; die Betten waren nicht gemacht, Kleidungsstücke lagen auf dem Boden, und auf den Möbeln standen leere Flaschen und schmutzige Gläser. Das dritte Schlafzimmer, das Elkin gehörte, war einigermaßen aufgeräumt. Atkins öffnete den Einbauschrank; fünf Anzüge und acht Paar Schuhe waren darin. An keinem der Anzüge war eine Spur Mist. Ein Paar Schuhe, das älteste, hatte glatte Sohlen und Absätze – von ihm konnte der Abdruck zwischen den Brennesseln stammen. »Die nehmen wir mit«, sagte Atkins und reichte sie Witley, der sie in einen Plastikbeutel steckte.

Elkin wollte protestieren, gab es aber nach wenigen Worten auf.

Vom Schlafzimmer gingen sie ins Bad, wo Atkins eine dunkle Hose fand, die Elkin gehörte. Am linken Bein war ein Fleck, der einen unverkennbaren Geruch ausströmte. Er lachte. »Sie waren es also, der auf den Misthaufen gefallen ist. Ich wette, die Jungens werden sich darüber schieflachen.«

Elkin preßte wütend den Mund zusammen und schwieg verbissen.

Witley steckte die Hose in einen anderen Plastikbeutel, versiegelte ihn und befestigte ein Etikett mit Zeitpunkt, Datum und Ort daran.

Atkins setzte sich auf den Rand der Badewanne. »Es muß ziemlich hart gewesen sein, festzustellen, daß Sie die Zigaretten am falschen Ort versteckt hatten.«

»Was für Zigaretten?«

»Und als der Farmer der Polizei meldete, was er in seiner Scheune entdeckt hatte, da beschlossen Sie, ihn zusammenzuschlagen.«

»Ich hab niemanden zusammengeschlagen.«

»Da haben Sie recht! Parker war viel zu stark für Sie. Anscheinend hat er Ihnen einen ziemlichen Schlag auf die Nase versetzt. Da rannten Sie weg, aber Sie rannten zu schnell und stolperten über den Misthaufen.«

Automatisch betastete Elkin die Schramme auf seiner Nase.

»Ich bin gegen eine Tür gestoßen.«

»Das war sehr unvorsichtig.«

Elkin ließ seine Hand sinken.

»Und wie ist der Mist an Ihre Hose gekommen?«

»Ich bin draußen auf dem Land spazierengegangen und ausgerutscht.«

»Sie sind in Ihrem ganzen Leben noch nie auf dem Land spazierengegangen. Für Sie ist das Land gefährliches Indianerterritorium. Los, sagen Sie schon die Wahrheit. Wir haben Sie am Wickel.«

»Ich weiß von nichts.«

Atkins seufzte. »Also schön, wenn Ihnen die harte Tour lieber ist … Das bedeutet, daß wir alle Hinweise, die Sie hinterlassen haben, überprüfen müssen, aber dafür werden wir ja schließlich bezahlt. Eine Frage. Wo waren Sie letzte Nacht?«

»Hier.«

»Können Sie das beweisen?«

»Fragen Sie doch die andern Jungens.«

»Ob Sie dafür Beweise haben, hab ich gefragt.«

»Sie müssen mir beweisen, daß ich nicht hier war, mein Lieber«, erwiderte Elkin. Seine Zuversicht stieg wieder.

Atkins lächelte. »Sobald Ihre Schuhe und Ihre Hose in unserem Labor untersucht worden sind, wird das kein Problem sein.«

»Sie werden nichts finden«, erwiderte Elkin spöttisch.

Um Elkin ein wenig einzuschüchtern, sagte Atkins verächtlich: »Man hat mir erzählt, daß Sie versuchen, sich hier in der Gegend als Gangsterboss zu etablieren. Das muß ein Witz sein.«

Elkin überging die Bemerkung, und Atkins kam bald zu dem Schluß, daß im Augenblick nichts aus ihm herauszuholen war. Er beendete das Verhör, ging die Treppe hinunter und bat Witley, Friendly ins Eßzimmer zu bringen.

Das Zimmer war in einem fürchterlichen Zustand, und der Tisch sah aus, als sei er seit Tagen nicht abgeräumt worden. Er öffnete das Fenster, schob ein paar leere Bierdosen beiseite und setzte sich.

Friendly trat ein, dicht gefolgt von Witley. Atkins musterte ihn. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, daß Friendly seine Kindheit in qualvoller Einsamkeit verbracht hatte. Sicher hatten sich die andern Kinder hämisch über seine Häßlichkeit, seinen plumpen Körper und seine Dummheit lustig gemacht.

»Setzen Sie sich«, sagte Atkins freundlich. »Sie brauchen keine Angst zu haben.«

Friendly sank auf einen Stuhl.

Atkins hielt ihm eine Schachtel Zigaretten hin, und Friendly nahm eine heraus. »Kennen Sie Mike schon lange?« fragte Atkins.

»Weiß nicht«, sagte Friendly.

Atkins lächelte. »An so was kann man sich schwer erinnern, was?«

»Er mag mich«, sagte Friendly.

»Sicher. Warum sollte er Sie auch nicht mögen?«

Friendly starrte Atkins einen Moment an, dann blickte er weg. Atkins wußte nicht recht, wie er seinen Blick deuten sollte.

»Gehen Sie oft zusammen aus?«

»Manchmal.«

»Wohin?«

»In Kneipen.«

»Er war doch sicher auch schon woanders mit Ihnen?«

»Ein paarmal bei Pferderennen.«

»Das hat Ihnen bestimmt Spaß gemacht, was? Haben Sie mal was gewonnen?«

»Nein.«

»Na ja, man hat nur selten dabei Glück. Wie haben Sie Mike kennengelernt?«

»Er ist mein Freund.«

Atkins überlegte, ob er seinen Fragen auswich oder sie nicht richtig verstand. »Er behandelt Sie gut, nicht?«

»Ich hab ihn gern.«

»Haben Red oder Jock Sie mit ihm zusammengebracht?«

»Red ist immer nett zu mir.«

»Vielleicht ist es nicht gut, wenn Sie allzuviel mit ihnen beisammen sind. Was meinen Sie?«

Friendly hielt die Zigarette vor seinen Mund und pustete die Asche weg.

»Sie wissen doch sicher, daß Mike, Red und Jock manchmal Dinge tun, die sie nicht tun dürften«, sagte Atkins ruhig. »Sie möchten doch durch sie nicht Ärger bekommen, oder?«

Friendly schüttelte den Kopf.

»Das wäre für Sie gar nicht gut. Sie verstehen, was ich meine? Die würden Sie rücksichtslos belasten, wenn sie dadurch ihre Haut retten könnten.«

»Mike ist mein Freund«, sagte Friendly.

»Das Dumme ist nur – er ist ein bißchen leichtsinnig. Denken Sie nur an das Ding, das Sie und die andern gerade gedreht haben.«

»Was für ein Ding?«

»Na, der Lastzug mit den Zigaretten, den ihr geklaut habt. Mike hat uns das Ganze eben erzählt.«

»Was hat Mike erzählt?« fragte Friendly.

»Alles.« Atkins schüttelte traurig den Kopf. »Ich hab Ihnen ja gesagt, Mike denkt immer zuerst an sich. Als er merkte, daß wir alles über den Raubüberfall wissen, da hat er sofort die ganze Schuld auf euch geschoben.«

Friendly runzelte erstaunt die Stirn.

»Mike hat sogar so schnell geredet, daß mein Sergeant kaum mit dem Schreiben mitgekommen ist.«

Friendly warf Witley einen Blick zu.

»Ich möchte auf keinen Fall, daß Mike Sie zum Sündenbock macht«, fuhr Atkins fort. »Ich finde das einfach unfair von ihm. Mike behauptet zum Beispiel, Sie hätten den Fahrern das Ammoniak ins Gesicht gespritzt. So etwas Schreckliches würden Sie doch nie fertigbringen, stimmt’s?«

Friendly schwieg.

»Ich möchte nur verhindern, daß Sie für etwas büßen müssen, was Sie nicht getan haben. Wenn Sie den Fahrern die Augenverletzungen nicht zugefügt haben – und das Gericht wird denjenigen, der das getan hat, besonders schwer bestrafen –, dann werde ich nicht zulassen, daß die andern es Ihnen in die Schuhe schieben. Sagen Sie mir also, wer es war – dann kann ich Ihnen helfen.«

»Mike ist mein Freund«, wiederholte Friendly.

»Er ist kein wahrer Freund. Er nützt Sie nur aus und will die ganze Schuld Ihnen zuschieben.«

Keine Antwort.

»Wer hat wirklich das Ammoniak gespritzt?« fragte Atkins.

Friendly zupfte an seinem dünnen braunen Haar.

»War es Mike?«

»Mike hat nichts getan.«

»Aber Sie waren’s doch nicht, oder?«

»Ich weiß nichts.«

»Wer fuhr den Laster, den ihr gestohlen habt?«

»Ich weiß nichts«, wiederholte Friendly.

Atkins stand auf. »Möchten Sie die Chance nicht nutzen, die ich Ihnen biete?«

Friendly starrte auf den zerrissenen Teppich.

Atkins gab Witley ein Zeichen, und sie gingen hinaus. Die Tür des Wohnzimmers stand offen, und als sie daran vorbeigingen, starrten die drei sie haßerfüllt an. Sie stiegen in den Wagen. Witley schlug die Tür zu und sagte: »Der Bursche ist wirklich völlig beklopft. Die Hälfte Ihrer Fragen hat er überhaupt nicht verstanden.«

»Meinen Sie?«

»Bestimmt nicht, Sir.«

»Ich glaube, er hat sich bloß so dumm gestellt. Wissen sie, was mir ernstlich Sorgen macht? Ich habe den Eindruck, der Kerl ist durch und durch böse.«

Witley lächelte. Er dachte, der Inspektor hätte einen Witz gemacht. Doch als er ihn ansah, merkte er, daß er es völlig ernst gemeint hatte.

 

Es war Montag. Caroline verabschiedete sich von ihrem Vater und fuhr hinaus auf die Straße. Sie war den Tränen nahe. Als sie ihrem Vater erzählt hatte, was Freitag nacht passiert war, hatte er seine Überzeugung nicht verbergen können, daß Jim wieder einmal straffällig geworden war. Es hatte sie entsetzt, wie sehr ihr Vater Jim immer noch haßte. Sie hatte versucht, ihrem Vater klarzumachen, daß er sich täusche und daß Jim wirklich hart arbeite, doch er hatte erwidert, sie wolle der Wahrheit einfach nicht ins Auge sehen. Sie hatte ihn gebeten, selbst zur Farm hinauszukommen, um sich zu überzeugen, doch er hatte abgelehnt.

Sie fuhr eine Abkürzung, die über die Berge führte. Die Höfe in den Tälern sahen so friedlich aus, als sei die Zeit spurlos an ihnen vorübergegangen. Selbst mitten im Sommer herrschte auf diesen Straßen nur wenig Verkehr. Wenn sie sich doch auch so eine hübsche, friedliche, einträgliche Farm leisten könnten … Als sie zu Hause ankam, stellte sie fest, daß im Milchraum ein kleines Malheur passiert war. Die Vakuumpumpe der Melkmaschine war kaputt. Jim hatte sie auseinandergenommen und konnte sie nicht wieder zusammensetzen, da er eine winzige Schraube verloren hatte. Sie fand die Schraube sogleich. Jim setzte die Pumpe zusammen, schaltete sie ein, und das hohe, regelmäßige Summen bewies, daß alles in Ordnung war.

Sie ging ins Haus und machte sich Kaffee. In der Küche herrschte ziemliche Unordnung, denn Jim hatte sich selbst das Mittagessen zubereitet und, wie die meisten Männer, danach nicht aufgeräumt. Sie lächelte. Das Leben wäre schrecklich, wenn sie beim Heimkommen nicht auf solche sichtbaren Beweise dafür stoßen würde, daß sie mit ihm verheiratet war.

Um halb acht kam er zur Küchentür herein, stellte seine Stiefel neben die Tür und ging nach oben, um zu baden. Die Stiefel stanken so furchtbar nach Kuhmist, daß sie sie hinausstellte.

Um acht verließen sie das Haus und gingen Arm in Arm den Weg zum Haus der Hammers hinauf. Helen fragte sie nach Freitag nacht. »Was ist eigentlich genau passiert? Ich habe im Dorf die schrecklichsten Gerüchte gehört. Jenny sagte, Jim wäre fast umgebracht worden, aber ich finde, er sieht gar nicht so schlecht aus.«

»Sie hat nur gesagt, was sie sich insgeheim wünscht«, sagte Jim und ließ sich in einen der bequemen Polstersessel fallen.

Helen lächelte. »Aber ich bitte dich – so schlimm ist sie nun auch wieder nicht.«

»Sie ist noch viel, viel schlimmer. Sie hat eine Stinkwut, daß ich mich hier niedergelassen und dadurch den Ruf der ganzen Gegend ruiniert habe.«

»Jenny ist viel netter, als es manchmal scheint«, sagte Helen. Sie wechselte das Thema. »Sag mir ganz ehrlich, Jim – wie geht es dir?«

»Allmählich hat sich die Lage wieder normalisiert.«

»Haben sie dich ernstlich verletzt?«

»Ich hab ein paar Schläge abbekommen, aber meine Knochen sind alle heil.«

»Was war eigentlich los?«

»Das weiß niemand genau, aber vermutlich wollten sie mir auf recht handfeste Weise klarmachen, wie sehr sie mir verübeln, daß ich der Polizei wegen der Zigaretten Bescheid gesagt habe.«

»Entsetzlich! Daß so etwas passieren kann.«

»Ich hab’s ihnen tüchtig heimgezahlt, also kann man sagen: Ende gut, alles gut.«

»Wenn sie nicht noch mal kommen«, sagte Caroline aufgeregt. Helen sah sich rasch um. »Paul«, fragte sie, »kriegen wir nicht bald was zu trinken?«

»Sicher, wenn du mal einen Moment ruhig sein würdest, damit ich die beiden fragen kann, was sie möchten.«

Hammer schenkte die Drinks ein und setzte sich dann in einen Sessel. Ein gelber Neufundländer kam herein, wedelte mit dem Schwanz und legte sich vor den leeren Kamin.

»Du hast sie ganz schön zugerichtet, was?« fragte Hammer.

»Ich hoffe, sie spüren noch was davon, damit sie mich nicht so schnell vergessen«, erwiderte Jim. »Sicher wird die Polizei sie bald schnappen. Wenn die Gerichte heutzutage nicht so verdammt milde wären, dann würden sie lange, lange Zeit aus dem Verkehr gezogen werden.«

»Eine harte Freiheitsstrafe ist leider im Grunde keine Lösung«, sagte Hammer.

»Sie ist die einzig mögliche, seit es euch verblendeten Liberalen gelungen ist, das Hängen abzuschaffen.«

»Das beweist mal wieder deine Ignoranz …«

»Ich bitte euch, fangt nicht schon wieder so an!« rief Caroline.

»Paul, du bist wirklich unmöglich«, fuhr seine Frau ihn an.

Er lachte. »Wer hat denn mit dem Thema angefangen?«

»Ich weiß wenigstens, wann ich aufhören muß«, entgegnete sie.

Jim trank seinen Whisky. Er stimmte in vielem mit der liberalen Einstellung der Hammers nicht überein, doch er fand einen Besuch bei ihnen immer sehr lohnend. Vielleicht lag es an ihrer fröhlichen, natürlichen, unkomplizierten Art. Paul Hammer würde nie ein Gefängnis von innen zu sehen bekommen, außer wenn er als Anwalt einen Klienten besuchte; Helen würde nie nachts schlaflos im Bett liegen und sich verzweifelt fragen, warum ihr Mann so idiotisch gewesen war, etwas zu tun, was ihn ins Gefängnis brachte.

Das Essen war wie immer ausgezeichnet, obwohl Helen stets so tat, als sei sie keine sehr gute Köchin. Zum Hauptgang holte Hammer eine Flasche Château Mouton-Rothschild aus dem Keller. »Damit unser Patient wieder auf die Beine kommt«, sagte er.

Um fünf nach halb elf verabschiedeten sich Caroline und Jim und schlenderten langsam den Weg hinunter.

»Es ist immer so nett bei ihnen«, sagte Caroline.

Er nickte. »Sie geben einem das Gefühl, daß die Welt vielleicht doch nicht so mies ist, wie man denkt.« Er schwieg einen Moment, dann sagte er ernst: »Dein Leben hier draußen muß schrecklich eintönig sein. Wir sehen fast keine Menschen und gehen nie aus …«

»Habe ich mich beklagt?«

»Nein, aber …«

»Dann red doch nicht solchen Unsinn«, sagte sie leise.

»So viele Leute, mit denen du befreundet warst, wollen jetzt nichts mehr mit dir zu tun haben.«

»Das liegt an ihnen, oder?«

»Sogar dein Vater …« Er brach ab.

»Jim«, sagte sie, »wir haben von Anfang an gewußt, daß es ein schwerer Kampf sein wird. Wir werden ihn nicht gewinnen, wenn wir uns selbst bemitleiden.«

»Nein, Sir, da haben Sie recht. Feiglinge zwei Schritte zum Erschießen vortreten.«

»Ich glaube, du hast zuviel getrunken.«

»Von so einem Wein kann man gar nicht zuviel trinken. Er muß ein Vermögen dafür bezahlt haben.«

»Er kann sich’s leisten. Ich habe gehört, er soll letztes Jahr einer der erfolgreichsten Anwälte gewesen sein. Er braucht auf irgendeine Klientenrechnung bloß fünf Pfund draufzuschlagen – dann hat er das Geld für die Flasche wieder herein.«

Sie betraten das Haus durch die Küchentür. Als er sie hinter ihnen zugesperrt hatte, zog er sie an sich und küßte sie.

»Ich hab ja gesagt, du hast einen Schwips!« Sie lächelte zärtlich.

»Du meinst, ich muß einen Schwips haben, um dich zu küssen?« Als er sie wieder an sich drückte, klingelte das Telefon.

»Wer kann denn das sein, verdammt noch mal?« sagte er ärgerlich. »Normalerweise würde ich längst schlafen …«

»Und mich ans Telefon schicken. Sieh schnell nach, Jim, wer das ist, und dann laß uns zu Bett gehen.«

»Bist du so müde?«

»Hab ich gesagt, daß ich deshalb zu Bett gehen möchte?«

Er ging durch die Küche in die Diele und nahm den Hörer ab.

»Drei acht drei.«

Es klickte, und die Leitung war tot.

Als er aufblickte, stieg plötzlich Angst in ihm hoch. Er fragte sich, wer das wohl gewesen war.