16

Der Wagen raste über die Berge in Richtung Penterton.

»Ich hab dir gesagt, wir sollen ihn in Ruhe lassen«, rief Bailey.

»Halt’s Maul«, knurrte Elkin. »Was kann denn schon passieren?«

»Das weißt du ganz genau – jetzt haben wir die Polente auf dem Hals.«

»Na und? Die kann uns nicht das mindeste beweisen.«

Sie nahmen eine Kurve so schnell, daß Elkin das Lenkrad herumreißen mußte, um den Wagen wieder unter Kontrolle zu bringen.

»Sie hatte einen prima Busen«, sagte Campbell genießerisch.

Friendly, der in der rechten Ecke des Rücksitzes saß, schwieg.

 

Das Telefon schrillte. Atkins erwachte und knipste die Taschenlampe an, die auf dem Nachttisch bereitlag.

Er stand auf, ging hinunter und nahm den Hörer ab.

»Eben kam eine Meldung, Sir«, sagte der diensthabende Polizist. »Ein Streifenwagen wurde auf einen Anruf hin zu James Parkers Haus geschickt. Fünf Männer sind in das Haus eingedrungen und haben ihn zusammengeschlagen. Ein Arzt ist unterwegs. Mrs. Parker wurde von einem der Männer angegriffen.«

»Vergewaltigt?«

»Das weiß ich nicht, Sir.«

»Okay. Ich fahre sofort hin. Rufen Sie Sergeant Witley an und sagen Sie ihm, daß ich ihn abhole. Bitten Sie die Zentrale, sofort einen Streifenwagen zu Mike Elkins Haus zu schicken: Dracenden, Seaswaithe Road 36. Die Männer sollen feststellen, ob Elkin heute nacht das Haus verlassen hat. Wann wurde Parker überfallen?«

»Keine Ahnung, Sir.«

»Vielleicht ist der Streifenwagen noch vor Elkin da.« Er legte auf.

Manchmal haßte Atkins seine Arbeit; jetzt war dies wieder der Fall. Er hatte in Parker einen tapferen Mann kennengelernt, der keinen Kampf scheute – wie teuer war ihn dieser Kampf zu stehen gekommen. Nicht auszudenken, wenn seine Frau vergewaltigt worden war.

Er ging zurück ins Schlafzimmer und zog sich an. June schlief schon wieder fest; sie war es gewohnt, daß er mitten in der Nacht weg mußte. Er blieb einen Moment stehen und sah sie an. Sie war nicht mehr die Jüngste, doch für ihn sah sie immer noch genauso aus wie damals, als sie geheiratet hatten. Sie hatten ihre Streitigkeiten, aber nichts hatte jemals ihre Liebe erschüttern können. Wenn er sich vorstellte, er käme eines Tages nach Hause und vor der Tür stünde ein Polizeiauto und ein Polizist würde ihn drinnen erwarten und ihm sagen, seine Frau sei, während er fort war, vergewaltigt worden …

Warum mußten Menschen einander so entsetzliche Dinge antun?

 

Allmählich kam Jim zu sich. Er lag auf dem Fußboden des Wohnzimmers und starrte zu dem Arzt auf, der einen dunkelgrünen Pyjama und darüber einen leichten Regenmantel trug.

»Wie fühlen Sie sich?« fragte der Arzt.

Er versuchte zu antworten, brachte aber kein Wort hervor.

»Anscheinend ist nichts gebrochen, aber Sie müssen ins Krankenhaus und geröntgt werden. Sie sind ziemlich schwer verletzt, ich mußte Ihre Kopfhaut zusammennähen.«

Er versuchte sich aufzurichten.

»Bleiben Sie ruhig liegen, bis der Krankenwagen kommt.«

Mühsam stieß er hervor: »Wie … wie geht’s Carry?«

»Ich habe ihr ein Beruhigungsmittel gegeben.«

»Sie hat geschrien.«

Der Arzt warf Atkins, der ins Wohnzimmer trat, einen Blick zu.

Atkins hockte sich neben Jim nieder und sah ihn besorgt an.

»Es geht ihr gut.«

»Was haben sie mit ihr gemacht?« fragte Jim.

Der Arzt nahm seine Tasche und öffnete sie. »Wir bringen Sie hinauf, und Sie können ein paar Worte mit ihr sprechen, aber zuerst gebe ich Ihnen etwas gegen die Schmerzen.« Er nahm eine Spritze aus seiner Tasche.

Die Injektion wirkte sofort. »Einer von ihnen war Friendly«, sagte Jim. Dann verlor er das Bewußtsein.

Atkins richtete sich auf und sah den Arzt fragend an.

»Er wird jetzt ein paar Stunden schlafen.«

»Und wann wird er wieder auf den Beinen sein?«

»Falls er keine inneren Verletzungen hat, in ein paar Tagen; falls doch, kann es Wochen oder Monate dauern.«

»Dann muß sich jemand um die Farm kümmern. Es gibt doch sicher irgendeinen Notdienst, der das Melken übernimmt.« Atkins zögerte; dann fragte er: »Und die Frau?«

»Sie hat natürlich einen schweren Schock erlitten.«

»Wurde sie vergewaltigt?«

»Sie sagt nein.«

»Aber Sie glauben ihr nicht?«

Der Doktor zuckte die Achseln. »Sie wollte sich nicht untersuchen lassen.«

»Wir müssen es aber wissen.«

»Ich kann’s wirklich nicht sagen.«

»Ich möchte mit ihr sprechen. Würden Sie bitte mit hinaufkommen?«

Der Doktor seufzte. »Okay. Aber machen Sie’s möglichst kurz. Ich hab diese Woche fast keine Nacht richtig geschlafen. Und vergessen Sie nicht, daß ich ihr ein sehr starkes Beruhigungsmittel gegeben habe. Sie dürfte ziemlich benommen sein.«

Sie traten in die Diele, und Atkins ging hinüber zur Küche. Drei Männer waren dort an der Arbeit: zwei bestäubten sämtliche Flächen mit Puder und suchten nach Fingerabdrücken, der dritte untersuchte Zentimeter für Zentimeter den Fußboden und steckte alles, was er fand, sogar kleine Schmutzteilchen, in verschiedene Plastikbeutel. Atkins verließ die Küche und ging vor dem Doktor die Treppe hinauf. Als er fast oben war, kam ein uniformierter Polizist zur Haustür herein, sah ihn und meldete: »Eine Polizeibeamtin wird bald kommen, Sir. Außerdem soll ich Ihnen ausrichten, daß Elkins Haus leer und sein Wagen nicht in der Garage ist. Das Haus wird beobachtet.«

»Danke.« Es wäre naiv, anzunehmen, dachte er, daß Elkin nicht entsprechende Vorkehrungen getroffen und sich kein Alibi verschafft hat.

Er ging zur Schlafzimmertür, klopfte und trat ein. Caroline Parker lag auf dem Rücken im Bett und starrte zur Decke hinauf.

»Mrs. Parker«, sagte er. »Ich bin beauftragt, die Ermittlungen anzustellen.«

Sie rührte sich nicht.

»Können Sie mir in aller Kürze sagen, was passiert ist?«

Mit tonloser Stimme antwortete sie: »Ich war gerade wach und hörte ein Auto. Jim rief die Polizei an und sagte, ich solle mich im Schrank verstecken. Dann kam ein Mann ins Schlafzimmer, öffnete die Schranktür, sah mich und fiel über mich her. Gleich darauf kamen die anderen Männer und zerrten ihn weg.«

»Was hat er getan?«

»Er hat mein Nachthemd zerrissen.«

»Hat er Sie in irgendeiner Weise sexuell mißbraucht, Mrs. Parker?«

»Nein.«

»Sie müssen mir die Wahrheit sagen.«

Sie schloß die Augeen. »Das ist die Wahrheit.«

»Wenn er Sie sexuell mißbrauchte und der Arzt würde Sie untersuchen, dann könnte uns das helfen, die Täter zu identifizieren.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Mrs. Parker, ich …«

»Ich bin nicht vergewaltigt worden. Verstehen Sie nicht? Ich bin nicht vergewaltigt worden.«

Der Doktor warf Atkins einen warnenden Blick zu.

Atkins sagte: »Eine Polizeibeamtin wird gleich kommen und die restliche Nacht bei Ihnen bleiben.«

»Wie … wie geht es Jim?« Sie öffnete die Augen und sah ihn ängstlich an.

»Der Arzt sagt, daß nichts gebrochen ist. Aber man wird ihn trotzdem für alle Fälle ins Krankenhaus zum Röntgen bringen.«

»Ist ihm wirklich nichts Ernstes passiert?« flüsterte sie.

»Er wird bald wieder in Ordnung sein«, sagte der Doktor beruhigend.

Sie verließen das Schlafzimmer und gingen die Treppe hinunter. Der Arzt setzte seinen Hut auf. »Ich geh jetzt. Der Krankenwagen wird in spätestens zehn Minuten da sein.«

»Glauben Sie, daß sie vergewaltigt wurde?« fragte Atkins leise.

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Ich hab Ihnen doch gesagt, ich weiß es nicht.«

 

Paul Hammer ging langsam und mit sorgenvoller Miene den Weg hinunter. Als er an dem Polizeiauto vorbeikam, beschleunigte er plötzlich seine Schritte, als fürchte er, er könne es sich anders überlegen und wieder umkehren. Er klopfte an der Haustür der Rowan Tree Farm. Eine adrett aussehende Polizistin öffnete. »Guten Morgen?« sagte sie in fragendem Ton.

»Ich … ich wollte nur mal nachsehen, was passiert ist. Ich wohne in dem Haus oben am Weg. Wie geht’s den beiden?«

»Mr. Parker ist im Krankenhaus, und Mrs. Parker liegt oben im Bett.«

»Caroline … Mrs. Parker liegt im Bett?« Er schloß einen Augenblick die Augen.

»Sie wurde von einem der Männer, die letzte Nacht ins Haus eingebrochen sind, angefallen.«

»Wurde sie … hat der Mann sie …?«

»Sie hat einen Schock erlitten. Es muß schrecklich für sie gewesen sein«, antwortete die Polizistin ausweichend.

»Oh, mein Gott!« murmelte er.

»Möchten Sie zu ihr?«

»Nein!«

Die Polizistin sah ihn neugierig an. »Was haben Sie denn?«

»Nichts«, sagte er heiser. »Was ist mit Jim?«

»Mr. Parker wurde schlimm zusammengeschlagen, aber wir haben eben aus dem Krankenhaus erfahren, daß er zum Glück keine ernstlichen inneren Verletzungen zu haben scheint.«

Hammer bedankte sich und ging. Als er nach Hause zurückkam, war Helen in der Küche und machte Kaffee. Als sie sein Gesicht sah, holte sie tief Luft.

Hammer ließ sich in einen Korbsessel fallen. Juliana, ein blondes zehnjähriges Mädchen, kam in die Küche und wurde von ihrer Mutter sofort wieder hinausgeschickt.

»Was ist passiert, Paul?« fragte sie leise.

»Sie haben Jim verprügelt. Er liegt im Krankenhaus. Caroline wurde von einem der Männer angefallen.«

»Heißt das, sie wurde vergewaltigt?«

»Die Polizistin sagte nur, es muß schrecklich für sie gewesen sein.« Er sah sie finster an. »Helen … Wir …«

»Du konntest nicht rausgehen«, sagte sie wütend. »Sie hätten dich umbringen können.«

»Er hat mich ja nur gebeten, ein paar Schüsse abzufeuern, um sie zu vertreiben.«

»Und wenn sie sich nicht hätten vertreiben lassen? Womöglich wären sie in unser Haus eingebrochen und hätten den Kindern was getan.«

»Aber ein paar Schüsse hätten ihnen vielleicht Angst eingejagt.«

»Hör auf, Paul«, sagte sie. »Du konntest unmöglich hinausgehen. Jeder wird doch einsehen, daß dir deine eigene Familie wichtiger war als die beiden.«

Er schlug die Hände vors Gesicht. »Ich konnte nicht mehr schlafen, nachdem er angerufen hatte. Als ich das Auto wegfahren hörte, hab ich am ganzen Körper gezittert, und als dann die andern Autos kamen, wußte ich, daß etwas Furchtbares passiert war. Ich bin schuld daran, Helen …«

»Du bist an gar nichts schuld.«

»Er hat mich um Hilfe gebeten.«

Sie trat zu ihm, drückte ihn an sich und sagte leise: »Liebling, du mußtest bei uns bleiben und uns beschützen. Ein Mann hat sich in erster Linie um seine Familie zu kümmern.«