17
Atkins fuhr zur Seaswaithe Road 36 und hielt hinter dem vor dem Haus stehenden Streifenwagen. Er blieb noch ein paar Sekunden sitzen, nachdem Witley ausgestiegen war; dann wurde ihm klar, daß er alle Gefühlsregungen unterdrücken mußte. Er durfte nicht dauernd Caroline Parker vor sich sehen, wie sie im Bett lag, die Augen angstvoll aufgerissen; er durfte sich nicht mit dem Gedanken quälen, daß er das Unheil vorausgesehen und nicht hatte abwenden können.
Er stieg aus und ging mit Witley den kurzen Weg zur Haustür hinauf. Ein uniformierter Polizist öffnete.
»Wo sind sie?« fragte Atkins.
»Dort drinnen, Sir.« Der Mann deutete auf die Tür zu seiner Rechten.
Atkins trat ins Wohnzimmer. Elkin lümmelte in einem Polstersessel, Friendly hockte auf einem Stuhl. Am Fenster stand ein zweiter Polizist. Atkins sah Elkin und Friendly haßerfüllt an. Elkin erwiderte feindselig seinen Blick, Friendly starrte weiter auf die gegenüberliegende Wand. Er hatte an der rechten Wange einen tiefen Kratzer.
»Bringen Sie Friendly in ein anderes Zimmer«, befahl Atkins.
Der Polizist trat auf ihn zu. »Los, kommen Sie.«
Atkins schaute den beiden nach; dann trat er zum Kamin. »Sie waren heute nicht weg, nicht?«
»Was geht Sie das an?« maulte Elkin.
»Eine ganze Menge.« Atkins holte eine Schachtel Zigaretten hervor, bot Witley eine an und steckte sich eine in den Mund. Während er sein altes Feuerzeug anknipste, nahm Elkin eine Zigarette aus einem silbernen Etui und zündete sie mit einem goldenen Feuerzeug an. »Parker wurde letzte Nacht zusammengeschlagen und seine Frau tätlich angegriffen.«
»Was für eine böse, grausame Welt«, erwiderte Elkin.
»Wo waren Sie letzte Nacht?«
»Weg.«
»Wo?«
»Das ist meine Sache.«
»Wollen Sie, daß ich andere Saiten aufziehe?«
»Also schön – ich war in Penterton bei der Party von einem Freund.«
»Sein Name?«
»Steve Drews.«
»Wer war sonst noch dort?«
»Bert, Snout, Jock und Red.«
»Wann erschienen Sie bei der Party?«
»Gegen zehn.«
»Und wann gingen Sie?«
»Erst heute morgen. Es waren ein paar dufte Puppen dort.«
»Wie ist die Adresse?«
»Ihr Bullen wißt doch ganz genau, wo der alte Steve wohnt.«
»Haben Sie oder irgend jemand sonst das Haus während der Nacht verlassen?«
»Nein.«
»Sind Sie oder die anderen gegen zwei Uhr morgens zur Rowan Tree Farm gefahren?«
»Ich sag Ihnen doch, wir haben das Haus nicht verlassen.«
»Friendly muß es verlassen haben. Er war einer der Männer, die in die Rowan Tree Farm eingedrungen sind. Er wurde erkannt.«
»Unsinn. Er war die ganze Nacht bei uns.«
Atkins zuckte die Achseln. »Glauben Sie im Ernst, daß ein Kerl wie er sich bloß einen Strumpf übers Gesicht zu ziehen braucht, um nicht erkannt zu werden?«
»Er ist keinen Moment weggewesen.«
Atkins sah Witley an. »Reichlich hartnäckig.«
»Oder blöd«, sagte Witley.
»Ja, blöd«, sagte Atkins.
Elkin fluchte.
»Schön, dann werd ich Ihnen sagen, wie’s gewesen ist«, sagte Atkins. »Sie sind letzte Nacht mit Ihren Jungens zu Parker rausgefahren und haben ihn zusammengeschlagen. Ich schätze, das wird Ihnen etwa fünf Jahre einbringen. Aber Sie begingen einen idiotischen Fehler: Sie haben Friendly mitgenommen, obwohl Sie doch wissen müssen, daß der Kerl ein Schwachkopf ist. Friendly ist nach oben gegangen und hat Mrs. Parker tätlich angegriffen. Selbst in unseren liberalen Zeiten ist ein tätlicher Angriff auf eine Frau etwas, das Geschworene und Richter gar nicht mögen. Ich nehme an, daß Sie dafür lebenslänglich kriegen werden.«
Elkin schwieg.
»Wissen Sie, was lebenslängliche Haft aus einem Mann macht? Sie müssen es doch an anderen Häftlingen gesehen haben, als Sie im Knast saßen. Nach sieben oder acht Jahren drehen Sie durch. Selbst wenn Sie sich gut führen und nach fünfzehn Jahren rauskommen, sind Sie erledigt.«
Elkin begann an seiner Unterlippe zu kauen.
Gelassen fuhr Atkins fort: »Es war wirklich ein unverzeihlicher Fehler, Friendly mitzunehmen. Wenn Sie nicht vernünftig sind, wird dieser Fehler Sie zusätzliche zehn Jahre kosten.«
Elkin schwieg.
»Wir wissen, daß Sie der Frau nichts tun wollten«, sagte Atkins. »Wir versprechen Ihnen, vor Gericht auszusagen, daß Sie Friendly sogar von ihr weggezerrt haben.«
»Ich hab mit der Sache nichts zu tun«, murmelte Elkin.
»Schön dumm von Ihnen, wegen eines Halbidioten lebenslänglich ins Zuchthaus zu gehen«, sagte Atkins spöttisch.
»Sie können nichts beweisen.«
»Wir können beweisen, daß Friendly Mrs. Parker tätlich angegriffen hat. Das genügt, um euch alle hinter Gitter zu bringen.«
»Sie können überhaupt nichts beweisen«, wiederholte Elkin.
»Gut, wie Sie wollen. Ich bring Sie mit größtem Vergnügen für den Rest Ihres Lebens in den Knast.« Atkins ging zur Tür. »Ich werde mich jetzt ein bißchen mit Friendly unterhalten. Sie sind bitte so nett und warten solange, ja?« sagte er grinsend.
Er wartete in der Diele auf Witley, und beide gingen ins Eßzimmer, in dem die gleiche Unordnung herrschte wie beim letzten Mal, als er dort Friendly vernommen hatte. Der Polizist ging hinaus. Atkins setzte sich Friendly gegenüber in einen Sessel. Witley nahm in einer Ecke des Zimmers Platz.
Ein Häufchen Elend, dachte Atkins voll Haß, ein Riese ohne Hirn. Wieviel von seiner Bosheit war ihm wohl angeboren, wieviel hatte Parker unwissentlich ihm beigebracht? »Sie sind in einer verdammten Klemme«, sagte er unvermittelt.
Friendly zupfte sich an seiner Nase.
»Sie wissen doch, was Sie letzte Nacht getan haben, nicht?«
»Ich hab nichts getan«, sagte Friendly.
»Sie haben eine Frau tätlich angegriffen.«
»Sie wollte ja. Sie hat gesagt, sie will.«
Atkins versuchte, seine Überraschung zu verbergen. »Warum hat sie dann geschrien?«
»Sie hat ja gar nicht geschrien – erst wie ich nicht mehr wollte, hat sie geschrien. Sie hat mich mit nach oben genommen. Sie hat Mike gesagt, sie mag mich.«
Atkins war wütend, weil er sich von Friendly hatte zum Narren halten lassen. »Das Mädchen interessiert mich nicht. Ich rede von Mrs. Parker.«
»Die kenn ich nicht.«
»Sie haben sie letzte Nacht angegriffen.«
»Ich war letzte Nacht nur mit Ethel zusammen.«
»Wer hat Ihnen das Gesicht zerkratzt?«
»Ethel.«
»Warum, wenn sie so scharf auf Sie war?«
»Zuerst nicht. Zuerst hatte sie ein bißchen Angst vor mir.«
»Mit welcher Hand hat sie Sie gekratzt?«
»Ich … ich weiß nicht mehr.«
»Wie spät war es?«
»Keine Ahnung.«
»Haben Sie sie geschlagen?«
Friendly schüttelte den Kopf. Sein Mund stand leicht offen, und er starrte ausdruckslos vor sich hin.
»Wir können beweisen, daß Sie lügen.«
Friendly schien ihn nicht gehört zu haben.
»Wir werden ihre Fingernägel untersuchen. Wenn sie Sie gekratzt hat, werden wir darunter Hautteile finden.«
»Ich weiß von nichts.«
»Ich werde Ihre Kleider mitnehmen. Wissen Sie, warum?«
Friendly schüttelte den Kopf.
»In unserem Labor wird man Spuren daran finden, die beweisen, daß Sie Mrs. Parker angegriffen haben.«
»Ich hab nichts getan.«
»Gleich wird ein Polizeiarzt kommen und Sie untersuchen.«
»Ich laß mich nicht untersuchen.«
»Was haben Sie dagegen?«
»Ich mag’s nicht, wenn mich jemand anfaßt.«
»Haben Sie Angst?«
»Nein.«
»Warum wollen Sie dann nicht, daß ein Arzt Sie untersucht?«
»Niemand hat ein Recht, mich zu untersuchen, wenn ich nicht will.«
»Sie können nur dann was dagegen haben, wenn Sie’s getan haben.«
»Ich hab nichts getan.«
»Parker hat Sie letzte Nacht erkannt.«
»Unmöglich.«
»Wieso?«
»Weil ich nicht dort war.«
»Geben Sie’s auf. Sie können sich nicht hinter einem Strumpf verstecken.«
»Ich war die ganze Nacht mit Ethel zusammen.«
»Mrs. Parker hat den Mann, der sie angriff, gekratzt.«
Friendly betastete den Kratzer an seiner Wange. »Das war Ethel.«
»Mrs. Parker hatte Haut und Blut unter ihren Nägeln. Wir können die Blutgruppe feststellen.«
»Ich weiß von nichts.«
Atkins stand auf. »Bleiben Sie hier«, sagte er zu Witley und ging zurück ins Wohnzimmer. Der Polizist stand neben der Tür, und Elkin lümmelte sich in einem Sessel herum.
Atkins sagte: »Laut Friendlys Aussage haben Sie alles getan, um ihn davon abzubringen, Mrs. Parker zu vergewaltigen. Das wird das Gericht gebührend berücksichtigen.«
»Halten Sie mich für so doof, daß ich auf solch einen Trick reinfalle? Bleiben Sie auf dem Teppich, Mann.«
Atkins setzte sich.
»Sie können nicht beweisen, daß Sie die ganze Nacht bei Steve waren. Warum geben Sie’s nicht auf?«
Einen Moment lang bedauerte es Atkins, daß er keine Gewalt anwenden durfte, um ein Geständnis aus ihm herauszuholen.
Jim lag in seinem Krankenhausbett und starrte zur Decke hinauf. Es war idiotisch, zu glauben, man könnte den Kampf gegen das Leben gewinnen. Er hatte gekämpft, und was war dabei herausgekommen?
Eine Schwester erschien und erkundigte sich nach seinem Befinden. Es ginge ihm gut, erwiderte er. Sie sagte, seine Frau sei da und wolle ihn besuchen. Dann ging sie hinaus.
Während er wartete, ballte er die Fäuste. Seit dem Moment, da er Carrys Schreie hörte, hatte er sie nicht vergessen können. Er fürchtete diese Begegnung. Er hatte sie im Stich gelassen, und das würde er nie wieder gutmachen können.
Als sie eintrat, fand er, daß sie noch nie so schön ausgesehen hatte. Sie trug das rote Kleid, das sie damals für ihre Flitterwochen gekauft hatte. Sie trat ans Bett und blickte zärtlich auf ihn nieder. »Jim«, flüsterte sie.
»Carry … Carry …«
Sie beugte sich vor und schmiegte ihre Wange an die seine. Er ergriff ihre Hand. »Carry … Was ist passiert? Bitte, sag’s mir, Carry – was haben sie mit dir gemacht?«
»Er fand mich im Kleiderschrank und zog mich heraus und warf mich aufs Bett. Dann stürzte er sich auf mich, doch ich wehrte mich, bis die andern kamen und ihn wegzerrten.«
»Dann hat er dich nicht …«
»Nein, er hat mich nicht vergewaltigt.« Sie starrte auf die gegenüberliegende Wand. Wie gern hätte sie ihm die Wahrheit gesagt, denn sie sehnte sich so verzweifelt nach Trost, doch wenn sie das tat, dann würde das Entsetzliche und Erniedrigende, das man ihr angetan hatte, ihn ebenso bedrücken wie sie und vielleicht für alle Zeit seine Liebe zerstören. Es war nicht nötig, daß sie jetzt, da alles vorbei war, beide litten.