20
Seine Angst wurde zur Besessenheit. Er war überzeugt, sein Alptraum würde in Erfüllung gehen. Das Gesetz war nutzlos. Letzten Endes konnte man die Menschen, die man liebte, nur selbst schützen.
Er ging zusammen mit Caroline zu Bett, wo sie beide noch eine Weile lasen. Sie knipste zuerst ihre Nachttischlampe aus, gab ihm einen Gutenachtkuß und drehte sich um. Er machte ebenfalls seine Lampe aus, starrte ins Dunkel und überlegte, was er tun sollte.
Die Zeit verging. Als er sicher war, daß sie schlief, stieg er leise aus dem Bett. Er zog seine Unterwäsche, seine Socken und seine Hose an, schlich hinaus und ging die Treppe hinunter. Im Badezimmer waren zwei frischgewaschene Overalls zum Trocknen aufgehängt. Er zog den einen an und überzeugte sich, daß die Taschen leer waren. In der Diele schlüpfte er in ein Paar Stiefel.
Er verließ das Haus und sperrte die Dielentür hinter sich zu. Dann ging er zur Garage hinüber und stieg in den Kombi. Auf dem einen Sitz lag eine Taschenlampe, die er tags zuvor bei Woolworth gekauft hatte. Er knipste sie an und sah nach, ob alles andere da war: ein Paar Turnschuhe, die eine Nummer zu groß waren, ein Paar dicke Wollsocken, ein Nylonstrumpf und ein Taschentuch – alles bei Marks and Spencer gekauft – außerdem ein Messer, das er vor ein paar Wochen auf dem Hof gefunden und scharf wie eine Rasierklinge geschliffen hatte, eine mit Sand gefüllte Nylonsocke, eine Tube Klebstoff und ein Stück Stoff.
Er ließ den Motor an, stieß aus der Garage zurück und fuhr langsam den Weg zur Straße hinauf.
Paul Hammer hörte den Kombi vorbeifahren; er erkannte ihn am Knattern des defekten Auspuffs. Wo fuhr Jim Parker wohl so spät nachts noch hin? Er zog die Hand unter der Bettdecke vor und schaute auf das Leuchtzifferblatt seiner Uhr: es war Viertel vor zwölf.
»Kannst du nicht schlafen, Paul?« fragte Helen.
»Nein«, antwortete er.
»So geht das nicht weiter. Du machst dich ja völlig fertig.«
»Was soll ich denn tun, wenn es mir einfach nicht aus dem Kopf geht?«
Sie kuschelte sich an ihn und drückte seine Hand. »Paul, hör auf, dir Vorwürfe zu machen. Du hast nicht die geringste Schuld.« Er gab keine Antwort. Offenbar dachte Helen, er könne sein Gewissen auf- und zudrehen wie einen Wasserhahn. Sie konnte das anscheinend. Wenn es ums Ganze ging, dann sah eine Frau ihre einzige Pflicht darin, an ihre Familie zu denken. Doch ein Mann war sich bewußt, daß seine Pflicht manchmal über seine Familie hinausreichte.
Jim parkte hinter einer großen amerikanischen Limousine. Nach und nach gingen in den Häusern die Lichter aus, und der Verkehr wurde immer schwächer, bis nur hin und wieder ein Auto vorbeifuhr. In der Ferne schlug eine Kirchenglocke eins, dann halb zwei, dann zwei.
Er streifte die Stiefel ab und zog die Wollsocken, die Turnschuhe und Handschuhe an. Dann steckte er das Messer, die mit Sand gefüllte Socke, die Tube Klebstoff, das Stück Stoff und die Nylonstrümpfe in die Taschen seines Overalls.
Er stieg aus und ging über den Gehsteig zum Haus Nummer 36. Neben der Garage war ein schmaler Weg, der zu dem Garten hinter dem Haus führte. In der Mitte des Weges befand sich eine Tür, doch sie war nicht versperrt.
Im Garten zog er den Nylonstrumpf über den Kopf. Die Gangster hatten ihm gezeigt, wie gut man sich mit so einem Strumpf unkenntlich machen konnte.
Er nahm den Klebstoff und den Stoff aus der Tasche. Im Gefängnis hatte er allerlei gelernt. Er drückte den Klebstoff auf eine Scheibe des Küchenfensters und preßte das Tuch darauf. Dann schlug er mit der sandgefüllten Socke die Scheibe ein. Das Tuch und der Klebstoff hielten das Glas fest, und er hörte nur innen das leise Klirren eines heruntergefallenen Splitters. Einige zackige Glasstücke, die im Rahmen steckengeblieben waren, ließen sich mühelos herausziehen. Der Riegel war leicht zu erreichen.
Er kletterte über das Fensterbrett und sprang von der Arbeitsplatte, die sich unterhalb des Fensters befand. Dann wickelte er das zusammengefaltete Taschentuch um die Lampe und knipste sie an.
Der Küchenboden war voller Flaschen und Abfälle, und er mußte sich vorsehen, um nicht gegen irgend etwas zu stoßen. Er trat in die Diele. Rechts war die mit einem Läufer belegte Treppe. Der Läufer war abgetreten und zerrissen, genügte aber, um seine Schritte zu dämpfen.
Oben war ein L-förmiger Korridor mit fünf Türen. Drei oder vier führten wahrscheinlich in Schlafzimmer, eine oder zwei in ein Bad oder eine Toilette. Es würde nicht schwierig sein, festzustellen, in welchem Zimmer Friendly schlief. Vor vielen Jahren hatte er einmal zusammen mit Friendly in einem Zimmer geschlafen und war über den Lärm entsetzt gewesen, den er machte: er hatte Polypen und schnarchte wie eine Wildsau.
Er horchte an allen Türen. Hinter der Tür am anderen Ende des Korridors hörte er das unverkennbare Geräusch.
Jim nahm die Taschenlampe und die sandgefüllte Socke in die linke Hand und holte mit der rechten das Messer aus der Tasche. Es glitzerte im Licht der Taschenlampe. Während er es betrachtete, fiel ihm ein, was ihm ein Häftling im Gefängnis einmal gesagt hatte: »Versuch nie, einen Kerl ins Herz zu stechen, denn da bleibst du an den Rippen hängen – stich ihn in den Bauch, wo nichts im Weg ist, und dreh’s ein paarmal rum.« Wenn er es ordentlich herumdrehte, würde Friendly nie wieder über Caroline herfallen.
Er preßte das Messer mit Mittel- und Ringfinger an die Innenfläche seiner Hand und drückte mit Daumen und Zeigefinger vorsichtig die Klinke herunter. Lautlos stieß er die Tür auf. Als er ins Zimmer trat, blieb sein linker Fuß an einem Faden des zerschlissenen Teppichs hängen, und er stürzte. Dabei stieß er irgend etwas um, und Glas zersplitterte auf dem Boden.
Vom Bett herüber drang ein dumpfes Grunzen und das Rascheln von Bettwäsche. Die Nachttischlampe wurde angeknipst. Verblüfft starrte Friendly ihn an.
Draußen auf dem Korridor rief jemand ärgerlich, was denn los sei. Jim sprang auf. Er ließ Messer und Taschenlampe fallen, nahm die sandgefüllte Socke in die rechte Hand und rannte auf den Korridor hinaus.
Vor einer Tür neben der Ecke des Korridors stand Elkin in einem grell gemusterten Pyjama. Als er Jim erblickte, starrte er ihn ebenso erstaunt an wie Friendly.
Jim stürzte sich auf ihn und schlug mit der Socke zu. Elkin duckte sich, und die Socke traf ihn auf die Wange. Er schrie vor Schmerz laut auf. Ein zweiter Schlag traf seinen Hinterkopf, und er sackte zusammen.
Jim rannte die Treppe hinunter, riß die Haustür auf, lief zu dem Kombi, sprang hinein und fuhr los.
Zwischen Dracenden und Gerlingford bog er auf einen schmalen Weg ein, an dem die städtische Müllhalde lag. Stinkender Qualm stieg von dem ständig schwelenden Feuer auf. Er warf all die Dinge, die er benützt hatte, darauf und scharrte mit dem Fuß Müll darüber.
Voll Wut über seine Ungeschicklichkeit fuhr er nach Hause.