KAPITEL 23
Salvatore war übler
Laune, als er Darcys Zimmer verließ und seine Wolfstölen aufsuchte,
um sich zu vergewissern, dass sie auf die unvermeidliche Ankunft
der Vampire vorbereitet waren. Er gab freimütig zu, dass er
ziemlich überheblich sein konnte. Und ohne Zweifel ein gesundes Maß
an Eitelkeit besaß. Seit dem Tag seiner Geburt war er von jedem
Werwolf hofiert worden, dem er begegnete. Er war zum König bestimmt
gewesen. Ein Rassewolf von untadeliger Abstammung, der eine Macht
und Stärke gezeigt hatte, die deutlich über die der anderen
hinausging, selbst in seinen frühesten Jahren. Und natürlich war er
mit der Art männlicher Schönheit gesegnet, die Frauen dazu gebracht
hatte, seinetwegen Kämpfe auszutragen. Manchmal bis zum Tod.Es war
absolut kein Wunder, dass er davon ausging, jede Frau würde
begierig darauf sein, ihn in ihr Bett einzuladen.
Er betrat sein privates Büro, durchquerte den
kargen Raum und goss sich einen großen Schluck Brandy ein. Sein
gekränkter Stolz drängte ihn, nach oben zurückzukehren und der
undankbaren Hündin zu zeigen, welchen Genuss sie so unverfroren
ablehnte. Er hatte nicht umsonst Jahrzehnte der Vervollkommnung
seiner Verführungskünste gewidmet! Keine Frau verließ sein Bett
unbefriedigt.
Aber ein Teil von ihm weigerte sich, dermaßen
niedrigen Instinkten nachzugeben. Wie er Darcy bereits gesagt
hatte: Er war kein Tier. Eine Frau gegen ihren Willen zu nehmen,
war äußerst abstoßend. Selbst wenn es bedeutete, damit die
kostbaren Nachfahrenr zu bekommen, die sie so dringend benötigten.
Was sollte er also tun?
Salvatore spannte sich an, als er den Duft von
teurem Parfüm bemerkte, der in der Luft lag. Einen kurzen
Augenblick zog er in Betracht, aus dem Fenster zu springen. Er
konnte mit Leichtigkeit an der Seite des Gebäudes nach oben auf das
Dach klettern.
Er biss die Zähne zusammen, als er bemerkte, wie
seine Gedanken die Richtung der Feigheit einschlugen. Er fürchtete
keinen Mann und ganz sicher keine Frau. Nicht einmal Sophia.
Er zwang sich, sich lässig an den Schreibtisch zu
lehnen, und nippte ruhig an seinem Brandy, als die Tür aufgeschoben
wurde und die wunderschöne Rassewölfin in den Raum
schlenderte.
Ein schwaches Lächeln lag auf ihrem Gesicht, als
sie vor ihm stehen blieb und ihren schamlosen Blick über ihn
gleiten ließ.
»Armer Salvatore, du wirkst nicht sonderlich
glücklich für einen Mann, der kurz davorsteht, seiner Gemahlin
beizuwohnen«, meinte sie gedehnt.
Er seufzte und gab sich gelangweilt. »Verschwinde,
Sophia.«
In den grünen Augen blitzte Verärgerung auf. Sophia
war eine Frau, die von jedem Mann in ihrer Umgebung erwartete, dass
er vor Begierde aufkeuchte, wenn sie sich ihm nur näherte.
»Wie könnte ich?« Sie ließ ihren Blick zu seinem
halb
leeren Glas sinken. »Als Mutter muss ich doch wohl besorgt sein,
wenn ich feststellen muss, dass der Gefährte meiner Tochter seinen
Kummer in Brandy ertränkt.«
»Ein Glas bedeutet wohl kaum, dass ich meinen
Kummer ertränke.«
»Du findest sie nicht attraktiv?«
»Ich finde sie beträchtlich attraktiver als ihre
Mutter.«
»Wie empörend.« Sie lachte kurz und schrill auf.
»Sag mir, was dich bedrückt!«
Salvatore trank den Rest Brandy aus und stellte das
Glas geräuschvoll auf seinem Schreibtisch ab.
»Deine Tochter kam zu dem Entschluss, dass es ihr
nicht besonders viel bedeutet, mich zum Gemahl zu bekommen.«
»Was für eine Rolle spielt das?« Sophia sah ihn
erwartungsvoll an. »Sie ist nun hier und befindet sich in deiner
Gewalt.«
»Und sie ist nicht gewillt, sich mit mir zu
vereinigen.« Er richtete sich abrupt auf und widerstand dem Drang,
die Frau zu schlagen. Sophia gefielen dominante Männer. Er würde
ihr diese Genugtuung nicht gönnen. »Ich vergewaltige keine
Frauen.«
Sophia, die das Glühen seiner Gewalttätigkeit ohne
Mühe spürte, warf ihm ein spöttisches Lächeln zu. »Du zweifelst
doch nicht etwa an deiner Überzeugungskraft? Wirklich, Salvatore,
ich dachte, du besäßest mehr Courage!«
Er knurrte leise. Wie zum Teufel dieses süße,
unschuldige Kind dort oben jemals aus der Gebärmutter dieser Frau
hatte kommen können, würde ihm auf ewig ein Rätsel bleiben.
»Meine Courage ist nicht das Problem. Sie glaubt,
sie sei verliebt in den Vampir.«
»Ach ja? Sie wird ihn schon vergessen.« Sophia
streckte die Hand aus, um einen manikürten Fingernagel über
Salvatores Wange zu ziehen. »Liebe ist nichts weiter als eine Lüge,
die Männer benutzen, um Frauen in die ewige Sklaverei zu
locken.«
»Wie charmant, Sophia.«
»Du glaubst doch gewiss nicht an die Liebe?«
Salvatore bemühte sich um eine ausdruckslose Miene.
Liebe unter Werwölfen war inzwischen nicht mehr als ein Mythos. Das
Streben nach Kindern war zum alleinigen Ziel geworden, und es wurde
nicht zugelassen, dass etwas so Profanes wie Gefühle zu einer
Störung wurde. Es würde als Zeichen einer fatalen Schwäche
angesehen werden, wenn er zugäbe, dass er sich in tiefster Nacht
danach sehnte, die eine Frau zu finden, die seine wahre Gefährtin
werden konnte.
Als er bemerkte, dass Sophia ihn mit wachsender
Neugierde ansah, zwang sich Salvatore zu einem nonchalanten
Achselzucken. »Es spielt keine Rolle, ob ich daran glaube oder
nicht. Solange Darcy …«
»Oh, um Gottes willen, geh einfach nach oben, und
bringe es hinter dich!«, knurrte Sophia verärgert. »Sobald sie
schwanger ist, kannst du sie an jemanden übergeben, der ein
bisschen weniger gefühlsduselig ist. Wie sieht es mit Huntley aus?
Er findet Gefallen daran, sich widerstrebenden Frauen
aufzudrängen.«
Salvatore versteifte sich. Er mochte nicht glauben,
dass Sophia gefühllos genug sein sollte, um ihre Tochter an ein
dermaßen wildes Tier auszuliefern.
»Du bist wirklich eine Hündin.«
»Ja, das weiß ich.«
Salvatore hob die Hand, kurz davor, die lästige
Frau mit
körperlicher Gewalt aus seinem Arbeitszimmer zu entfernen, als er
abrupt innehielt. Seine Sinne schärften sich, und er war
augenblicklich kampfbereit. Er legte den Kopf in den Nacken und
witterte. »Da kommt etwas.«
Sophia knurrte heftig. »Verdammt, es sind die
Vampire!«
»Gut.« Ein kaltes Lächeln zeigte sich auf
Salvatores Gesicht. Alle Gedanken an Darcy und seine unangenehme
Pflicht waren vergessen, als freudige Erwartung in ihm
aufflackerte. Das war genau das, was er wollte! Die Gelegenheit,
sich ein für alle Mal von dem Fluch seiner Existenz zu befreien. Ob
nun zu Recht oder zu Unrecht, jedenfalls war er davon überzeugt,
dass die Schuld an dem Untergang der Werwölfe ganz und gar den
Vampiren zuzuschreiben war. In erster Linie Styx. Sie würden für
das Unrecht bezahlen, das sie seinem Volk angetan hatten!
»Sobald Styx mein Versteck betritt, darf ich ihn
töten. Nicht einmal die Kommission könnte einen Werwolf dafür
verurteilen, dass er sein Territorium schützt.«
Sophia lief im Raum umher. Es war deutlich zu
erkennen, dass sie aufgeregt war. »Du denkst, er wird so töricht
sein?«
»Fällt dir denn überhaupt nichts auf?«
Sie warf ihm einen scharfen Blick zu. »Wenn du
etwas zu sagen hast, sag es einfach.«
»Er hat sich mit ihr verbunden.«
»Verbunden?« Sie kam stolpernd zum
Stillstand.
»Ich konnte ihn überall an ihr riechen. Nichts wird
ihn von dem Versuch abhalten, zu ihr zu gelangen.«
»Bist du wahnsinnig?« Sophia wurde bleich und legte
die Hand auf ihr Herz. »Ein Vampir, der eine Verbindung eingegangen
ist? Er wird uns alle töten!«
»Ich besitze durchaus Geschicklichkeit im Kampf,
Sophia«,
fuhr Salvatore sie an. Sein Stolz war gekränkt. »Die Wolfstölen
sind bereits an ihrem Platz, und eine Reihe von unangenehmen
Überraschungen wurde vorbereitet. Sie werden feststellen, dass wir
keine so leichte Beute sind, wie sie erwarten.«
Sophia lachte freudlos auf und steuerte auf die Tür
zu. »Du bist ein Dummkopf, Salvatore, und ich meinerseits habe
nicht die Absicht zu bleiben, um von den Blutsaugern
niedergemetzelt zu werden!«
»Schön, lauf nur davon, Sophia! Mir reicht es mit
dem Katzbuckeln vor den arroganten Bastarden. Ich beabsichtige, zu
bleiben und zu kämpfen!«
Sie hielt an und blickte über ihre Schulter. »Ich
werde zurückkehren und das begraben, was von deinem Kadaver übrig
ist.«
Salvatore sah zu, wie sich die Tür hinter ihrer im
Rückzug befindlichen Gestalt schloss, bevor er den Kopf drehte und
auf den Boden spuckte. »Feigling.«
Styx musste feststellen, dass er sich trotz
seiner unbestrittenen Fertigkeiten und der flüssigen Anmut seiner
Bewegungen bemühen musste, mit dem winzigen Gargylen Schritt zu
halten.
Das war weiter keine Überraschung, wenn man
bedachte, dass Levets kleine Statur perfekt für das beengte
Abwasserrohr geeignet war, während Styx’ weitaus größerer Körper
vollkommen zusammengekrümmt war. Noch schlimmer war jedoch die
Tatsache, dass der Gestank, der in der muffigen Luft lag,
ausreichte, um selbst in dem entschlossensten Dämonen Abscheu
hochkommen zu lassen.
Als Styx mit einem Tritt eine Ratte zur Seite
beförderte, die groß genug war, um einen Kleinwagen zu
verschlucken,
stieß er mit dem Kopf gegen einen Stahlbolzen, der von oben
herunterragte. »Bei den Göttern, Gargyle, verlangsame deine
Schritte!«, fauchte er, während er die Finger hob, um den
plötzlichen Blutfluss zu stillen.
Levet blickte sich mit zuckenden Flügeln um. »Ich
dachte, du wärest darauf erpicht, Darcy schnell zu
erreichen?«
Styx knurrte tief in der Kehle. Der Drang, bei
seiner Gefährtin zu sein, ließ ihn beinahe wahnsinnig werden. Nur
die Erkenntnis, dass ein kühler Kopf notwendig war, um zu Darcy zu
gelangen, hielt seine brennende Sehnsucht im Zaum.
»Für den Fall, dass du es noch nicht bemerkt haben
solltest, ich bin bedeutend größer als du.«
Levets Augen verengten sich. »Aber natürlich, reib
mir deine Größe noch unter die Nase!«
Mit einiger Mühe gelang es Styx, nicht die Geduld
zu verlieren. Wenn er nicht gewusst hätte, dass der Gargyle Darcy
beinahe ebenso verehrte wie er selbst, hätte er den lästigen
Dummkopf bereits erwürgt.
»Ich wollte darauf hinaus, dass ich es wesentlich
schwieriger finde, durch Abwasserkanäle zu schleichen. Wie weit ist
es denn noch?«
Als ob er Styx’ zerbröselnde Selbstbeherrschung
spürte, wurde der Gargyle unnatürlich ernst. »Da gibt es eine
Öffnung, nur wenige Meter vor uns.«
Styx dankte den Göttern dafür. »Und sie führt zu
der Tiefgarage?«
»Ja. Da gibt es eine Treppe zu den oberen
Stockwerken, die wir nehmen können.«
»Sie wird zweifelsohne bewacht«, murmelte Styx,
frustriert von seiner Unfähigkeit, mit seinen Sinnen das schwere
Eisen zu durchdringen, das ihn umgab. Er bezweifelte keinen Moment
lang, dass Viper und seine Clanangehörigen bereits das
heruntergekommene Hotel umzingelten. Und dass die Wölfe durch die
Horde von Vampiren voll und ganz abgelenkt waren.
Aber er würde Salvatore nicht unterschätzen. Der
Werwolf würde es wohl nicht zulassen, dass Darcy vollkommen
ungeschützt war.
»Wir müssen zuschlagen, bevor jemand unseretwegen
Alarm auslöst!«
»Mach dir keine Sorgen, Vampir. Ich habe den
perfekten Zauber …«
»Nein! Keine Zaubersprüche«, befahl Styx in
heftigem Ton. »Ich werde mich um jede Wolfstöle kümmern, die uns
begegnet.«
Levet grunzte gekränkt. »Undankbarer
Mistkerl.«
»Ich habe deine Magie bereits gesehen, Levet. Ich
werde Darcy nicht deinen Katastrophen ausliefern.«
Der Gargyle warf ihm über seine Schulter ein
verschmitztes Lächeln zu. »Es hat dich ja schwer erwischt,
Altehrwürdiger!«
Falls er gehofft hatte, Styx damit aufzuziehen,
verschwendete er seine Zeit. Styx hatte sich mit dem Wissen
abgefunden, dass sich seine Welt nun um eine einzige Frau drehte.
Und erstaunlicherweise war diese Erkenntnis beinahe schmerzlos
gewesen. Beinahe.
»Sie ist meine Gefährtin.«
Levet verfiel glücklicherweise in Schweigen,
während sie durch das schleimige Abflussrohr stapften. Nicht, dass
Styx erwartete, dass das andauern würde. Es war eher
wahrscheinlicher, dass der Himmel einstürzte, als dass dieser
Gargyle seine Lippen vom Plappern abhielt.
Das Wunder dauerte weniger als eine Minute an.
Levet räusperte sich und blickte starr nach vorn. »Du weißt, es ist
möglich, dass sie lieber bei ihrer Familie bleiben möchte«, sagte
er.
Styx zuckte zusammen. Verdammter Gargyle! Dieser
düstere Gedanke bedeutete eine Ablenkung, die er in diesem
Augenblick nicht gebrauchen konnte.
Sich seinen Weg weiter und weiter durch das
feuchtkalte, schmutzige Abflussrohr bahnend, biss Styx die Zähne
zusammen, um sich gegen den aufflackernden Schmerz zu wappnen. »Ich
habe diese Möglichkeit in Erwägung gezogen.«
»Und?«, drängte Levet.
Dieser Dämon war entweder geistig zurückgeblieben
oder unglaublich naiv. Niemand mit auch nur etwas Verstand streute
Salz in die Wunden eines Vampirs!
»Und ich werde sie nicht gegen ihren Willen
mitnehmen«, stieß er hervor.
»Wirklich nicht?« Levet kicherte verblüfft. »Das
ist sehr … unvampirisch.«
Das entsprach natürlich der Wahrheit. Und es stand
im krassen Widerspruch zu jedem einzelnen von Styx’ Instinkten.
Aber er hatte am eigenen Leib erfahren, dass er Darcy nicht zwingen
konnte, bei ihm zu bleiben.
Er blickte grimmig vor sich hin. »Ich habe nicht
gesagt, dass ich nicht den Rest der Ewigkeit mit dem Versuch
verbringen werde, ihre Meinung zu ändern.«
Ein kurzes Schweigen folgte, bevor der Gargyle
schwach aufseufzte. »Sie wird sich für dich entscheiden, Styx.
Trotz all ihres gesunden Menschenverstandes scheint sie über so
einen erbärmlich schlechten Geschmack zu verfügen, dass sie sich in
dich verliebt hat.«
Styx bemerkte, wie sein Herz bei den Worten des
Dämons einen Satz machte. Als sei er ein schwacher, emotionaler
Mensch und nicht der Herrscher über alle Vampire.
»Das gestand sie dir?«, verlangte er zu
wissen.
»Sie musste es mir nicht gestehen. Ich bin
Franzose.« Levet machte eine graziöse Handbewegung. »Ich erkenne
Liebe, wenn ich sie sehe.«
Styx bemerkte nicht einmal, dass sein Kopf gegen
einen weiteren niedrig hängenden Bolzen krachte. Er wusste, dass
Darcy eine Verbindung zu ihm spürte. Und dass ihre Gefühle zutiefst
verwirrt waren. Er wagte sogar zu hoffen, dass sie mit der Zeit
willens sein würde, sich ihm hinzugeben, um ihre Verbindung zu
vervollständigen.
Was er nicht wusste, war, ob das ausreichen würde,
um ihre tiefe Sehnsucht nach einer Familie zu überwinden.
Darcy biss die Zähne zusammen und zerrte
weiterhin an den Eisenhandschellen. Ihre Handgelenke waren schon
geschwollen und blutig von ihren Bemühungen, aber sie weigerte
sich, sich ihre Niederlage einzugestehen.
Verdammt, die Sonne war bereits untergegangen, und
es gab nicht den geringsten Zweifel, dass Styx gerade jetzt
heroisch zu ihrer Rettung eilte. Sie musste hier verschwinden,
bevor die Hölle losbrach!
Fluchend und an den vom Teufel geschmiedeten Ketten
zerrend, hätte Darcy fast nicht das leichte Prickeln auf ihrer Haut
und das leise Flüstern, das in ihrem Kopf ertönte, bemerkt.
»Darcy!«
Sie wurde still, und ihr Herz wurde ganz plötzlich
von Angst ergriffen. »Styx. Wo bist du?«
»Ich bin in deiner Nähe. Bist du allein?«
»Ja, aber es ist zu gefährlich, Styx!«, sagte sie
laut, weil sie keine Ahnung hatte, ob er sich tatsächlich in ihrem
Kopf befand oder nicht. »Salvatore wartet bestimmt auf dich.«
»Die Werwölfe sind abgelenkt.«
Darcy hatte nicht vor, ihn zu fragen, welche Art
von Ablenkung er sich ausgedacht hatte. Sie fing an zu erkennen,
dass die Unwissenden wirklich selig waren.
»Es ist ganz egal, was für eine Ablenkung das ist,
er wird trotzdem wissen, dass du hier bist!« Darcy konnte
tatsächlich die Woge seiner Emotionen fühlen.
»Ich fürchte mich nicht vor einem Rudel Hunde!«,
entgegnete er.
Da ihre eigenen Nerven blank lagen, war Darcy
ihrerseits sofort wieder auf hundertachtzig. Verdammt noch mal!
Warum hatten Männer bloß immer das Gefühl, sie müssten sich in den
Kampf stürzen?
»Das ist nicht der richtige Zeitpunkt für deine
Machoscheiße!«, brachte Darcy zwischen zusammengebissenen Zähnen
hervor. »Du machst alles nur noch schlimmer!«
Ihr tönten die Ohren von dem Schweigen in ihrem
Kopf, und einen kurzen Moment lang dachte sie, er habe sich von ihr
gelöst. Dann lief ihr ein kalter Schauder über den Rücken.
»Ist es nicht dein Wunsch, gerettet zu werden?«,
fragte er. »Ziehst du es vor, dort zu verweilen?«
Sogar aus dieser Entfernung konnte Darcy Styx’
entsetzliche Angst fühlen. Er dachte, sie teilte ihm mit, er solle
verschwinden, weil sie bei den Werwölfen bleiben wolle. Ihr Herz
zog sich zusammen, als sein Schmerz in ihr widerhallte.
Sie hatte gedacht, sie brauchte eine Familie, die
ihr Herz erfüllte, aber das war nicht mehr als eine Illusion
gewesen. All die Liebe und die Sicherheit, die sie jemals brauchen
würde, konnte sie in den Armen ihres Vampirs finden.
»Natürlich will ich nicht hierbleiben«, sagte sie
sanft. »Aber ich lasse es nicht zu, dass du dich selbst in Gefahr
bringst!«
Seine plötzliche Erleichterung hüllte sie ein. »Die
einzige Gefahr für mich besteht darin, von dir getrennt zu sein!«,
erwiderte er mit einem Anflug von Stahl in der Stimme. »Ich kann
ohne dich nicht überleben.«
»Sturkopf«, murmelte sie. Sie kannte diesen Ton. Er
würde herkommen, um sie zu holen. Und nichts, nicht einmal die
Hölle selbst, würde ihn davon abhalten. »Sei vorsichtig.«
Sein leises Lachen ertönte in ihrem Kopf. »Ja, mein
Engel.«
Darcy lehnte sich müde wieder gegen die Kissen und
bemühte sich, ihren rasenden Herzschlag wieder zu beruhigen.
Aber was, wenn Salvatore in der Dunkelheit lauerte
und darauf wartete, Styx in einen Hinterhalt zu locken? Der Werwolf
war verzweifelt. Und ein verzweifelter Dämon war ganz sicher ein
gefährlicher Dämon. Styx konnte verwundet werden. Und sogar getötet
…
Der furchtbare Gedanke wurde glücklicherweise
unterbrochen, als die Tür mit Entschlossenheit aufgestoßen wurde
und eine vertraute männliche Gestalt über die Schwelle trat.
Eine allumfassende Erleichterung flackerte in ihr
auf, und sie ließ ihren Blick hingebungsvoll über das wunderschöne
bronzefarbene Gesicht und den kräftigen Körper gleiten, der von
schwarzem Leder umschlossen war.
Mit seinem rabenschwarzen Haar, das nach hinten
gekämmt und zu einem festen Zopf geflochten war, und einem langen
Schwert, das er sich auf den Rücken geschnallt hatte, wirkte Styx
vom Scheitel bis zur Sohle wie ein Krieger, aber alles, was Darcy
in ihm sehen konnte, war der zärtliche Liebhaber, der ihr Leben
völlig auf den Kopf gestellt hatte.
»Styx!«, keuchte sie, und ein Kloß bildete sich in
ihrem Hals.
Ein leises, gefährliches Knurren erklang, als Styx
leichtfüßig auf sie zukam, um sie an den verletzten Handgelenken zu
berühren.
»Ich werde ihn töten!«, sagte er, und seine
ausdrucks - lose Stimme war erschreckender, als es jedes Gebrüll je
hätte sein können. »Und sein Tod wird so langsam und schmerzhaft
sein, wie es nur möglich ist.«
»Nein!« Darcy drehte ihren Arm herum, um seine
kühlen Finger mit ihren ergreifen zu können. »Mach mich einfach
los, so dass wir hier verschwinden können.«
In seinen dunklen Augen loderte unterdrückte
Angriffslust, aber seine Berührung war zart, als er nach den
Eisenhandschellen griff und sie mühelos in zwei Teile
zerbrach.
Darcy kletterte von dem schmalen Bett herunter und
seufzte tief auf. »Gott sei Dank.«
Ihre Füße berührten kaum den Boden, als Styx sie
auch schon in die Arme nahm. Seine Lippen streiften über ihre
Stirn, und dann wich er ein Stück zurück, um ihren grünen und
blauen Kiefer mit zusammengekniffenen Augen zu betrachten.
»Du bist verletzt.«
Darcy schmiegte sich an seinen starken Körper. Was
machte es schon, wenn sie sich benahm wie im schlimmsten Klischee?
Eine schwache Frau, die sich an ihren durchtrainierten Mann
klammerte und darauf angewiesen war, dass er sie rettete. Sie war
einfach viel zu glücklich, als dass ihr das wirklich etwas
ausgemacht hätte.
»Ein Gruß von meiner geliebten Mutter«, murmelte
sie an seiner Brust.
Seine Arme schlossen sich fester um sie, und seine
Wange ruhte auf ihrem Scheitel. »Das tut mir leid, Darcy.«
»Spielt keine Rolle. Sie ist …« Darcy schüttelte
den Kopf. »Na ja, sie ist völlig anders, als ich sie mir
vorgestellt habe. Um ganz ehrlich zu sein, wünschte ich, wir hätten
uns nie kennengelernt. Ich wäre lieber ganz allein auf der Welt,
als sie zur Mutter zu haben!«
»Du bist nicht allein, Darcy.« Sein ungestümer Ton
ließ auf ihren Armen eine Gänsehaut entstehen. »Du hast einen
Gefährten. Und eine Familie, die sehnsüchtig darauf wartet, dass
ich dich ihrer Obhut überantworte.«
Darcy musste einfach lächeln, als sie an Shay und
Abby und sogar an deren arrogante Gefährten dachte. Sie hatten
weitaus mehr Sorge um ihr Wohlergehen gezeigt als irgendeiner von
den Werwölfen. Einschließlich ihrer Mutter. Und das war doch
sicherlich das, was eine Familie ausmachte.
Darcy lehnte sich gegen Styx, bis ein lautes
Räuspern durch den Raum hallte.
»So sehr ich es auch hasse, diesen filmreifen
Augenblick zu unterbrechen, ich denke dennoch, wir sollten uns auf
die Socken machen!«, befahl eine zarte Stimme.
Freudig überrascht wandte Darcy den Kopf, um den
kleinen Gargylen zu entdecken, der in der Türöffnung stand.
»Auf die Socken machen?«, fragte Styx verwirrt
nach.
»Hopphopp!« Levet winkte mit den Händen. »Du weißt
schon, lospesen.«
Darcy unterdrückte ihr Lächeln und riss sich von
Styx los, um sich vor den Gargylen zu knien und ihm einen Kuss auf
die Wange zu geben. »Levet!«
Seine grauen Augen leuchteten entzückt auf.
»Bonjour, ma petite. Ich bin hergekommen,
um dich zu retten!«
»Das sehe ich.«
Er flatterte stolz mit den Flügeln. »Du bist
natürlich nicht die Erste. Es scheint eine Gewohnheit von mir zu
werden, junge Damen in Bedrängnis zu retten. Es ist wohl so etwas
wie meine Bestimmung.«
Styx schnaubte, aber Darcy sah ihren Freund mit
Ernst und Respekt an. Sie würde diesem Dämon nie vergessen, dass er
sich der Gefahr in den Weg gestellt hatte, so dass sie vor den
beiden Vampiren hatte fliehen können, die versucht hatten, sie zu
kidnappen.
»Ein wahrer Ritter in schimmernder Rüstung!«, sagte
sie mit unverkennbarer Aufrichtigkeit.
Levet schwoll ganz offensichtlich die Brust vor
Stolz. »Précisement.«
Styx trat zu ihnen und murmelte etwas vor sich hin,
bevor er Darcy wieder auf die Beine zog. »Ich dachte, es sei dein
Wunsch, dass wir … uns auf die Socken machen?«, fragte er
Levet.
»Spielverderber.« Levet streckte ihm die Zunge
heraus. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und führte die beiden
anderen durch den dunklen Gang.
Darcy folgte seiner winzigen Gestalt, und Styx
bildete die Nachhut. Ein Blick über ihre Schulter zeigte ihr seinen
kalten, entschlossenen Gesichtsausdruck auf seinem Weg
durch die Dunkelheit. Er schien kampfbereiter als Rambo. Und Gott
gnade allem, was ihm jetzt vielleicht zufällig über den Weg lief!
Darcy betete stumm, dass sie es schaffen würden, sich unbemerkt aus
dem Versteck zu schleichen.
Sie fürchtete nicht nur um Styx und Levet - auch
der Gedanke an einen blutigen Kampf mit tödlichem Ausgang krampfte
ihr vor Angst den Magen zusammen. Sie mochte ja wütend auf
Salvatore und ihre Mutter sein, aber sie wollte nicht, dass sie
verletzt wurden. Und ganz sicher nicht ihretwegen.
Vorsichtig darauf bedacht, nicht über die
verzogenen Dielenbretter zu stolpern, hielt Darcy mit Levet
Schritt, der sie in den hinteren Teil des Gebäudes führte. Das
starke Gefühl von Verfall wurde noch intensiver, als sie eine
schmale Treppe hinunterstiegen. Darcy stellte fest, dass sie mehr
als einmal den Blick zur Decke hob, an der Wasserflecken und
Spinnen zu entdecken waren, die so groß waren, dass sie fast
erwartete, gleich würden Frodo und Sam auftauchen, um sie zu
bekämpfen.
Die Gruppe hatte bereits drei Treppen hinter sich
gebracht und schlich durch die verlassene Eingangshalle, als Styx
in einem verblüffenden Tempo an ihnen vorbeiglitt.
»Halt!«
Er streckte die Arme aus und drehte sich um, um
durch die Türöffnung auf der gegenüberliegenden Seite zu spähen.
Wie aufs Stichwort war ein Rascheln zu hören, und die dunkle,
schlanke Gestalt Salvatores erschien. Darcy rutschte das Herz in
die Hose, als sie beobachtete, wie sich ein spöttisches Lächeln auf
den Lippen des Werwolfes bildete. Salvatore hatte absichtlich auf
sie gewartet, und er wollte ihnen Ärger bereiten!
»Ah, Styx!« Der Rassewolf vollführte eine tiefe
Verbeugung.
Selbst in dieser verwahrlosten Umgebung gelang es ihm, mehr nach
einem gebildeten Geschäftsmann auszusehen als nach einem äußerst
gefährlichen Dämon. Was nur bewies, dass man Dinge nicht nach ihrem
äußeren Erscheinungsbild beurteilen sollte.
»Willkommen in meinem Versteck, Meister! Ich begann
schon zu befürchten, dass Ihr nie eintreffen würdet.«
Styx stellte sich breitbeiniger hin und stemmte die
Hände in die Hüften. Seine Miene veränderte sich nicht, aber die
Kälte, die in der Luft lag und immer größer wurde, war
unverkennbar.
»Tretet zur Seite, Salvatore!«, befahl er in einem
Tonfall, der Darcy zum Zittern brachte. »So sehr ich mich auch
danach sehne, Euch das Herz aus der Brust zu reißen, ich hege nicht
den Wunsch, Darcy aufzuregen.«
»Darin stimmen wir überein.« Salvatore warf einen
betont intimen Blick in Darcys Richtung, bevor er seine
Aufmerksamkeit wieder Styx zuwandte. »Unglücklicherweise wart Ihr
mir bereits zu lange ein Dorn im Auge. Heute Nacht habe ich die
Absicht, mich ein für alle Mal von Euch zu befreien.«
»Kühne Worte, Wolf! Ich hoffe, Ihr habt mehr als
nur Euch selbst mitgebracht, um diese Aufgabe zu erledigen«,
fauchte Styx und trat vor Darcy. »Nicht einmal Ihr könnt töricht
genug sein zu glauben, Ihr könnet mich ohne eine Menge
Unterstützung töten!«
»Wir werden sehen«, schnurrte Salvatore.
»Wie Ihr wünscht!«
»Nein …« Darcy streckte die Hand aus, um Styx
hinten am Hemd zu packen. Das war allerdings vergeudete Mühe. Sie
bekam nichts außer Luft zu fassen, da Styx einen Satz in Richtung
des wartenden Werwolfes machte.
Es trieb ihr die Luft aus den Lungen, als die
beiden Dämonen mit enormer Wucht zusammenstießen. Für einen
Augenblick verlor sie sich in entsetzter Faszination, während die
beiden miteinander rangen. Ihr Muskelspiel schien sich mit
unnatürlicher Kraft zu vollziehen.
Sie umklammerten sich gegenseitig, und jeder von
ihnen versuchte die Oberhand zu gewinnen. Styx’ Vorteile waren
seine Größe und seine Stärke, aber Salvatore gelang es, seine
Geschwindigkeit dazu zu nutzen, seinem Gegner einige heftige
Schläge zu verpassen, die einen Sterblichen sicher getötet
hätten.
Trotz Salvatores blitzschneller Hiebe schien es,
als würde es ein kurzer Kampf werden, aus dem Styx als eindeutiger
Sieger hervorgehen würde. Da umgab plötzlich ein eigenartiger
Schimmer den Werwolf, und Darcy fühlte, wie es in ihrem Blut zu
kribbeln begann. Instinktiv machte sie einen Schritt nach hinten,
als Salvatore ein haarsträubendes Heulen von sich gab und anfing,
sich zu verwandeln. Heilige … Scheiße.
Es passierte nicht auf einmal, wie es bei Jade
gewesen war. Stattdessen schien sein Körper in sich
zusammenzufallen und wurde breiter, so dass er sein teures Hemd
zerriss. Erst dann begann sich sein Gesicht zu verlängern und zu
dehnen, während wie von Zauberhand dichtes Fell auf seiner Haut zu
sprießen begann.
Und vielleicht ist es ja wirklich ein Zauber, dachte Darcy mit einem
Schauder. Auch wenn es eine schmerzhafte Art von Zauberei sein
musste, dem Knacken und Krachen seiner Knochen nach zu
schließen.
Es lag vielleicht eine makabere Schönheit in der
Verwandlung, aber Darcy konnte eine plötzliche, überwältigende
Erleichterung darüber nicht leugnen, dass sie genetisch
verändert worden war. Das riesige Tier, das jetzt mitten im Raum
stand, mochte ja eine ungeheure Stärke und Kräfte besitzen, die
weit über ihre eigenen hinausgingen, aber ihre Pubertät war auch so
schon schwierig genug gewesen, ohne dass sie sich einmal im Monat
in eine wilde Bestie verwandelte.
Darcy schluckte und kämpfte gegen ein merkwürdiges
Gefühl der Faszination an. Salvatore stand jetzt auf den
Hinterbeinen und stürzte sich mit den tödlichen Krallen seiner
Vorderläufe auf Styx.
Sie musste dafür sorgen, dass das aufhörte! Sie
musste sie davon abhalten, sich gegenseitig zu töten!
Sie trat vor, ohne auch nur die leiseste Ahnung zu
haben, wie sie diese übermenschliche Aufgabe lösen sollte, und
wurde fast in die Knie gezwungen, als Levet unerwartet seine Arme
um ihre Beine schlang und sich weigerte, sie wieder loszulassen.
»Nein, Darcy!«, befahl er.
Sie sah ungeduldig zu ihm hinunter. »Lass mich los,
Levet! Es wird noch jemand verletzt werden!«
»Oui, und wenn du dich da
einzumischen versuchst, wird es dein geliebter Vampir sein!«,
krächzte er. »Du wirst ihn nur ablenken.«
Sie biss die Zähne zusammen, als die Wahrheit
seiner Worte durch den Schleier aus Angst sickerte. Verdammt, Levet
hatte recht. Sobald sie sich selbst auch nur leicht in Gefahr
brachte, würde Styx seine Aufmerksamkeit von seinem Angriff auf
Salvatore abwenden und versuchen, sie zu schützen. Er konnte
einfach nicht anders.
Sie presste ihre Hände gegen ihr heftig pochendes
Herz, gezwungen, dem sich entwickelnden Kampf untätig
zuzusehen.
Styx hatte es geschafft, sein großes Schwert aus
der
Scheide zu ziehen, während Salvatore ihn umkreiste. Sogar im
Vergleich zu dem Rassewerwolf wirkte er wild und vollkommen
unbesiegbar, aber Darcy entging seine Vorsicht nicht, als er darauf
wartete, dass Salvatore den ersten Schritt machte. Gleichgültig,
wie eindrucksvoll seine Fähigkeiten im Kampf auch waren, es war
offensichtlich, dass er die Gefahr respektierte, die der Werwolf
darstellte.
Lange Krallen kratzten über den Holzboden, als
Salvatore einen Angriff antäuschte und dann einen Satz zur Seite
machte. Das Schwert glitt durch die Luft, und der Werwolf schnappte
mit seinen Zähnen direkt nach Styx’ Hals.
Styx wich dem Angriff mühelos aus, im Zuge dessen
ihm ohne Zweifel die Kehle herausgerissen worden wäre, und sein
Schwert änderte den Kurs und zielte nun direkt auf Salvatores
Herz.
Mit einer geschmeidigen Bewegung wich der Werwolf
der Bahn der Schwertklinge aus, und so schnell, dass es mit bloßem
Auge kaum erkennbar war, sprang er über Styx hinüber und schlug
seine Klauen in den Rücken des Vampirs.
Darcy stieß einen Angstschrei aus, doch da Levet
sich an ihre Beine klammerte, war sie nicht in der Lage, zu dem
Vampir zu rennen.
Styx taumelte, aber mit beunruhigender Anmut schoss
er herum, und das Schwert glitt durch Salvatores Flanke, bevor der
Werwolf nach hinten springen konnte. Die beiden umkreisten sich
weiterhin gegenseitig. Trotz der Finsternis konnte Darcy den
unverkennbaren Geruch von Blut riechen, und zwar sowohl Vampirblut
als auch Werwolfsblut.
»Levet«, flüsterte sie, »tu doch was!«
Seine kurzen Finger gruben sich in ihren Schenkel.
»Ich kann nichts tun, chérie. Es wird bald
vorbei sein.«
»Wenn Styx tot ist?«, fauchte sie.
»Er wird nicht scheitern, Darcy«, versprach ihr der
Gargyle. »Du musst Vertrauen haben!«
Vertrauen? Sie presste die Hände gegen ihre Lippen,
als Salvatore einen neuen Angriff startete. Die Wucht seines
Aufpralls schickte beide Kämpfer zu Boden. Die Holzbretter ächzten
protestierend, als die beiden ineinander verschlungen über den
Boden rollten, und ihre Fangzähne verbissen sich tief in den
jeweils anderen, während beide versuchten, den tödlichen Schlag zu
landen. Oder in diesem Fall den tödlichen Biss.
Darcy zog sich der Magen zusammen, als der
Blutgeruch so stark wurde, dass sie fast daran erstickte. Beide
brachten sich gegenseitig Verletzungen bei, von denen einige so
scheußlich waren, dass sie ihre ureigene Existenz
gefährdeten.
Ein Heulen durchschnitt die Luft, als Salvatore
sich kraftvoll abstieß und es schaffte, sich auf Styx zu rollen, um
ihn auf dem Boden festzuhalten. In der Dunkelheit konnte Darcy die
Muskeln ausmachen, die sich unter dem dichten Fell wölbten, das
Salvatores Körper bedeckte, sowie das weiße Aufblitzen seiner
langen Zähne.
Und was noch schlimmer war: Sie hätte schwören
können, dass in den schwarzen Augen ein sehr menschlicher Hass
brannte. Er wollte, dass Styx starb. Und das ging weit über das
Bedürfnis hinaus, Darcy für sich zu haben.
Sich der Tatsache nicht bewusst, dass ihr Tränen
über die Wangen liefen, biss sich Darcy auf die Lippe und richtete
ihre Aufmerksamkeit auf Styx.
Auf seiner bronzefarbenen Haut waren Blutspuren,
und
die Anspannung auf seinem Gesicht ließ deutlich erkennen, dass
seine Wunden schmerzten. Aber seine Miene zeigte eher grimmige
Entschlossenheit als Angst.
Stumm wünschte sie sich, ihre Kraft auf ihn
übertragen zu können. Das war zwar ohne Zweifel sinnlos, aber
momentan konnte sie kaum etwas anderes tun.
Salvatore spürte, dass er im Vorteil war. Er
öffnete sein Maul weit und bereitete sich darauf vor, sich auf
Styx’ verletzliche Kehle zu stürzen. Darcy keuchte auf, entsetzt
über die Länge der Werwolfzähne. Sie konnten ganz sicher mehr
Schaden verursachen, als Styx je wieder würde heilen lassen
können!
Ihr Aufschrei blieb ihr im Hals stecken, als
Salvatore seinen Kopf blitzartig senkte. Genau in diesem Moment
riss Styx sich los und stieß sein Schwert in den Rücken des
Werwolfes. Angst verwandelte sich in Entsetzen, als Darcy
beobachtete, wie die Silberklinge durch Salvatores Körper glitt und
aus seiner Brust ragte.
Ein Heulen hallte durch den Raum. Salvatore tau
melte rückwärts von Styx weg, drehte sich zur Seite und krümmte
sich zusammen. Das Blut sprudelte nur so aus seiner Wunde, während
gleichzeitig ein Schimmer seinen Körper umgab.
Darcy wusste, was passieren würde, noch bevor sein
Körper anfing, sich in seine menschliche Gestalt
zurückzuverwandeln. Es prickelte in ihrem Blut, als ob es nach ihr
riefe.
Es war eine langsame und schmerzhafte Verwandlung,
und Darcys weiches Herz zog sich schmerzvoll zusammen, als Styx
aufstand und mit einer lässigen Bewegung das Schwert aus Salvatores
Körper zog.
Ganz egal, was Salvatore ihr angetan hatte, und
obwohl
er erst vor kurzer Zeit versucht hatte, Styx zu töten - sie konnte
sich nicht dazu überwinden, etwas anderes als Mitleid zu empfinden,
als er vor Qual erbebte.
Sie umfasste Levets Schultern mit den Händen,
während Styx sich über seinen besiegten Gegner stellte. Dabei hielt
er sein Schwert förmlich vor seinen Körper, und seine Miene drückte
nichts als kalte Distanziertheit aus. Man konnte unmöglich
erkennen, was ihm durch den Kopf ging, als er zu dem mittlerweile
nackten Mann hinunterblickte, der zu seinen Füßen lag.
Als sei er sich der über ihm aufragenden Gestalt
bewusst, gab Salvatore ein ersticktes Husten von sich und öffnete
mühevoll die Augen. »Bereitet der Sache ein Ende, Vampir!«, stieß
er hervor.
Styx verbeugt sich leicht und begann sein Schwert
zu heben.
»Styx … nein!«, schrie Darcy. Sie war erleichtert,
als Levet widerstrebend seinen schraubstockartigen Griff löste, so
dass sie vorwärts stürzen konnte. Mit zitternden Schritten
erreichte sie Styx und packte ihn am Arm. »Bitte töte ihn
nicht!«
Einen kurzen Moment lang dachte Darcy, dass Styx
ihre Bitte ignorieren würde. Als sie jetzt so nahe neben ihm stand,
kam sie nicht umhin, den aufgestauten Zorn zu spüren, der von
seinem steifen Körper ausging.
Nach einem spannungsgeladenen Augenblick drehte
sich der dunkle Kopf langsam und durchbohrte sie mit einem
glühenden Blick. »Er wird eine Bedrohung für dich darstellen,
solange er lebt«, knurrte er.
Eine kluge Frau wäre augenblicklich vor Styx’ voll
ausgefahrenen Fangzähnen und seinem blutüberströmten Gesicht
weggelaufen. In seinen Gesichtszügen war eine
Brutalität zu erkennen, die sogar dem unerschrockensten Herzen
Angst einjagen würde.
Darcy zuckte allerdings nicht mal mit der Wimper,
als sie die Finger in seine harten Arme grub. Sie würde sich nie
vor diesem Mann fürchten.
»Er kann mich nicht verletzen, solange ich dich
habe, der mich beschützt«, betonte sie sanft. »Bitte!«
Er sah ihr mit einem wütenden Ausdruck in ihr
flehendes Gesicht und fauchte dann verärgert.
»Verdammte Hölle!« Er ließ sein Schwert sinken und
hob den Blick zu dem verwundeten Salvatore. »Behaltet im
Gedächtnis, Wolf, wenn Euer Weg den Darcys auch nur kreuzt, werde
ich nicht zögern. Ihr werdet tot sein, bevor Ihr nur Atem holen
könnt!«
Mit einem leisen Knurren gelang es dem Werwolf,
sich mühevoll halb aufzusetzen. Da er vollkommen nackt war, war
leicht zu erkennen, dass seine Wunden bereits anfingen sich zu
schließen, auch wenn er weit davon entfernt war, geheilt zu
sein.
Sein Kopf hing herunter, und sein schwarzes Haar
fiel ihm in das schmale Gesicht. »Spart Euch Eure Drohungen. Ich
bin gescheitert. Sehr bald werden die Werwölfe aussterben, und die
Vampire können sich an unserem Untergang erfreuen.«
Styx kniff die Augen zusammen, und sein Kiefer
spannte sich bei dem bitteren Vorwurf an. »Ich hege nicht den
Wunsch, das Ende der Werwölfe zu erleben.«
Salvatore gab ein kurzes Lachen von sich, das in
einem qualvollen Husten endete. »Vergebt mir, wenn ich das nur
schwerlich glauben kann. Ihr habt uns eingesperrt, bis wir einen
Punkt erreichten, an dem wir nicht mehr in der Lage waren,
Nachfahren hervorzubringen.«
»Ihr gebt uns die Schuld
für euren Mangel an Nachkommen?«, fragte Styx ungläubig.
»Die Ärzte haben meine Theorie bestätigt.«
Salvatore hob langsam den Kopf. Sein Gesicht war bleich, aber in
seinen goldenen Augen blitzte Wut auf. »Die Wölfe waren dazu
bestimmt, sich frei zu bewegen. Indem ihr uns gefangen hieltet,
habt ihr uns allmählich unsere ureigensten Kräfte geraubt. Die
wichtigste davon ist die Fähigkeit der Werwölfinnen, ihre
Verwandlung während der Schwangerschaft zu kontrollieren.«
Styx hielt inne und dachte über die unheilvollen
Worte nach. Dann verhärtete sich sein Gesicht, als er erkannte, was
Salvatores Worte aussagten. »Und aus diesem Grunde begehrtet Ihr
Darcy?«
Salvatore zuckte die Schultern. Offenbar spielte es
für ihn keine Rolle mehr, wer von seinen Plänen erfuhr. »Ja. Sie
wurde verändert, so dass ihre Werwolfeigenschaften unterdrückt
wurden.«
Levet gab ein angewidertes Geräusch von sich.
»Deshalb konnte ich nicht erkennen, worum es sich bei ihr
handelte.«
Styx wandte den Blick nicht von dem auf dem Boden
kauernden Werwolf ab. Darcy fasste instinktiv seinen Arm fester, da
sie sein Bedürfnis spürte, das zu vollenden, was er angefangen
hatte.
»Sie wird niemals Euch gehören!«, stieß er heiser
hervor.
»Styx!«, flehte sie ihn an.
Er legte ruckartig den Kopf auf die Seite. Seine
Augen waren hart und glitzerten im schwachen Licht. »Nein, Darcy.
Bitte verlange das nicht von mir!«
Darcy wurde klar, dass er dachte, sie bäte um die
Erlaubnis,
einen Wurf Kinder für die Werwölfe auszutragen. Unvermittelt lief
ihr ein Schauder über den Rücken.
Sie war noch nie eine Frau gewesen, die von dem
Bedürfnis überwältigt gewesen wäre, Babys auf die Welt zu bringen.
Und ganz sicher würde sie nicht mit einer Reihe von Fremden
schlafen, nur um Kinder zu bekommen.
»Niemals«, versicherte sie ihm aufrichtig. »Ich
wollte bloß vorschlagen, dass die Vampire und die Werwölfe
versuchen, irgendeinen Kompromiss zu finden! Es muss doch eine
Möglichkeit geben, dass die Werwölfe ihre Stärke
zurückgewinnen.«
Beide Männer sahen sie leicht überrascht an. Als ob
die Vorstellung, sich tatsächlich gemeinsam hinzusetzen und über
ihre Konflikte zu diskutieren, eine total absurde Idee sei.
»Wir könnten die Angelegenheit vor der Kommission
vortragen«, räumte Styx schließlich widerstrebend ein. »Ihre
Mitglieder haben sich bereits hier in Chicago versammelt.«
Darcy wandte dem verwundeten Werwolf ihre
Aufmerksamkeit zu. »Salvatore, sind Sie bereit zu
verhandeln?«
Er knurrte leise und funkelte wütend den Vampir an,
der drohend über ihm aufragte. »Wozu sollte das gut sein? Wir sind
nur Hunde, die in der Welt der Dämonen kein Mitspracherecht
haben.«
»Das ist nicht wahr«, erwiderte Styx kalt. »Die
Kommission steht über allen Völkern. Sie wird Euch anhören.«
»Wollt Ihr, dass ich auf den Knien liege und
bettele?«
»Gott bewahre mich vor Männern und ihrem Stolz«,
murmelte Darcy. »Was wäre denn dabei, wenn etwas Betteln
nötig wäre? Das ist doch sicher ein kleiner Preis, wenn es um die
Rettung Ihres - unseres - Volkes geht?«
In den dunklen Augen blitzte Verärgerung auf. »Wir
wissen nicht mit Gewissheit, ob es unser Los verändern wird.«
Darcy biss die Zähne zusammen. Salvatore klang eher
nach einem schmollenden Kind als nach dem grimmigen Anführer der
Werwölfe. Offenbar musste man ihm auf die Sprünge helfen, wenn es
darum ging, dass er sich seine Position in Erinnerung rufen
sollte.
»Meinetwegen, dann gehe ich
eben und spreche mit dieser Kommission!«, erklärte Darcy.
»Irgendjemand muss hier ja mal etwas gesunden Menschenverstand
zeigen.«
Wie erwartet, strotzte Salvatore sofort vor
verletztem Stolz. »Niemand spricht im Namen der Werwölfe außer mir!
Ich bin der König!«
Darcy sah ihm direkt in die Augen. »Dann benehmen
Sie sich auch so!«
Er versteifte sich, aber überraschenderweise senkte
er leicht den Kopf. »Du hast recht. Ich werde meine Pflicht
erfüllen.«
»Vielleicht gibt es ja noch Hoffnung für Sie«,
murmelte Darcy.
Salvatores Augen verengten sich, und ein
grüblerischer Ausdruck spielte über sein Gesicht. Immerhin war er
klug genug, um zu wissen, dass er manipuliert worden war. Langsam
richtete er den Blick auf Styx. »Ihr habt gesiegt, Vampir, aber ich
beneide Euch nicht um Euren Preis.«
Ein Lächeln huschte über Styx’ Lippen. »Man findet
mit der Zeit Gefallen an ihr.«
Salvatore schnaubte ungläubig. »Wenn Ihr
meint.«
Darcy schüttelte den Kopf. Noch vor wenigen Minuten
waren die beiden Dämonen entschlossen gewesen, sich gegenseitig zu
töten. Und fünf Minuten später teilten sie bereits wieder einen
dieser vertraulichen Männermomente, die immer auf Kosten der Frauen
gingen!
»Das reicht! Ich bin müde und hungrig und brauche
ganz dringend eine heiße Dusche. Ich will nach Hause!«
Styx schwieg seltsamerweise, bevor er langsam den
Kopf drehte, um sie mit undurchdringlicher Miene anzusehen.
»Nach Hause?«, fragte er leise.
Als ihr ganz plötzlich klar wurde, dass sie
tatsächlich das verbotene Wort benutzt hatte, holte Darcy tief
Luft. Großer Gott, wie war das denn passiert? Wann hatte sie
akzeptiert, dass Styx’ Nähe alles war, was sie brauchte, um sich zu
Hause zu fühlen?
Sie atmete langsam wieder aus und kam zu dem
Entschluss, dass das eigentlich keine Rolle spielte. Das Wann, das
Warum und das Wie lagen in der Vergangenheit. Die Zukunft war
alles, was zählte. Ihre Zukunft mit Styx.
»Ja.« Sie ließ es zu, dass ihre Augen strahlten.
»Nach Hause.«
Styx griff nach ihr und zog sie eng an seinen
Körper, und sein Mund streifte ihren Scheitel. »Mein Engel.«
Als Darcy sich gerade enger an Styx schmiegen
wollte, wurde sie von Levets brüskem Aufseufzen aufgehalten.
»Sacrebleu. Jetzt fängt das
wieder an!«
Mit einem Kichern zog sich Darcy zurück, aber Styx
weigerte sich, ihre Hand loszulassen.
»Okay, Levet. Du hast ja recht. Wir gehen ja
schon.«
Styx übernahm die Führung, als sie Salvatore
verließen, dessen Verletzungen rasch heilten, und die letzte Treppe
hinunterstiegen. Er wollte aus dem scheußlichen Versteck
verschwinden. Und nicht nur, weil in den dunklen Korridoren noch
immer Gefahren lauerten.
Er konnte nicht widerstehen, sondern musste einfach
die Frau ansehen, die neben ihm ging. Wie immer regten sich in
seinem Körper die übliche Hitze und eine intensive Zärtlichkeit,
kombiniert mit reinem männlichem Besitzerstolz. Das war so
unvermeidbar wie die aufgehende Sonne. Aber ergänzt wurden diese
Gefühle durch ein unverkennbares Gefühl des Triumphes. Darcy hatte
ihn ihrem Rudel vorgezogen!
Zugegeben, ihr Rudel hatte sich kaum als die
liebende Familie erwiesen, die sie sich schon immer gewünscht
hatte, dachte er. Es war nicht gerade eine Bilderbuchfamilie
gewesen. Aber andererseits war sie auch keine Frau, die sich
unbedingt an jemanden binden musste, nicht wahr? Selbst wenn ihre
Familie eine Enttäuschung war, war sie noch lange nicht gezwungen,
sich ihm zuzuwenden.
Die Götter wussten, dass sie über genügend
Unabhängigkeit und Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten verfügte,
um auf sich selbst achtzugeben. Sie bliebe niemals bei ihm, wenn
dies nicht das wäre, was sie sich wünschte.
Styx bemühte sich, das alberne Grinsen zu
unterdrücken, das sich auf seinem Gesicht auszubreiten drohte, und
wurde in die Gegenwart zurückgeholt, als Levet nach ihm griff und
rüde an seinem Hemd zerrte.
»Wohin gehen wir?«
»Zurück in die Tiefgarage.«
Levet sah ihn bei dieser Antwort finster an. »Du
hast doch wohl nicht die Absicht, Darcy durch diese Abwasserkanäle
zu zerren?«
»Oh, für mich waren sie gut genug, aber nicht für
Darcy?«, fragte Styx.
»Allerdings.«
Styx musste lachen. Der Gargyle hatte zumindest
eine Meinung. »Keine Angst. Ich habe vollstes Vertrauen, dass es
Viper inzwischen gelungen ist, ein Transportmittel zu beschaffen,
das uns erwartet.«
Der finstere Blick verschwand wie durch ein Wunder.
»Hervorragend. Ich wollte schon immer diesen Jaguar fahren!«
Dieser kleine Dämon am Steuer dieses Luxusautos?
Verdammt, davon würde sich Chicago niemals wieder erholen.
»Nicht eher als die Hölle einfriert, Gargyle«,
murmelte er, und seine Lippen zuckten, als er hörte, wie Darcys
Kichern sich ganz plötzlich in ein Husten verwandelte.
Levet kniff die Augen zusammen. »Wer hat denn
bestimmt, dass du das Sagen hast,Vampir?«, wollte er wissen. »Ich
muss dir mitteilen, dass Viper mir recht oft erlaubt, zu …«
»Still«, flüsterte Styx und zog Darcy am Arm, um
sie abrupt dazu zu bringen anzuhalten.
Darcy warf ihm einen beunruhigten Blick zu. »Was
ist los?«
»Eine Werwölfin.« Er witterte. »Ah! Deine Mutter,
wenn ich nicht irre.« Ein kaltes Lächeln bildete sich auf seinen
Lippen. »Ich habe mir gewünscht, sie kennenzulernen.«
Sie las mühelos seine Gedanken und schüttelte den
Kopf. »Nein, Styx.«
Enttäuschung überkam ihn. Er hob eine Hand, um
sanft ihren verletzten Kiefer zu berühren. »Du kannst mir zumindest
gestatten, sie bluten zu lassen.«
»Bitte, Styx, ich will einfach hier raus!« Sie
umklammerte seinen Arm und schwankte vor Müdigkeit.
Rasch legte Styx den Arm um ihre Taille.Verdammt.
Er wünschte sich, diese Frau zu bestrafen. Er wünschte sich, ihr
die Prellungen, die sie seiner Gefährtin zugefügt hatte, doppelt
heimzuzahlen. Doppelt und dreifach!
Aber Darcy hatte recht. Sie hatte genug ertragen
müssen. Das einzig Wichtige war, dass er sie in sein Versteck
zurückbrachte, um sich richtig um sie kümmern zu können.
Nicht, dass er die Absicht hätte, die Schuld ihrer
Mutter zu vergessen. Eines Tages …
»Wenn sie versuchen sollte, dir noch einmal zu
schaden, werde ich sie töten«, murmelte er, während er Darcy noch
näher an sich zog, bevor er seinen Weg in die dunkle Garage
fortsetzte.
»Aber erst, wenn ich mit
ihr fertig bin!«, mischte Levet sich ein und wechselte absichtlich
auf Darcys andere Seite.
Sie lachte leise und angespannt auf.
»Männer!«
Als er hinter den dicken Säulen hervortrat,
entdeckte Styx den glänzenden schwarzen Jaguar, der in einer
entfernten Ecke verborgen gewesen war. Außerdem entdeckte er die
schlanke, blonde Frau, die sich lässig dagegen lehnte. Darcys
Mutter.
Sie ähnelten sich zu sehr, um ihre Verwandtschaft
leugnen zu können. Zumindest aus einiger Entfernung. Ein genauerer
Blick enthüllte, dass die feinen Gesichtszüge der Frau durch einen
bitteren Zynismus verhärtet waren, den ihre Tochter wohl niemals
besitzen würde.
Die Frau richtete sich auf, als sie sich näherten,
und Styx kämpfte gegen seinen Zorn an, als er spürte, wie Darcy
erzitterte. Er wünschte die Frau zum Teufel.
Seltsamerweise war Darcy durchaus nicht überrascht,
ihre Mutter zu sehen. Sie stellte sich direkt vor die lächelnde
Frau. Natürlich hatte sie nicht den Wunsch, ihrer Mutter nahe zu
sein. Aber sie war sich nur zu sehr der Tatsache bewusst, dass Styx
ungeduldig darauf wartete, diese Frau dafür zu bestrafen, dass sie
sie gekidnappt hatte. Sie wollte in dieser Nacht nicht noch mehr
Blut sehen.
»Was willst du, Mutter?«
Sophia nahm sich einen Moment Zeit, um ihren Blick
langsam und aufreizend über Styx gleiten zu lassen. Ganz eindeutig
gefiel ihr, was sie sah, denn in ihren Augen loderte eine Glut
auf.
Styx gehörte nur ihr, und es gefiel Darcy nicht,
dass ihre eigene Mutter ihn beäugte, als sei er eine leckere
Praline, die sie sich einverleiben wollte.
Sophia ignorierte Darcys finsteres Gesicht und
starrte den stumm dastehenden Vampir weiterhin an. »Ich habe mir
nur gewünscht, einmal einen Blick auf den Vampir zu werfen, der
dich dazu verführt hat, uns zu verlassen. Ich muss sagen, du hast
einen guten Geschmack. Er ist hinreißend. Kein Wunder, dass du
Salvatore als so mangelhaft empfandest.«
Darcy schnaubte. »Ich würde auch dann nicht
bleiben, wenn es Styx nicht geben würde. Ich habe kein Verlangen
danach … was zu werden? Eine
Zuchtwölfin?«
Mit deutlicher Anstrengung wandte ihre Mutter ihre
Aufmerksamkeit von Styx ab, um ihrer Tochter ein spöttisches
Lächeln zuzuwerfen. »Es wäre nicht nur schlecht, meine Liebe! Es
gäbe eine Menge Annehmlichkeiten zu entdecken.« Sie lachte leise
mit heiserer Stimme auf. »Manchmal auch mehrere Annehmlichkeiten
hintereinander.«
Darcy entging die alles andere als subtile
Anspielung nicht. Sie verzog das Gesicht allein beim Gedanken
daran.
»Für dich vielleicht.«
Sophia ging darauf nicht weiter ein. »Also kehrst
du deiner Verpflichtung gegenüber deiner Familie den Rücken?«
Darcys Augen weiteten sich bei der unfairen
Anklage. »Familie? Aber nur durch Blutsverwandtschaft! Nein,
Moment, ihr habt mein Blut ja verändert. Ich gehöre zu
niemandem.«
»Du glaubst, dein Leben mit einem Vampir sei so
viel leichter? Darüber solltest du nachdenken, Darcy. Es wird keine
Kinder geben, keine eigene Familie. Niemals.«
Darcy musste sich nicht umdrehen, um zu wissen,
dass Styx vor Unbehagen angespannt dastand. Trotz all seines
Selbstbewusstseins war er bemerkenswert empfindlich, was die Angst
betraf, dass sie von ihm fortgelockt werden könnte.
»Du könntest dich nicht mehr irren«, erwiderte
Darcy mit voller Überzeugung. »Ich habe meine Familie schon
gefunden.«
»Ich verstehe.« Die grünen Augen verengten
sich.
»Ich bin sicher, dass du sehr gut ohne mich
auskommst.«
»Und deine Schwestern? Hast du die Absicht, sie
einfach zu verstoßen?« Sophia servierte ihre letzte Gemeinheit mit
einem süßen Lächeln.
Darcys schrie innerlich auf. Diese verdammte Frau!
Sie wusste ganz eindeutig, wie sie zum entscheidenden Schlag
ausholen musste.
»Wie kann ich Schwestern verstoßen, die ich noch
nie kennengelernt habe?«
»Oh, wir werden sie finden. Da kannst du dir sicher
sein.«
»Ich hoffe, ihr findet sie nicht!«
Sophias Miene versteinerte. »Das ist eine
vergebliche Hoffnung. Darüber hinaus bedeutet die Tatsache, dass du
nicht von Salvatore angetan bist, nicht, dass nicht eine der
anderen das Bett mit ihm teilen will. Er sieht gut aus und ist auch
charmant, wenn er sich die Mühe macht.«
Darcy konnte nicht leugnen, dass ihre Mutter die
Wahrheit sagte. Obwohl Salvatore sich unmöglich mit Styx messen
konnte, war er ein schöner Mann. Sie zweifelte keinen Moment daran,
dass es sicherlich eine ganze Menge von Frauen gab, die begeistert
von der Gelegenheit wären, ihm den einen oder anderen Wurf zu
schenken.
»Vielleicht«, räumte sie ein. »Aber so sehr ich
mich auch danach sehne, meine Schwestern kennenzulernen - das wäre
es doch nicht wert, mich deiner Erpressung zu beugen.«
Sophia schien überrascht von Darcys Antwort.
»Touché, meine Liebe.« Sie setzte ein
bitteres Lächeln auf. »Ich vermute, es bleibt uns nichts anderes
übrig, als uns voneinander zu verabschieden.«
»Ich hoffe, du wartest nicht auf einen Kuss.«
Zu Darcys Verwunderung hatte ihre Mutter keine
beißende Bemerkung darauf parat.
Stattdessen wurde ihre Miene ernst, als sie in
Darcys blassem Gesicht forschte. »Nein, aber es wäre schön, sich
unter Bedingungen voneinander zu verabschieden, die nicht so
schmerzlich sind. Du betrachtest mich womöglich als Rabenmutter,
doch was ich tat, tat ich zum Schutz meines Rudels. Kannst du mir
das wahrhaftig vorwerfen?«
Der Schock ließ Darcy vollkommen starr werden, und
sie versuchte, die Andeutung in den Worten ihrer Mutter zu
begreifen.
»Du willst, dass ich dir verzeihe?«
»Ich nehme an, das ist der Fall. Schließlich bist
du meine Tochter.«
»Darcy!«, knurrte Styx von hinten, der eindeutig
irgendeinen Trick erwartete.
»Alles okay, Styx«, besänftigte Darcy ihn.
Natürlich war sie keine Idiotin. Es gab keinen einzigen Grund,
warum sie dieser Frau trauen sollte. Aber Darcy kannte sich selbst
gut genug, um zu wissen, dass sie es bedauern würde, Wut und
Enttäuschung ihr gegenüber gehegt zu haben. Solche negativen
Gefühle lasteten zwangsläufig auf ihrer Seele.
»Eigentlich würde es mir am besten gefallen, wenn
wir Frieden schließen würden. Es scheint nicht richtig zu sein, die
eigene Mutter … nicht zu mögen. Und um ehrlich zu sein, ich würde
gern meine Schwestern kennenlernen, wenn ihr sie findet.«
Ein Lächeln, das fast echt wirkte, zeigte sich auf
den Lippen ihrer Mutter. »Dann möchte ich mit dir eine Übereinkunft
treffen. Ich werde sie dir vorstellen, wenn du mir versprichst,
dass du nicht versuchen wirst, sie gegen ihr eigenes Rudel
einzunehmen.«
»Das würde ich nie tun«, protestierte Darcy.
»Außerdem, wenn sie mir irgendwie ähnlich sind, haben sie ihren
eigenen Kopf. Sie können selbst entscheiden, wie ihre Zukunft
aussehen soll.«
»Dann haben wir ein Abkommen.«
Darcy nickte langsam. »Ja.«
»Siehst du, ich bin nicht vollkommen böse.«
»Ich bin froh, dass ich das weiß.«
Mutter und Tochter sahen sich eine ganze Weile an,
und eine fragile Harmonie trat an die Stelle der Bitterkeit in
Darcys Herz.
Schließlich begann Sophia auf den Garageneingang
zuzusteuern. »Geh nun, Liebling!«, rief sie ihr noch über die
Schulter zu. »Diese emotionalen Trennungen sind nicht meine
Sache.«
Mit einem kleinen Lächeln blickte Darcy ihrer
Mutter hinterher. Sie war nicht so naiv, dass sie glaubte, sie
würden je die Art von Beziehung haben, von der sie immer geträumt
hatte, aber vielleicht konnten sie wenigstens ein gewisses Maß an
Frieden finden.
Styx, der sich nun lange genug beherrscht hatte,
trat an ihre Seite, und bevor sie wusste, was passierte, hatte er
sie auf seine Arme genommen und drückte sie fest an sich.
»Komm, Darcy«, sagte er sanft. »Es ist an der Zeit
für dich, in dein Bett zu gehen.«
Darcy streckte die Hand aus und legte ihm die
Finger auf die Lippen. »Unser Bett.«