KAPITEL 19
Es war das köstliche
Aroma von Essen, das Darcy aus ihrem leichten Schlaf aufwachen
ließ. Sie rieb sich mit den Händen über das Gesicht und setzte sich
auf dem Bett auf, um Levet zu entdecken, der sich mit einem Tablett
in den Händen im Türrahmen herumdrückte.
»Levet.« Müde warf sie einen Blick auf das nach wie
vor dunkle Fenster. »Wie spät ist es?«
»Kurz nach drei.«
Das bedeutete, dass sie nur zwei Stunden geschlafen
hatte. Kein Wunder, dass ihr Gehirn so langsam funktionierte, als
stecke es im ersten Gang fest, und ihre Augen sich wie kratziges
Sandpapier anfühlten. Mit einem Kopfschütteln bemühte sie sich,
einen klaren Gedanken zu fassen. Und sie war nicht im Geringsten
über den erstaunt, der ihr zuerst in den Sinn kam.
»Ist Styx schon zurück?«
Der kleine Gargyle schlug leicht mit seinen zarten
Flügeln. »Noch nicht, aber Viper rief vor wenigen Minuten an, um
mitzuteilen, dass es ihnen gelungen ist, den Clanchef zu einem
kleinen Haus westlich der Stadt zu verfolgen. Sie sollten lange vor
Tagesanbruch zurück sein.«
»Oh.« Sie kämpfte gegen das dumme Gefühl von
Unbehagen an. Gott, konnte Styx nicht einmal ein paar
Stunden weg sein, ohne dass sie ausflippte? Langsam wurde es mehr
als peinlich. Sie riss sich zusammen und richtete ihre
Aufmerksamkeit auf den unerwarteten Gast. »Ist das Tablett für
mich?«
»Ja.«
Darcy lächelte, als sie aus dem Bett schlüpfte und
ihre steifen Muskeln streckte. »Vielen Dank! Es riecht wirklich
lecker.«
Seltsamerweise zögerte der Dämon. »Darf ich
hereinkommen?«
»Natürlich.« Darcy sah ihn verwirrt an. »Sie
wissen, dass Sie nicht fragen müssen.«
Levet schnitt eine Grimasse. Das sah bei seinen
plumpen Gesichtszügen ziemlich witzig aus.
»Oh doch.«
»Wieso?«
»Ich soll Sie nicht stören …«
Darcy schüttelte den Kopf und fragte sich, was mit
dem Dämon los war. Er gehörte doch eigentlich nicht zu denen, die
Bedenken hätten, irgendwo hereinzuplatzen. Er war unempfindlich
gegenüber Beleidigungen, hatte keinerlei Manieren und ein Fell, das
so dick war wie das eines … nun ja, eines Gargylen.
»Sie stören mich nie, Levet«, erwiderte sie
freundlich.
»Erzählen Sie das Mr. Arrogant.«
»Styx?«
»Sacrebleu. Mir ist noch
nie ein dermaßen rechthaberischer Kerl begegnet.« Der Gargyle
verdrehte die Augen und brachte es fertig, Styx recht glaubwürdig
zu imitieren: »Darcy ist hungrig! Darcy ist müde! Darcy darf nicht
gestört werden! Darcy muss beschützt werden! Darcy muss …«
Mit einem kleinen Lachen hob Darcy eine Hand. »Ich
glaube, ich verstehe, was Sie meinen.«
»Das war nur der Anfang der Liste! Er bestand sogar
darauf, dass Vipers Haushälterin hergebracht wurde, damit sie Ihnen
Ihre Lieblingsgerichte zubereiten kann.«
Ein leichtes Grinsen bildete sich auf Darcys
Lippen, als sie einen Blick auf das Tablett warf. Unabhängig zu
sein war schön und gut, aber sie konnte eine verräterische Freude
über Styx’ offensichtliche Besorgnis nicht leugnen. Noch nie hatte
jemand einen so großen Aufwand für sie betrieben. Warum sollte sie
das nicht wenigstens ein bisschen genießen?
»Ich nehme an, Styx ist tendenziell etwas
herrschsüchtig, aber Sie können ihm eigentlich keinen Vorwurf
machen. Er ist daran gewöhnt, Befehle zu erteilen.«
»Ich kann ihm durchaus einen Vorwurf machen!«,
korrigierte Levet umgehend. »Und ich dachte, Sie ebenfalls! Sie
sind schließlich vor ihm geflüchtet, oder etwa nicht?«
Darcy zuckte mit den Achseln. »Ja, nun, wie alle
Männer ist er so dickköpfig, dass eine Frau gelegentlich drastische
Maßnahmen ergreifen muss, um sich ihm verständlich zu
machen.«
»Ich würde sagen, das haben Sie erreicht. Laut
Viper …« Levet verstummte, legte den Kopf schief und witterte. Dann
machte er ohne Vorwarnung einen Satz nach vorn. »Sacrebleu.«
Mehr überrascht als erschrocken wich Darcy
instinktiv vor ihm zurück, und ihre Augen weiteten sich, als der
kleine Gargyle mit festem Griff ihren Arm packte.
»Was ist denn?«, fragte sie.
»Sie sind mit ihm verbunden!« Levet schob den Ärmel
ihres Sweatshirts nach oben, um die blutrote Tätowierung
zu enthüllen, die auf ihrem Unterarm zu sehen war. Er witterte
wieder. »Oder um genauer zu sein, Styx ist mit Ihnen verbunden. Die
Zeremonie ist noch nicht abgeschlossen.«
O Gott. Konnte denn kein einziger Tag vergehen,
ohne dass jemand an ihr schnüffelte?
»So sieht es aus«, murmelte sie.
Levet wich zurück und forschte mit einem
neugierigen Ausdruck in ihrem Gesicht. »Sie sind sehr ruhig, was
das anbetrifft.Verstehen Sie überhaupt, was passiert ist?«
Darcy unterdrückte das Bedürfnis, hysterisch
aufzulachen. Ob sie verstand, was passiert war? Zum Henker, nein!
Ihr Leben war seit dem Moment, als Salvatore die Bar betreten
hatte, ein einziges Chaos geworden.Vampire, Werwölfe, Dämonen
…
»Nicht so ganz«, gestand sie mit einem beschämten
Lächeln. »Styx hat behauptet, es würde bedeuten, dass er irgendwie
an mich gebunden ist.«
»Irgendwie? Da gibt es kein ›Irgendwie‹. Er ist mit
Sicherheit bis in alle Ewigkeit an Sie gebunden.« Der Gargyle
schüttelte langsam den Kopf. »Mon dieu. Wer
hätte gedacht, dass der kaltherzige Bastard sogar dazu imstande
wäre, eine Frau zu seiner Gefährtin zu machen?«
Darcy warf ihrem Kameraden einen vernichtenden
Blick zu. Oder etwas, wovon sie annahm, es sei ein vernichtender
Blick. In Liebesromanen funktionierte so was jedenfalls immer ganz
wunderbar. »Er ist nicht kaltherzig! In Wirklichkeit hat er sogar
das großzügigste, treuste Herz von allen, die ich je gekannt
habe.«
Levet sah Darcy nach ihrem stürmischen Plädoyer
erstaunt an. »Ich muss wohl Ihr Wort als gegeben hinnehmen, denn
ganz sicher zeigt er das dem Rest von uns nicht.«
»Das liegt nur daran, dass er nicht daran gewöhnt
ist, seine Gefühle zu zeigen.«
»Ach, wirklich?«, murmelte Levet.
Warum beharrten alle bloß darauf, Styx als den
Darth Vader der Dämonenwelt darzustellen? Er hatte sein ganzes
Leben dem Schutz der Dämonen gewidmet, es als seine Verantwortung
betrachtet, ohne etwas als Gegenleistung zu verlangen. Sie sollten
ihn mit Dankbarkeit überhäufen!
»Das bedeutet nicht, dass er keine hat«, sagte
Darcy. »Oder dass er nicht verletzt sein kann, wenn er ständig
missverstanden wird.«
»Vielleicht.« Levet wirkte alles andere als
überzeugt, aber er drang nicht weiter in sie, sondern wandte seine
Aufmerksamkeit wieder ihrem Arm zu. Plötzlich begann er zu
lachen.
Darcy runzelte die Stirn. »Was ist denn so
witzig?«
»Gerade fällt mir ein, dass Sie den mächtigsten
Dämon auf der ganzen Welt an die Leine gelegt haben. Ich weiß
nicht, ob ich gratulieren oder kondolieren soll.«
Hm. Eigentlich wusste sie das selbst nicht. Bisher
hatten sich bei ihr nackte Angst und friedliche Glückseligkeit
abgewechselt. Nicht gerade der angenehmste
Stimmungsumschwung.
»Styx ist wohl kaum an die Leine gelegt«,
protestierte sie.
»Oh, das ist er sehr wohl.« Levets Lächeln wurde
ausgesprochen boshaft. »Und es ist so köstlich ironisch!
Vampirinnen haben bereits seit Jahrhunderten versucht, Styx aus
seinem selbst auferlegten Zölibat zu locken. Sie werden vor Wut mit
den Fangzähnen knirschen, wenn sie entdecken, dass er sich mit
Ihnen verbunden hat.«
»Na toll.« Falls Levet vorbeigekommen war, um sie
zu trösten, versagte er gerade in großem Stil. »Das hat mir
wirklich noch gefehlt. Ein Rudel von wütenden Vampirinnen, die
mich verfolgen.«
»O nein.« Levet flatterte heftig mit den zarten
Flügeln, wodurch die wunderschönen Farben im schwachen Licht
schimmerten. »Es gibt keinen Vampir, ob tot oder lebendig, der es
wagen würde, der Gefährtin des Anasso zu schaden. Sie wünschen Sie
vielleicht zur Hölle, aber sie würden bis zum Tode kämpfen, um Sie
zu beschützen.«
Okay. Das klang schon besser. »Vielleicht, aber wie
Sie schon gesagt haben, ist die … Zeremonie noch nicht
vollständig«, fühlte Darcy sich gezwungen zu betonen. »Es ist noch
keine Entscheidung gefallen.«
Levet runzelte seine plumpe Stirn. »Vielleicht
nicht für Sie, aber ganz gewiss für Styx. Dieses Mal auf Ihrem Arm
beweist, dass er lebenslang an Sie gebunden ist. Für die Vampire
sind Sie nun ihre Königin.«
Darcy lief ein kalter Schauder über den Rücken.
Königin? Sie? Also, das war einfach … armselig. Für das gesamte
Vampirvolk. Mit einem Kopfschütteln lief sie ruhelos im Zimmer hin
und her. »Das passiert alles zu schnell«, murmelte sie. »Viel, viel
zu schnell.«
»Glauben Sie nicht an Liebe auf den ersten
Blick?«
Darcy sorgte entschlossen dafür, dass sie ihr
Gesicht von dem kleinen Gargylen abwandte, um ihren reuevollen
Gesichtsausdruck zu verbergen.
Es gab eine Zeit, in der sie nicht an solchen
Unsinn geglaubt hatte. Sie war sich nicht sicher gewesen, dass
wahre Liebe überhaupt existierte. Für sie war das bloß ein Mythos
gewesen, genau wie Vampire und Werwölfe. Wie konnte sie auch etwas
für möglich halten, was sie nie selbst erlebt hatte?
Aber jetzt glaubte sie daran. Sowohl an Dämonen als
auch an die Liebe. Sie drehte sich langsam um und betrachtete
Levet mit einem schwachen Lächeln. »Ich nehme an, ich glaube daran.
Und was ist mit Ihnen, Levet? Verlieben sich Gargylen auch?«
Überraschenderweise zeigte sich ein sehnsüchtiger
Ausdruck auf dem hässlichen Gesicht. »O ja. Wir sind wie die
meisten Dämonen. Wir verbinden uns für alle Zeiten mit einem
Gefährten oder einer Gefährtin.«
Darcy schimpfte sich insgeheim selbst, denn sie
spürte, dass sie in ein Fettnäpfchen getreten war. Sie wollte den
kleinen Dämon nicht verletzen. Sicher hatte er sein ganzes Leben
lang Kränkungen und Spott ertragen müssen.
»Sie haben gesagt, die meisten Dämonen«, meinte sie sanft und hoffte ihn
abzulenken, während sie gleichzeitig mehr von der Welt entdecken
wollte, in die sie gestoßen worden war. »Was ist mit den
Werwölfen?«
Wie sie gehofft hatte, hellte sich das winzige
Gesicht auf, und erneut bildete sich ein Lächeln auf Levets Lippen.
»Volltreffer! Ausnahmen bestätigen die Regel.«
»Kein ›Bis dass der Tod uns scheidet‹?«
»Vor Jahrhunderten lebten die Rassewölfe
gelegentlich in monogamen Beziehungen, aber um ehrlich zu sein,
brauchen sie inzwischen dringend Nachkommen.« Er bewegte albern die
Augenbrauen. »Die meisten Werwölfe sind heutzutage für ihren
sexuellen Appetit berüchtigt. Insbesondere die Frauen, die ein
Dutzend oder mehr Liebhaber gleichzeitig haben können.«
»Igitt.«
Levet zuckte die Schulter angesichts Darcys
angewiderten Erschauderns. »Die Angst vor Auslöschung ist ein
mächtiges Aphrodisiakum, ma chère, und
einen Wurf hervorzubringen ist weitaus wichtiger als wahre
Liebe.«
Darcy verzog das Gesicht. Sie war nicht prüde, aber
dass von ihr erwartet werden könnte, sich ein Dutzend Liebhaber zu
nehmen, war absolut nicht das, was sie hören wollte. Insbesondere,
weil sie sich nicht vorstellen konnte, irgendeinem Mann außer Styx
zu erlauben, sie anzufassen.
»Dann war Salvatores Behauptung, dass er vorhat,
mich zu seiner Gefährtin zu machen, nicht mehr als ausgemachter
Blödsinn?«
Levet riss die Augen auf. »Das hat er
gesagt?«
»Ja.«
Es folgte eine Pause, bevor Levet mit unverhohlenem
Vergnügen auflachte. »Sacrebleu. Kein
Wunder, dass Langzahn sich dermaßen aufgeregt hat.Vampire sind
bestenfalls Nervensägen, aber sie werden vollkommen wahnsinnig,
wenn sie sich erst einmal verbunden haben. Und wenn ihnen ein
anderer Mann dazwischenfunkt …« Er schüttelte sich dramatisch. »Der
Himmel stehe jedem bei, der dann seinen Weg kreuzt!«
Instinktiv warf Darcy einen Blick aus dem Fenster.
Ein merkwürdiges Unbehagen machte sich in ihrer Magengrube breit.
»Mir gefällt der Gedanke nicht, dass er da draußen einen
abtrünnigen Vampir verfolgt.«
Levet trat auf sie zu und tätschelte ihr leicht die
Hand. Seine Haut war rau und lederartig, aber seine Berührung war
ein willkommener Trost. »Es ist mehr als bloß ein Vampir, ob
abtrünnig oder nicht, nötig, um Styx zu verletzen.« Er flatterte
mit den Flügeln. »Vertrauen Sie mir. Ich habe ihn schon in Aktion
erlebt.«
Darcy zwang sich selbst, sich daran zu erinnern,
wie sie Styx dabei zugesehen hatte, wie er mit dem Schwert
trainierte. Sie konnte nicht leugnen, dass er ausgesehen hatte
wie der Tod in Lederhosen. »Vielleicht, aber ich habe ein ungutes
Gefühl.«
Levet merkte auf. »Sie haben Vorahnungen?«
Darcy stellte fest, dass sie wie von selbst zum
Fenster ging und eine Hand gegen die kalte Fensterscheibe presste.
»Wie ich schon sagte … Ich habe ein ungutes Gefühl.«
Es war eine einfache Sache gewesen, dem
abtrünnigen Vampir durch die dunklen Straßen von Chicago zu folgen.
Desmond hatte eine Spur aus toten Höllenhunden, Feen und zwei
Kobolden hinterlassen. Es war allerdings ein wenig schwieriger
gewesen, seiner Fährte durch die Vorstädte und aus der Stadt bis zu
dem Bauernhaus zu folgen, das erstaunlich nahe an Vipers Versteck
lag, in dem Styx kürzlich mit Darcy gewesen war. Ein wenig
schwieriger, aber nicht schwierig genug, wie Styx feststellte, als
er sich in die wuchernde Hecke kniete, die das schäbige Haus
umgab.
Er spähte in die Finsternis und studierte das
zweistöckige Gebäude, das mit Sicherheit schon bessere Tage gesehen
hatte: Die weiße Farbe blätterte ab, das Dach hing durch, und es
fehlten mehr Fensterläden, als vorhanden waren. Selbst die
Fensterscheiben waren zersprungen und aus ihren Rahmen
gebrochen.
Jedoch war es nicht der alles andere als makellose
Zustand des Hauses, der ihn beunruhigte. Sein eigenes Versteck in
der Nähe des Mississippiufers würde es auch nie auf das Cover von
Schöner Wohnen schaffen.Was ihm Sorgen
bereitete, war die Tatsache, dass es Viper und ihm gelungen war,
dem Clanchef ohne jede Schwierigkeit zu folgen, und dass sie nahe
genug an das Haus herangekommen waren, ohne einem einzigen
Wachtposten zu begegnen.
Styx grübelte über sein brodelndes Unbehagen nach
und beobachtete, wie Viper durch die schwärzesten Schatten glitt
und sich in der Hecke zu ihm gesellte. Styx wartete, bis sein
Kamerad neben ihm kauerte, bevor er das lastende Schweigen
unterbrach.
»Der Clanchef befindet sich im Inneren?«
»Ja.« In Vipers Augen glühte die Aussicht auf den
nahenden Kampf. Einmal ein Krieger, immer ein Krieger. »Er hat sich
mit zwei anderen Vampiren im Kellergeschoss verbarrikadiert.«
Styx zögerte. Seine eigene Blutgier wurde durch das
Gefühl erstickt, dass etwas nicht in Ordnung war. »Nur zwei?«,
verlangte er zu wissen.
»Ja, und keiner von ihnen besitzt besonders viel
Macht«, bestätigte Viper.
Styx biss die Zähne zusammen, als er das Haus
anstarrte. »Mir gefällt das nicht.«
»Wieso, was ist denn?!«, fragte Viper, der ganz
offensichtlich das Kräftemessen nicht mehr erwarten konnte.
»Dadurch, dass sie in Deckung gegangen sind, haben sie sich selbst
eine Falle gestellt.«
»Oder uns.«
Viper wurde still und forschte mit
zusammengekniffenen Augen in Styx’ Gesicht. »Spürst du
etwas?«
»Nichts.«
»Und?«
»Und genau das beunruhigt mich.«
»Na dann.« Der jüngere Vampir zog die Augenbrauen
in die Höhe. Dann platzte es aus ihm heraus: »Verdammte Hölle, ich
hätte dich bei Dante lassen sollen! Vampire, die sich erst kürzlich
verbunden haben, sollten zum Wohle ihres eigenen mentalen
Geisteszustandes eingesperrt werden!«
Styx ignorierte das durchaus nicht schmeichelhafte
Vertrauen in sein Jagdgeschick. Er war schon immer deutlich weniger
begierig darauf gewesen, seine Muskeln zu benutzen, wenn sein
Gehirn ihm von besserem Nutzen sein konnte. Eine höchst
undämonische Eigenschaft.
Er wandte den Kopf und durchbohrte seinen Freund
mit einem scharfen Blick. »Findest du es denn nicht im Geringsten
verdächtig, dass ein erfahrener Clanchef dumm genug ist, in die
Stadt zu stürmen, so viel Durcheinander anzurichten, dass wir uns
dazu bringen lassen, ihn aufzuspüren, und sich dann, statt die
Stadt zu verlassen oder uns direkt entgegenzutreten, in einem
abgeschiedenen Bauernhaus ganz offensichtlich selbst in die Enge
treibt, und das scheinbar ganz ohne jegliche Unterstützung?«
Viper dachte widerstrebend über Styx’ Worte
nach.
»Wärest du dermaßen töricht?«, fuhr Styx
fort.
Sein Kamerad knurrte leise. »Verdammt, musst du
unbedingt so logische Schlüsse ziehen?«
»Ja.«
Viper schüttelte den Kopf und studierte das still
daliegende Haus. »Was willst du tun?«
»Ich glaube, es wäre klug, Unterstützung
anzufordern, bevor wir uns näher heranwagen.«
Mit einem Nicken zog Viper sein Mobiltelefon aus
der Tasche und klappte es auf. »Verdammt.«
Styx runzelte die Stirn. »Was gibt es?«
»Der Akku ist leer.«
»Und er war geladen, als wir Chicago
verließen?«
»Ja.« Viper steckte das nutzlose Handy zurück in
die Tasche. »Aber es ist nicht so ungewöhnlich, dass die moderne
Technik durch die Kräfte eines Vampirs in Mitleidenschaft gezogen
wird.«
Das entsprach der Wahrheit. Der frühere Anasso
hatte ganze Stromnetze kollabieren lassen, wenn er die Geduld
verlor, und Styx konnte sich kaum in demselben Zimmer mit einem
Fernsehgerät aufhalten, ohne dass es von selbst von einem Programm
zum anderen umschaltete. Es war also nicht weiter eigenartig, wenn
ein Vampir Akkumulatoren die Energie entzog.
Trotzdem brachte das Wissen darum, dass sie nun
keine Unterstützung anfordern konnten, Styx’ Instinkte vor
Unbehagen zum Prickeln. »Mir gefällt das nicht«, murmelte er.
»Was nun?«, fragte Viper.
Die Vernunft verlangte, dass sie nach Chicago
zurückkehrten und genauer über die sonderbare Situation
nachdachten. Es war mehr als töricht, sich in eine Falle treiben zu
lassen, einfach nur, weil sie ungeduldig waren. Konnten sie es
andererseits riskieren, Desmond die Gelegenheit zu geben, sich
davonzuschleichen und sogar noch mehr Schäden zu verursachen? Was
würde geschehen, wenn er sein Gemetzel auch auf die Vampire
ausdehnte? Styx hätte keine andere Wahl, als einen Clankrieg zu
fordern.
Mit grimmiger Entschlossenheit dachte Styx nach. Er
würde das Haus nicht betreten, ohne zu wissen, was er im Inneren
vorfände. Die einzige Möglichkeit bestand darin, Desmond und seine
Kameraden hinauszujagen.
»Nun versuchen wir die Falle zuschnappen zu lassen,
ohne uns dabei erwischen zu lassen«, sagte er schließlich.
Viper forschte in seiner Miene, die von wilder
Entschlossenheit kündete. »Hast du einen Plan?«
»Tatsächlich habe ich die Absicht, Darcys Methode
zu verwenden.«
»Ob das so sinnvoll ist?«
»Sie trat den Beweis an, dass die beste
Vorgehensweise, einen Vampir abzulenken, darin besteht, ein Haus in
Brand zu setzen.«
»Ah.« Viper zeigte sich weniger begeistert. »Ein
Feuer wird gewiss ihre Aufmerksamkeit erwecken, doch es dürfte wohl
kaum die beste Methode sein, Freunde zu gewinnen und Vampire zu
beeinflussen.«
»Ich hege kein Interesse daran, Freunde zu
gewinnen.« Styx’ Tonfall war ausgesprochen eisig. »Ich bin hier, um
dafür zu sorgen, dass man meinen Gesetzen gehorcht.«
»Gesprochen wie ein wahrer Anasso«, meinte Viper
mit einem leichten Lächeln.
Styx warf seinem Freund einen finsteren Blick zu.
»Du solltest dich daran erinnern,Viper, dass du derjenige warst, der mich zwang, diese Stellung
zu übernehmen.«
»Der einzige Grund dafür bestand darin, dass ich
nicht das Risiko eingehen wollte, diese Aufgabe am Hals zu
haben.«
»Herzlichen Dank, mein Freund.«
»Es war mir ein Vergnügen.« Viper richtete seine
Aufmerksamkeit wieder auf das Haus in ihrer Nähe, und ein ernster
Ausdruck breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Ich nehme nicht an,
dass du zufällig ein Feuerzeug oder Streichhölzer bei dir trägst,
oder?«
»Das wird nicht notwendig sein. Alles, was ich
benötige, ist die Stelle, an der der Strom ins Haus führt.«
»Das sollte recht einfach sein.« Viper zögerte
nicht. Er erhob sich und steuerte auf die Rückseite des Hauses zu.
»Hier entlang.«
Styx folgte dem anderen Vampir auf den Fersen, und
gemeinsam glitten sie vollkommen lautlos durch die kalte Nachtluft.
Sie wirbelten nicht einmal eine Schneeflocke
auf, als sie die kurze Distanz bis zum Hinterhof überwanden.
Ausnahmsweise war das Glück auf Styx’ Seite, und er
machte ohne Schwierigkeiten den Sicherungskasten ausfindig, der
sich in der Nähe einer kleinen Veranda befand. Er machte sich nicht
die Mühe, den Kasten zu öffnen, sondern legte stattdessen links und
rechts eine Hand darauf, bevor er seine Macht durch das Metall
strömen ließ, bis hin zu den verborgenen
Stromkreisunterbrechern.
»Tritt zurück!«, befahl er, als er spürte, wie sich
das Metall unter seiner Berührung erhitzte.
Viper war klug genug, seinen Worten nicht zu
widersprechen, sondern einfach zu tun, wie ihm geheißen war.
Styx konnte nicht im eigentlichen Sinn Feuer
erzeugen, doch er konnte die Leitungen erhitzen, bis sie schmolzen.
Er wollte nicht, dass Viper verletzt wurde, falls seine Kräfte
außer Kontrolle gerieten. Er konzentrierte sich auf den Kasten
zwischen seinen Händen und schenkte seiner Umgebung wenig
Aufmerksamkeit. Zumindest, bis er spürte, wie Viper sich mit einer
heftigen Bewegung umdrehte.
»Styx …«, warnte er ihn leise.
Widerstrebend ließ Styx seine Hände sinken und
wandte sich um, um das Geräusch eines sich nähernden Fahrzeugs
wahrzunehmen. Er griff nach Vipers Arm und zog ihn hinter einen
Busch in seiner Nähe, gerade als der Kleinbus in Sicht kam, aus dem
mehr als ein Dutzend Vampire herausströmte.
»Verdammt«, murmelte er, als ihm bewusst wurde,
dass der Clanchef seinen Bediensteten befohlen haben musste, sich
so weit entfernt vom Haus aufzuhalten, dass man sie nicht spüren
konnte. Jedenfalls so lange nicht, bis Styx und Viper in die Falle
getappt waren.
Es war tatsächlich eine Falle, wie er sich grimmig
eingestehen musste. Daran bestand nun nicht mehr der geringste
Zweifel. »Ich werde bleiben und sie abwehren. Ich möchte, dass du
dich auf den Weg machst, um Hilfe zu holen.«
Viper fauchte leise. »Du kannst sie nicht ganz
allein abwehren!«
»Es sind auch zu viele für uns beide«, betonte
Styx, der bereits spürte, dass der Clanchef und seine beiden
Kameraden sich durch das Haus bewegten. Sehr bald würden sie
umringt sein. »Unsere einzige Hoffnung besteht darin, dass du ihnen
entkommst und mit deinem Clan zurückkehrst. Es ist nicht weit bis
zu deinem Versteck.«
»Dann musst du gehen, und ich werde bleiben!«,
beharrte Viper störrisch.
Styx wusste, dass sein Freund diskutieren würde,
bis sie beide gefangen und gepfählt sein würden. Daher setzte er
seine gebieterischste Miene auf. »Ich habe keinen Wunsch
ausgesprochen,Viper, sondern einen Befehl!«
Einen Augenblick lang kämpfte Viper gegen seinen
gewaltigen Stolz an. »Ich hasse es, wenn du mir gegenüber den
Vorgesetzten herauskehrst!«
Styx drückte seinen Arm. »Geh.«
»Wenn du dich töten lässt, werde ich ernsthaft
zornig sein.«
»Das sagtest du bereits«, meinte Styx
trocken.
Er wartete, bis Viper mit den Schatten verschmolzen
war. Dann erhob er sich langsam und trat hinter dem Busch hervor.
Er wollte nicht, dass irgendein unternehmungslustiger Vampir das
Haus umrundete und Viper entdeckte, bevor er entkommen
konnte.
Sein Plan funktionierte: Als er vortrat, wandten
die
Vampire ihre Aufmerksamkeit allein seiner eigenen großen Gestalt
zu. Sie hoben die Armbrüste und zielten damit genau auf sein
Herz.
Wirklich reizend. Er hatte gar nicht erwartet, als
Anasso der Vampire so geliebt zu werden. Anscheinend gehörten sie
nicht zu der Art von Volk, das seine Anführer hofierte. Ihre
Mentalität besagte eher »Jeder gegen jeden«. Dennoch kam es nicht
oft vor, dass ein Vampir es wagte, seine Existenz zu
bedrohen.
Dafür werdet ihr büßen, dachte Styx mit
aufflackerndem Ärger. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf
und legte absichtlich seinen Umhang ab, um das enorme Schwert zu
enthüllen, das er sich auf den Rücken geschnallt hatte. Ein
Schwert, das auf der ganzen Welt gefürchtet wurde.
»Ich bin Styx, euer Anasso!«, sagte er mit einer
Stimme, die im ganzen Hinterhof zu hören war. »Legt eure Waffen
nieder, sonst werdet ihr gerichtet werden!«
Nur einen Moment lang gerieten die Vampire ins
Wanken, und ihre besorgten Blicke zeigten, dass sie dem Wissen
nicht gleichgültig gegenüberstanden, eine Straftat zu begehen, die
dazu führen konnte, dass sie alle aufgeknüpft und der
Morgendämmerung überlassen wurden. Bevor sie jedoch vollkommen die
Nerven verlieren konnten, öffnete sich die Hintertür, und die drei
Vampire, die im Haus geblieben waren, erschienen.
»Bleibt standhaft, ihr feigen Bastarde! Wenn er
entkommt, werde ich persönlich dafür sorgen, dass jeder von euch zu
Tode kommt.« Der Mann, bei dem es sich ganz offensichtlich um ihren
Anführer handelte, ging die Stufen hinunter und blieb direkt vor
Styx stehen. Obgleich er mehrere Zentimeter kleiner war als Styx
und kaum
halb so viel wog wie dieser, war auf seinem hageren Gesicht ein
spöttischer Ausdruck zu erkennen, als er eine tiefe Verbeugung
vollführte.
»Ah, der große Anasso!«
Styx wartete, bis sich der andere Vampir wieder
aufgerichtet hatte, und forschte in den hellgrünen Augen und dem
schmalen Gesicht, das von schlaff herunterhängendem blondem Haar
eingerahmt wurde. Keinen Augenblick ließ er sich von dem beinahe
zierlichen Körperbau des Mannes täuschen. Dieser verfügte über
genügend Macht, um Styx’ Haut zum Kribbeln zu bringen.
»Desmond, nehme ich an«, sagte er mit bewusster
Überheblichkeit.
Das spöttische Lächeln blieb unbeirrt. »Ihr habt
die Ehre.«
»Ehre ist nicht unbedingt das Wort, das ich
verwenden würde.«
»Nein? Nun, vielleicht liegt es daran, dass Ihr
nichts über Ehre wisst.«
Styx zögerte nicht, als er die Hand ausstreckte, um
den Vampir am Hals zu packen und ihn hochzuheben.
Ein aufgeregtes Rascheln war zu hören, als die
versammelten Vampire sich auf den Kampf vorbereiteten, aber Styx
ignorierte sie. Er würde keine Respektlosigkeit dulden. Nicht durch
einen seiner Brüder.
»Du bewegst dich auf gefährlichem Terrain«, sagte
er in einem unerbittlichen Ton.
»Und Ihr seid dümmer, als ich angenommen hatte,
wenn Ihr denkt, mein Clan würde Euch nicht auf der Stelle töten«,
warnte ihn Desmond. »Lasst mich los!«
»Du darfst niemals meine Ehre in Zweifel ziehen!«
Mit einer geringschätzigen Drehung seiner Hand ließ
Styx den verräterischen Vampir fallen und war befriedigt, als
dieser ungeschickt umherstolperte, bevor es ihm gelang, sein
Gleichgewicht wiederzuerlangen und sich aufzurichten.
Desmond hielt inne, um mit den Händen über sein
jadegrünes Seidenhemd zu streichen, und schaffte es endlich, sein
Lächeln zurückzugewinnen. »Ihr versteht mich falsch, Mylord. Ich
beschwere mich nicht über Euren Mangel an Moral. Ich war immer der
Ansicht, dass galantes Benehmen lange überbewertet wurde. Welche
Stellung besitzen schon Ehre, Treue oder Tradition unter
blutgierigen Dämonen? Wir stehen über solchen schwachen
menschlichen Vorstellungen.«
Styx war nicht schockiert über das Geständnis des
Mannes. Diese Ansicht wurde von zahlreichen Vampiren geteilt.
»Offenbar glaubst du, auch über Vampirgesetzen zu
stehen«, sagte er mit eiskalter Verachtung in der Stimme. »Ihr
bracht das Gesetz, als Ihr zwei meiner Clansangehörigen
aufnahmt.«
»Sie ersuchten mich um meinen Schutz. Es ist meine
Pflicht, ihnen eine Zuflucht zu bieten.«
Der Mann zog die Brauen hoch. »Eure Pflicht?«
»Ich bin der Anasso.« Die grünen Augen verdunkelten
sich, als die Macht des Vampirs durch die Luft wirbelte. »Das
behauptet Ihr zumindest.«
»Ich behaupte es?« Styx
ballte die Hände zu Fäusten. Wenn er das nicht getan hätte, hätte
er sie um den Hals dieses aufgeblasenen Idioten geschlossen. »Es
besteht kein Zweifel daran, dass ich der Anführer der Vampire
bin!«
»Aber wie kamt Ihr denn zu dieser glanzvollen
Stellung?« Der Mann gab vor, einen Moment zu überlegen,
bevor er mit den Fingern schnippte. »Ach ja, nun erinnere ich
mich! Ihr ermordetet den vorherigen Anasso. Recht
unternehmungslustig von Euch, das muss ich schon sagen.«
Styx versteifte sich bei dieser Anschuldigung. In
Wahrheit war es Viper gewesen, der den tödlichen Schlag bei dem
vorherigen Anasso gelandet hatte, doch Styx hatte niemals seine
eigene Schuld geleugnet. Er hatte die volle Schuld für den Tod des
Vampirs, den er seit Jahrhunderten bewundert und beschützt hatte,
auf sich genommen. Denn dieser Vampir war durch seine eigenen
perversen Süchte irgendwann dem Wahnsinn verfallen.
»Bist du hier, um die Rückkehr deiner
Clanangehörigen zu fordern oder um über mein Recht auf Führerschaft
zu debattieren?« Styx’ Stimme klang angespannt.
Der Vampir lächelte. »Du willst die Wahrheit
hören?«
»Wenn du in der Lage bist, sie
auszusprechen?«
»Ich bin hier, um Euch Eure sogenannten Rechte zu
nehmen.«
Verdammt. Styx war in dem Glauben hergekommen, dass
dieser Vampir nur in dem Versuch, seine Clanangehörigen
zurückzuholen, seine Stärke demonstrieren wollte. Nun erkannte er,
dass die Situation weitaus gefährlicher war. Möglicherweise sogar
tödlich, dachte er, als er den Vampiren einen Blick zuwarf, die ihn
umkreisten und weiterhin ihre Waffen direkt auf sein Herz gerichtet
hielten.
»Ist dies irgendeine Art von Scherz?«, knurrte
er.
Mit einem breiten Grinsen warf Desmond einen
Seitenblick auf den Vampir, der turmhoch neben ihm aufragte.
»Jacob, mache ich einen Scherz?«
Der große Vampir mit dem strähnigen schwarzen Haar
und den matten braunen Augen schüttelte langsam den Kopf. Styx
musste nicht genauer hinsehen, um zu erkennen, dass es sich hier um
einen Vampir handelte, dessen Wille vollkommen gebrochen worden
war.
Einst war allgemein anerkannt gewesen, dass die
stärkeren Vampire die schwachen grausam behandelten und
versklavten. Ein Chef herrschte durch Terror, und diejenigen, die
unter ihm standen, gehorchten ihm oder zahlten einen fürchterlichen
Preis. Während der vergangenen Jahrhunderte hatte Styx langsam
versucht, diese Praktiken zu verändern, was manchmal eine zähe
Angelegenheit gewesen war. Unglücklicherweise schien es, dass
Desmond an den alten Gepflogenheiten festhielt und sein gesamter
Clan darunter litt.
»Nein, Mylord«, intonierte der Diener nun.
»Seht Ihr?«, spottete Desmond. »Ich scherze
nicht.«
Styx betrachtete den Vampir mit kalter Verachtung.
Ihm fiel nichts ein, was er mehr genießen würde, als dem dreckigen
Prahler das Herz herauszureißen. Unglücklicherweise schränkte das
halbe Dutzend Armbrüste, das gegenwärtig auf ihn gerichtet war,
seine Optionen erheblich ein.
»Wie sehen denn deine Pläne aus?«, wollte er
wissen. »Dass du mich tötest und dann meinen Platz
einnimmst?«
»So was in der Art. Schließlich ist das auch das,
was Ihr getan habt. Ich lerne stets von Meistern.«
»Du glaubst wahrhaftig, dass die Vampire dir
einfach nur deshalb folgen werden, weil du dich zum Anasso
erklärst?«
»Warum nicht?« Desmond gab vor, seine manikürten
Nägel zu betrachten. »Immerhin folgen sie Euch doch auch, nicht
wahr?«
Styx gab ein kurzes, freudloses Lachen von sich.
»Wenn es ihnen gerade so passt.«
»Unsinn, Mylord. Ihr seid viel zu bescheiden. Euer
Ruf hat sich überall verbreitet. Alle Vampire wissen, dass es
bedeutet, sich das eigene Grab zu schaufeln, wenn man sich Eurem
Willen widersetzt. Tatsächlich wird Euer Name benutzt, um Findlinge
vor Angst schlottern zu lassen.« Er hob den Blick, und ein
hektisches Glitzern war in den grünen Augen zu erkennen.
Ein Glitzern, von dem Styx zu argwöhnen begann,
dass es mehr dem reinen Wahnsinn als dem einfachen Ehrgeiz
zuzuschreiben war.
»Und das bedeutet, dass der Vampir, dem es gelingt,
Euch zu bezwingen, allen beweist, dass er sogar noch gefährlicher,
noch grausamer ist. Der perfekte Anführer.«
Also war er wahrhaftig dem Wahnsinn verfallen. Styx
nahm sich einen Augenblick Zeit, um über seine Möglichkeiten
nachzudenken.
Zweifelsohne konnte er einigen Vampiren den
Verstand vernebeln oder sie mit seiner Macht lähmen, aber das
funktionierte nicht bei so vielen gleichzeitig. Es gab einfach zu
viele Feinde, als dass er sich seinen Weg hätte freikämpfen
können.
Und nicht einmal er war schnell genug, um vor
diesen Armbrüsten davonzulaufen.
Seine einzige Hoffnung schien darin zu bestehen,
den fanatischen Vampir davon zu überzeugen, dass er niemals mit
solch einem verwegenen Plan sein Ziel erreichen konnte.
»Du bist erbärmlich«, meinte er schließlich, wobei
er seinerseits ein spöttisches Lächeln aufsetzte.
»Ich bin erbärmlich?« Zorn zeigte sich in dem
hageren
Gesicht, obwohl Desmond sich bemühte, der Kränkung scheinbar
gleichgültig zu begegnen. »Ziemlich absurd, wenn man sich überlegt,
wer hier gerade als hilflose Geisel gehalten wird, oder?«
Styx zuckte die Achseln. »Du kannst mich töten,
wenn es dir gefällt, doch das Vampirvolk wird dir niemals
folgen.«
»Warum nicht? Ein Anasso ist für die meisten
unserer Brüder so gut wie ein anderer. Was für eine Rolle spielt
der Name schon, sofern der Anführer die Gesetze für alle achtet und
wahrt?«
»Wenn das der Wahrheit entsprechen sollte, was
sollte dann verhindern, dass ein anderer Chef eines Tages deine
Stellung einfach mit den gleichen verräterischen Mitteln wie du
jetzt übernimmt?«
»Ich bin klug genug, mich nicht in feuchtkalte
Höhlen zurückzuziehen und den distanzierten, geheimnisvollen Mönch
zu spielen.« Er warf einen geringschätzigen Blick auf Styx’
hochgewachsene Gestalt. »Die Menschen haben bewiesen, dass man kein
freundlicher, intelligenter oder auch kompetenter Herrscher sein
muss.Wie viele Dummköpfe und Idioten saßen bereits auf einem Thron?
Man muss lediglich die Gewogenheit seines Volkes gewinnen, dann
wird es einem folgen.«
Styx lachte scharf auf. Bei den Göttern, diesem
Vampir war die Fähigkeit, seinen eigenen kleinen Clan in Angst und
Schrecken zu versetzen, gewaltig zu Kopf gestiegen!
»Denkst du tatsächlich, du könnest mit menschlichen
Schachzügen bei Dämonen etwas bewirken?«
»Nun, hier und da fehlt noch ein wenig
Feinschliff.« Ein grausames Lächeln kräuselte die dünnen Lippen.
»Und natürlich werde ich dafür sorgen, dass ich über genügend
Vollstrecker verfüge, um diejenigen zu überzeugen, die
möglicherweise Schwierigkeiten mit meiner Art der Herrschaft
haben.«
Er dachte, ein paar Schläger würden für seine
Position als Anasso sorgen? »Ich hatte unrecht: Du bist nicht
erbärmlich, sondern ein Narr!«
Styx beugte sich absichtlich nach vorn und betonte
seine eigene Größe, als er dem Mann direkt ins Ohr sprach. »Du
wärest innerhalb eines Monats tot. Wenn es nicht durch die Hand
eines Clans geschähe, der mir treu ergeben ist, dann durch die
meiner Raben. Sie würden nicht ruhen, bis jeder Einzelne von euch
getötet wäre.«
Desmond machte hastig einen Schritt nach hinten,
bevor er die aufschlussreiche Bewegung unterdrücken konnte. Sein
Gesicht spannte sich verärgert an, während seine Hände über sein
Hemd strichen, in dem Versuch, so zu tun, als habe sich dieser
peinliche Ausrutscher nicht ereignet.
»Ja, ich muss zugeben, dass die Raben mich
beunruhigen. Sie sind ein ernstzunehmender Feind«, räumte er mit
scharfer Stimme ein. »Sie sind nicht nur gut ausgebildet und
überaus loyal, sondern sie wären auch nicht so dumm, einfach
unbesonnen anzugreifen. O nein, sie gehören zu der Sorte, die sich
in der Dunkelheit versteckt und meine Clanbrüder einzeln
nacheinander tötet.«
Styx lächelte kalt. »Sie würden dich bis in alle
Ewigkeit jagen.«
»Wie ich bereits sagte, ein Problem. Es sei denn
…«
Styx gefiel das selbstgefällige Glitzern nicht, das
in den grünen Augen glühte. Es wies darauf hin, dass die
Überraschungen für diese Nacht noch nicht vorüber waren. Und es
reichte langsam damit. Er hatte bereits jetzt seine
Toleranzgrenze überschritten, was Überraschungen anging.
»Es sei denn - was?«
»Es sei denn, Ihr wäret so freundlich, mich zu
Eurem Nachfolger zu ernennen«, erklärte Desmond mit einem
höhnischen Lächeln. »Selbstverständlich schriftlich, da Ihr
traurigerweise nicht hier sein werdet, um die Erklärung selbst
abzugeben. Dann werden die Raben keine andere Wahl haben, als meine
Stellung anzuerkennen. Vielleicht werde ich sie sogar zu meinen
eigenen persönlichen Leibwachen machen.«
Styx schüttelte langsam den Kopf. Dies ging weit
über bloßen Wahnsinn hinaus. Dieser Vampir litt unter gewaltigen
Wahnvorstellungen!
»Du hegst die Absicht, mich zu töten, und erwartest
dennoch von mir, dich zu meinem Nachfolger zu ernennen, bevor ich
sterbe?«, fragte Styx ungläubig. Er war nicht imstande, sein
bissiges Lachen zu unterdrücken. »Und mich
nennen die Leute arrogant …«
Die grünen Augen verengten sich. »Ich habe nicht
behauptet, Ihr würdet meinen Befehl freudig befolgen, aber Ihr
werdet es tun.«
Styx ließ warnend seine Fangzähne aufblitzen. Er
hatte schon einmal alles geopfert, was ihm lieb und teuer war, um
die Vampire vor einem psychotischen Wahnsinnigen zu bewahren. Er
würde sie nicht einem weiteren ausliefern. Nicht einmal, wenn das
seinen eigenen Tod bedeutete.
»Niemals.«
»Ein Vampir sollte wissen, dass man niemals ›nie‹
sagen darf.« Desmond schnippte mit den Fingern. »Jacob, hole mir
Papier und einen Stift.«
»Sofort, Mylord.« Der große Vampir verbeugte sich
unbeholfen, bevor er die Treppe hinauftrottete und im Haus
verschwand.
Styx machte einen Schritt nach vorn und lächelte
kühl, als Desmond nach hinten stolperte. »Du vergeudest deine
Zeit«, fauchte er.
Desmond funkelte ihn zornig an, setzte dann aber
wieder sein unsicheres Lächeln auf. »Ich denke nicht, dass es so
ist. Zwar besitze ich vielleicht nicht Eure Stärke, aber ich bin
äußerst schlau. Ich kämpfe nie offen gegen einen Gegner, es sei
denn, ich bin mir vollkommen sicher, den Kampf auch zu gewinnen.«
Sein Lächeln wurde breiter. »In diesem Fall besteht meine
Versicherung in einer hübschen kleinen Blondine, die es Euch
anscheinend angetan hat.«
Styx erstarrte, als ein betäubender Schock ihn
überwältigte. »Darcy?«, keuchte er.
»Ein bezaubernder Name.«
Panik drohte in ihm aufzusteigen, bevor Styx mit
Entschlossenheit die Kontrolle über seine Sinne zurückerlangte.
Nein. Das war nicht möglich. Styx war sich nicht sicher, wie es
Desmond gelungen war, von Darcy zu erfahren, aber es war vollkommen
unmöglich, dass er seine schmutzigen Hände an sie legen konnte.
Dies war nicht mehr als ein Trick, um ihn dazu zu bringen, eine
Dummheit zu begehen. Falls es eine noch größere Dummheit gab als
geradewegs in eine offensichtliche Falle zu tappen, die ihm von
einem Vampir gestellt worden war, der über einen Allmachtskomplex
und eine Bande idiotischer Gesellen verfügte.
»Darcy steht unter dem Schutz des Phönix!«,
erklärte Styx. »Oder war es deine Absicht, auch gegen die Göttin zu
kämpfen?«
»Ganz gewiss nicht.« Der Mann besaß die
Unverschämtheit zu grinsen. »Glücklicherweise habt Ihr dafür
gesorgt, dass das nicht nötig sein wird.«
»Ich …« Außer sich vor Zorn allein durch die
Andeutung, er bringe Darcy auf die eine oder andere Weise in
Gefahr, hielt Styx abrupt inne. Unvermittelt erkannte er, woher der
Vampir von Darcy gewusst hatte. Und von wem er genau den Moment
erfahren hatte, in dem Styx mit Viper aufgebrochen war, so dass er
mühelos dazu gebracht werden konnte, die Abtrünnigen zu diesem Haus
zu verfolgen.
»Eure beiden Clanangehörigen«, stieß er rau
hervor.
»Genau«, antwortete ihm der Vampir, der hoffentlich
sehr bald tot sein würde. »Indem Ihr ihnen ihre erbärmliche
Geschichte geglaubt und sie in Dantes Haus untergebracht habt, gabt
Ihr ihnen die perfekte Gelegenheit, jede Eurer Schwächen zu
entlarven. Und natürlich die perfekte Chance, Eure geliebte Darcy
zu entführen. Gerade jetzt wird sie abgeholt, damit sie uns bei
dieser bedeutsamen Handlung Gesellschaft leisten kann.«
Styx sank langsam auf die Knie, und eine kalte,
unerbittliche Wut überkam ihn. Er würde später noch die Möglichkeit
haben, sich selbst dafür zu bestrafen, dass er sich so leicht von
seinen Feinden hatte täuschen lassen. Es würden ohne Zweifel Jahre
des Grübelns, der Selbstbeschuldigungen und der kaltblütigen
Rachepläne folgen, in denen er dafür sorgen würde, dass er einen
solchen Fehler niemals wiederholte. Vorerst jedoch war er
vollkommen erfüllt von einem Zorn, der keine Grenzen kannte.
Die einzige Fehleinschätzung in Desmonds
ausgefeiltem Plan resultierte aus der Tatsache, dass Styx sich erst
kürzlich mit Darcy verbunden hatte. Er war nicht der kühl
berechnende
Anasso, der seine Situation mit einer distanzierten Sachlichkeit
betrachtete.
Jener Styx hätte mit Leichtigkeit erkannt, dass er
in der Unterzahl, ausmanövriert und seinem Gegner unterlegen war.
Er hätte begriffen, dass das vernünftigste Mittel, Darcy in
Sicherheit zu bringen, darin bestand, die Forderungen des anderen
zu erfüllen. Bei diesem Styx hier handelte es sich jedoch um ein
tollwütiges Tier, das nur wusste, dass seine Gefährtin in Gefahr
war und dass es jeden, der ihm im Weg stand, töten würde.
Styx spürte, wie die Macht begann, durch seinen
Körper zu toben. Er blickte auf, als Jacob aus dem Haus
zurückkehrte, Stift und Papier mit den fleischigen Händen
umklammert.
Desmond, der sich der Tatsache nicht bewusst war,
dass er nur noch wenige Augenblicke vom Tode entfernt war,
lächelte, während er auf den vor ihm knienden Styx
hinunterblickte.
»Nun, Styx, es scheint, Eure Tage als Herrscher
stünden kurz vor ihrem Ende. Möchtet Ihr noch irgendwelche letzten
Worte sprechen?«
Der Wind begann zu peitschen und die Erde zu beben,
als Styx sich langsam wieder erhob.
»Nur eines.« Er hob die Hand in Richtung des
zunehmend verwirrten Gesichtes seines Gegners. »Stirb.«