KAPITEL 19
Es war das köstliche Aroma von Essen, das Darcy aus ihrem leichten Schlaf aufwachen ließ. Sie rieb sich mit den Händen über das Gesicht und setzte sich auf dem Bett auf, um Levet zu entdecken, der sich mit einem Tablett in den Händen im Türrahmen herumdrückte.
»Levet.« Müde warf sie einen Blick auf das nach wie vor dunkle Fenster. »Wie spät ist es?«
»Kurz nach drei.«
Das bedeutete, dass sie nur zwei Stunden geschlafen hatte. Kein Wunder, dass ihr Gehirn so langsam funktionierte, als stecke es im ersten Gang fest, und ihre Augen sich wie kratziges Sandpapier anfühlten. Mit einem Kopfschütteln bemühte sie sich, einen klaren Gedanken zu fassen. Und sie war nicht im Geringsten über den erstaunt, der ihr zuerst in den Sinn kam.
»Ist Styx schon zurück?«
Der kleine Gargyle schlug leicht mit seinen zarten Flügeln. »Noch nicht, aber Viper rief vor wenigen Minuten an, um mitzuteilen, dass es ihnen gelungen ist, den Clanchef zu einem kleinen Haus westlich der Stadt zu verfolgen. Sie sollten lange vor Tagesanbruch zurück sein.«
»Oh.« Sie kämpfte gegen das dumme Gefühl von Unbehagen an. Gott, konnte Styx nicht einmal ein paar Stunden weg sein, ohne dass sie ausflippte? Langsam wurde es mehr als peinlich. Sie riss sich zusammen und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den unerwarteten Gast. »Ist das Tablett für mich?«
»Ja.«
Darcy lächelte, als sie aus dem Bett schlüpfte und ihre steifen Muskeln streckte. »Vielen Dank! Es riecht wirklich lecker.«
Seltsamerweise zögerte der Dämon. »Darf ich hereinkommen?«
»Natürlich.« Darcy sah ihn verwirrt an. »Sie wissen, dass Sie nicht fragen müssen.«
Levet schnitt eine Grimasse. Das sah bei seinen plumpen Gesichtszügen ziemlich witzig aus.
»Oh doch.«
»Wieso?«
»Ich soll Sie nicht stören …«
Darcy schüttelte den Kopf und fragte sich, was mit dem Dämon los war. Er gehörte doch eigentlich nicht zu denen, die Bedenken hätten, irgendwo hereinzuplatzen. Er war unempfindlich gegenüber Beleidigungen, hatte keinerlei Manieren und ein Fell, das so dick war wie das eines … nun ja, eines Gargylen.
»Sie stören mich nie, Levet«, erwiderte sie freundlich.
»Erzählen Sie das Mr. Arrogant.«
»Styx?«
»Sacrebleu. Mir ist noch nie ein dermaßen rechthaberischer Kerl begegnet.« Der Gargyle verdrehte die Augen und brachte es fertig, Styx recht glaubwürdig zu imitieren: »Darcy ist hungrig! Darcy ist müde! Darcy darf nicht gestört werden! Darcy muss beschützt werden! Darcy muss …«
Mit einem kleinen Lachen hob Darcy eine Hand. »Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen.«
»Das war nur der Anfang der Liste! Er bestand sogar darauf, dass Vipers Haushälterin hergebracht wurde, damit sie Ihnen Ihre Lieblingsgerichte zubereiten kann.«
Ein leichtes Grinsen bildete sich auf Darcys Lippen, als sie einen Blick auf das Tablett warf. Unabhängig zu sein war schön und gut, aber sie konnte eine verräterische Freude über Styx’ offensichtliche Besorgnis nicht leugnen. Noch nie hatte jemand einen so großen Aufwand für sie betrieben. Warum sollte sie das nicht wenigstens ein bisschen genießen?
»Ich nehme an, Styx ist tendenziell etwas herrschsüchtig, aber Sie können ihm eigentlich keinen Vorwurf machen. Er ist daran gewöhnt, Befehle zu erteilen.«
»Ich kann ihm durchaus einen Vorwurf machen!«, korrigierte Levet umgehend. »Und ich dachte, Sie ebenfalls! Sie sind schließlich vor ihm geflüchtet, oder etwa nicht?«
Darcy zuckte mit den Achseln. »Ja, nun, wie alle Männer ist er so dickköpfig, dass eine Frau gelegentlich drastische Maßnahmen ergreifen muss, um sich ihm verständlich zu machen.«
»Ich würde sagen, das haben Sie erreicht. Laut Viper …« Levet verstummte, legte den Kopf schief und witterte. Dann machte er ohne Vorwarnung einen Satz nach vorn. »Sacrebleu
Mehr überrascht als erschrocken wich Darcy instinktiv vor ihm zurück, und ihre Augen weiteten sich, als der kleine Gargyle mit festem Griff ihren Arm packte.
»Was ist denn?«, fragte sie.
»Sie sind mit ihm verbunden!« Levet schob den Ärmel ihres Sweatshirts nach oben, um die blutrote Tätowierung zu enthüllen, die auf ihrem Unterarm zu sehen war. Er witterte wieder. »Oder um genauer zu sein, Styx ist mit Ihnen verbunden. Die Zeremonie ist noch nicht abgeschlossen.«
O Gott. Konnte denn kein einziger Tag vergehen, ohne dass jemand an ihr schnüffelte?
»So sieht es aus«, murmelte sie.
Levet wich zurück und forschte mit einem neugierigen Ausdruck in ihrem Gesicht. »Sie sind sehr ruhig, was das anbetrifft.Verstehen Sie überhaupt, was passiert ist?«
Darcy unterdrückte das Bedürfnis, hysterisch aufzulachen. Ob sie verstand, was passiert war? Zum Henker, nein! Ihr Leben war seit dem Moment, als Salvatore die Bar betreten hatte, ein einziges Chaos geworden.Vampire, Werwölfe, Dämonen …
»Nicht so ganz«, gestand sie mit einem beschämten Lächeln. »Styx hat behauptet, es würde bedeuten, dass er irgendwie an mich gebunden ist.«
»Irgendwie? Da gibt es kein ›Irgendwie‹. Er ist mit Sicherheit bis in alle Ewigkeit an Sie gebunden.« Der Gargyle schüttelte langsam den Kopf. »Mon dieu. Wer hätte gedacht, dass der kaltherzige Bastard sogar dazu imstande wäre, eine Frau zu seiner Gefährtin zu machen?«
Darcy warf ihrem Kameraden einen vernichtenden Blick zu. Oder etwas, wovon sie annahm, es sei ein vernichtender Blick. In Liebesromanen funktionierte so was jedenfalls immer ganz wunderbar. »Er ist nicht kaltherzig! In Wirklichkeit hat er sogar das großzügigste, treuste Herz von allen, die ich je gekannt habe.«
Levet sah Darcy nach ihrem stürmischen Plädoyer erstaunt an. »Ich muss wohl Ihr Wort als gegeben hinnehmen, denn ganz sicher zeigt er das dem Rest von uns nicht.«
»Das liegt nur daran, dass er nicht daran gewöhnt ist, seine Gefühle zu zeigen.«
»Ach, wirklich?«, murmelte Levet.
Warum beharrten alle bloß darauf, Styx als den Darth Vader der Dämonenwelt darzustellen? Er hatte sein ganzes Leben dem Schutz der Dämonen gewidmet, es als seine Verantwortung betrachtet, ohne etwas als Gegenleistung zu verlangen. Sie sollten ihn mit Dankbarkeit überhäufen!
»Das bedeutet nicht, dass er keine hat«, sagte Darcy. »Oder dass er nicht verletzt sein kann, wenn er ständig missverstanden wird.«
»Vielleicht.« Levet wirkte alles andere als überzeugt, aber er drang nicht weiter in sie, sondern wandte seine Aufmerksamkeit wieder ihrem Arm zu. Plötzlich begann er zu lachen.
Darcy runzelte die Stirn. »Was ist denn so witzig?«
»Gerade fällt mir ein, dass Sie den mächtigsten Dämon auf der ganzen Welt an die Leine gelegt haben. Ich weiß nicht, ob ich gratulieren oder kondolieren soll.«
Hm. Eigentlich wusste sie das selbst nicht. Bisher hatten sich bei ihr nackte Angst und friedliche Glückseligkeit abgewechselt. Nicht gerade der angenehmste Stimmungsumschwung.
»Styx ist wohl kaum an die Leine gelegt«, protestierte sie.
»Oh, das ist er sehr wohl.« Levets Lächeln wurde ausgesprochen boshaft. »Und es ist so köstlich ironisch! Vampirinnen haben bereits seit Jahrhunderten versucht, Styx aus seinem selbst auferlegten Zölibat zu locken. Sie werden vor Wut mit den Fangzähnen knirschen, wenn sie entdecken, dass er sich mit Ihnen verbunden hat.«
»Na toll.« Falls Levet vorbeigekommen war, um sie zu trösten, versagte er gerade in großem Stil. »Das hat mir wirklich noch gefehlt. Ein Rudel von wütenden Vampirinnen, die mich verfolgen.«
»O nein.« Levet flatterte heftig mit den zarten Flügeln, wodurch die wunderschönen Farben im schwachen Licht schimmerten. »Es gibt keinen Vampir, ob tot oder lebendig, der es wagen würde, der Gefährtin des Anasso zu schaden. Sie wünschen Sie vielleicht zur Hölle, aber sie würden bis zum Tode kämpfen, um Sie zu beschützen.«
Okay. Das klang schon besser. »Vielleicht, aber wie Sie schon gesagt haben, ist die … Zeremonie noch nicht vollständig«, fühlte Darcy sich gezwungen zu betonen. »Es ist noch keine Entscheidung gefallen.«
Levet runzelte seine plumpe Stirn. »Vielleicht nicht für Sie, aber ganz gewiss für Styx. Dieses Mal auf Ihrem Arm beweist, dass er lebenslang an Sie gebunden ist. Für die Vampire sind Sie nun ihre Königin.«
Darcy lief ein kalter Schauder über den Rücken. Königin? Sie? Also, das war einfach … armselig. Für das gesamte Vampirvolk. Mit einem Kopfschütteln lief sie ruhelos im Zimmer hin und her. »Das passiert alles zu schnell«, murmelte sie. »Viel, viel zu schnell.«
»Glauben Sie nicht an Liebe auf den ersten Blick?«
Darcy sorgte entschlossen dafür, dass sie ihr Gesicht von dem kleinen Gargylen abwandte, um ihren reuevollen Gesichtsausdruck zu verbergen.
Es gab eine Zeit, in der sie nicht an solchen Unsinn geglaubt hatte. Sie war sich nicht sicher gewesen, dass wahre Liebe überhaupt existierte. Für sie war das bloß ein Mythos gewesen, genau wie Vampire und Werwölfe. Wie konnte sie auch etwas für möglich halten, was sie nie selbst erlebt hatte?
Aber jetzt glaubte sie daran. Sowohl an Dämonen als auch an die Liebe. Sie drehte sich langsam um und betrachtete Levet mit einem schwachen Lächeln. »Ich nehme an, ich glaube daran. Und was ist mit Ihnen, Levet? Verlieben sich Gargylen auch?«
Überraschenderweise zeigte sich ein sehnsüchtiger Ausdruck auf dem hässlichen Gesicht. »O ja. Wir sind wie die meisten Dämonen. Wir verbinden uns für alle Zeiten mit einem Gefährten oder einer Gefährtin.«
Darcy schimpfte sich insgeheim selbst, denn sie spürte, dass sie in ein Fettnäpfchen getreten war. Sie wollte den kleinen Dämon nicht verletzen. Sicher hatte er sein ganzes Leben lang Kränkungen und Spott ertragen müssen.
»Sie haben gesagt, die meisten Dämonen«, meinte sie sanft und hoffte ihn abzulenken, während sie gleichzeitig mehr von der Welt entdecken wollte, in die sie gestoßen worden war. »Was ist mit den Werwölfen?«
Wie sie gehofft hatte, hellte sich das winzige Gesicht auf, und erneut bildete sich ein Lächeln auf Levets Lippen. »Volltreffer! Ausnahmen bestätigen die Regel.«
»Kein ›Bis dass der Tod uns scheidet‹?«
»Vor Jahrhunderten lebten die Rassewölfe gelegentlich in monogamen Beziehungen, aber um ehrlich zu sein, brauchen sie inzwischen dringend Nachkommen.« Er bewegte albern die Augenbrauen. »Die meisten Werwölfe sind heutzutage für ihren sexuellen Appetit berüchtigt. Insbesondere die Frauen, die ein Dutzend oder mehr Liebhaber gleichzeitig haben können.«
»Igitt.«
Levet zuckte die Schulter angesichts Darcys angewiderten Erschauderns. »Die Angst vor Auslöschung ist ein mächtiges Aphrodisiakum, ma chère, und einen Wurf hervorzubringen ist weitaus wichtiger als wahre Liebe.«
Darcy verzog das Gesicht. Sie war nicht prüde, aber dass von ihr erwartet werden könnte, sich ein Dutzend Liebhaber zu nehmen, war absolut nicht das, was sie hören wollte. Insbesondere, weil sie sich nicht vorstellen konnte, irgendeinem Mann außer Styx zu erlauben, sie anzufassen.
»Dann war Salvatores Behauptung, dass er vorhat, mich zu seiner Gefährtin zu machen, nicht mehr als ausgemachter Blödsinn?«
Levet riss die Augen auf. »Das hat er gesagt?«
»Ja.«
Es folgte eine Pause, bevor Levet mit unverhohlenem Vergnügen auflachte. »Sacrebleu. Kein Wunder, dass Langzahn sich dermaßen aufgeregt hat.Vampire sind bestenfalls Nervensägen, aber sie werden vollkommen wahnsinnig, wenn sie sich erst einmal verbunden haben. Und wenn ihnen ein anderer Mann dazwischenfunkt …« Er schüttelte sich dramatisch. »Der Himmel stehe jedem bei, der dann seinen Weg kreuzt!«
Instinktiv warf Darcy einen Blick aus dem Fenster. Ein merkwürdiges Unbehagen machte sich in ihrer Magengrube breit. »Mir gefällt der Gedanke nicht, dass er da draußen einen abtrünnigen Vampir verfolgt.«
Levet trat auf sie zu und tätschelte ihr leicht die Hand. Seine Haut war rau und lederartig, aber seine Berührung war ein willkommener Trost. »Es ist mehr als bloß ein Vampir, ob abtrünnig oder nicht, nötig, um Styx zu verletzen.« Er flatterte mit den Flügeln. »Vertrauen Sie mir. Ich habe ihn schon in Aktion erlebt.«
Darcy zwang sich selbst, sich daran zu erinnern, wie sie Styx dabei zugesehen hatte, wie er mit dem Schwert trainierte. Sie konnte nicht leugnen, dass er ausgesehen hatte wie der Tod in Lederhosen. »Vielleicht, aber ich habe ein ungutes Gefühl.«
Levet merkte auf. »Sie haben Vorahnungen?«
Darcy stellte fest, dass sie wie von selbst zum Fenster ging und eine Hand gegen die kalte Fensterscheibe presste. »Wie ich schon sagte … Ich habe ein ungutes Gefühl.«
 
Es war eine einfache Sache gewesen, dem abtrünnigen Vampir durch die dunklen Straßen von Chicago zu folgen. Desmond hatte eine Spur aus toten Höllenhunden, Feen und zwei Kobolden hinterlassen. Es war allerdings ein wenig schwieriger gewesen, seiner Fährte durch die Vorstädte und aus der Stadt bis zu dem Bauernhaus zu folgen, das erstaunlich nahe an Vipers Versteck lag, in dem Styx kürzlich mit Darcy gewesen war. Ein wenig schwieriger, aber nicht schwierig genug, wie Styx feststellte, als er sich in die wuchernde Hecke kniete, die das schäbige Haus umgab.
Er spähte in die Finsternis und studierte das zweistöckige Gebäude, das mit Sicherheit schon bessere Tage gesehen hatte: Die weiße Farbe blätterte ab, das Dach hing durch, und es fehlten mehr Fensterläden, als vorhanden waren. Selbst die Fensterscheiben waren zersprungen und aus ihren Rahmen gebrochen.
Jedoch war es nicht der alles andere als makellose Zustand des Hauses, der ihn beunruhigte. Sein eigenes Versteck in der Nähe des Mississippiufers würde es auch nie auf das Cover von Schöner Wohnen schaffen.Was ihm Sorgen bereitete, war die Tatsache, dass es Viper und ihm gelungen war, dem Clanchef ohne jede Schwierigkeit zu folgen, und dass sie nahe genug an das Haus herangekommen waren, ohne einem einzigen Wachtposten zu begegnen.
Styx grübelte über sein brodelndes Unbehagen nach und beobachtete, wie Viper durch die schwärzesten Schatten glitt und sich in der Hecke zu ihm gesellte. Styx wartete, bis sein Kamerad neben ihm kauerte, bevor er das lastende Schweigen unterbrach.
»Der Clanchef befindet sich im Inneren?«
»Ja.« In Vipers Augen glühte die Aussicht auf den nahenden Kampf. Einmal ein Krieger, immer ein Krieger. »Er hat sich mit zwei anderen Vampiren im Kellergeschoss verbarrikadiert.«
Styx zögerte. Seine eigene Blutgier wurde durch das Gefühl erstickt, dass etwas nicht in Ordnung war. »Nur zwei?«, verlangte er zu wissen.
»Ja, und keiner von ihnen besitzt besonders viel Macht«, bestätigte Viper.
Styx biss die Zähne zusammen, als er das Haus anstarrte. »Mir gefällt das nicht.«
»Wieso, was ist denn?!«, fragte Viper, der ganz offensichtlich das Kräftemessen nicht mehr erwarten konnte. »Dadurch, dass sie in Deckung gegangen sind, haben sie sich selbst eine Falle gestellt.«
»Oder uns.«
Viper wurde still und forschte mit zusammengekniffenen Augen in Styx’ Gesicht. »Spürst du etwas?«
»Nichts.«
»Und?«
»Und genau das beunruhigt mich.«
»Na dann.« Der jüngere Vampir zog die Augenbrauen in die Höhe. Dann platzte es aus ihm heraus: »Verdammte Hölle, ich hätte dich bei Dante lassen sollen! Vampire, die sich erst kürzlich verbunden haben, sollten zum Wohle ihres eigenen mentalen Geisteszustandes eingesperrt werden!«
Styx ignorierte das durchaus nicht schmeichelhafte Vertrauen in sein Jagdgeschick. Er war schon immer deutlich weniger begierig darauf gewesen, seine Muskeln zu benutzen, wenn sein Gehirn ihm von besserem Nutzen sein konnte. Eine höchst undämonische Eigenschaft.
Er wandte den Kopf und durchbohrte seinen Freund mit einem scharfen Blick. »Findest du es denn nicht im Geringsten verdächtig, dass ein erfahrener Clanchef dumm genug ist, in die Stadt zu stürmen, so viel Durcheinander anzurichten, dass wir uns dazu bringen lassen, ihn aufzuspüren, und sich dann, statt die Stadt zu verlassen oder uns direkt entgegenzutreten, in einem abgeschiedenen Bauernhaus ganz offensichtlich selbst in die Enge treibt, und das scheinbar ganz ohne jegliche Unterstützung?«
Viper dachte widerstrebend über Styx’ Worte nach.
»Wärest du dermaßen töricht?«, fuhr Styx fort.
Sein Kamerad knurrte leise. »Verdammt, musst du unbedingt so logische Schlüsse ziehen?«
»Ja.«
Viper schüttelte den Kopf und studierte das still daliegende Haus. »Was willst du tun?«
»Ich glaube, es wäre klug, Unterstützung anzufordern, bevor wir uns näher heranwagen.«
Mit einem Nicken zog Viper sein Mobiltelefon aus der Tasche und klappte es auf. »Verdammt.«
Styx runzelte die Stirn. »Was gibt es?«
»Der Akku ist leer.«
»Und er war geladen, als wir Chicago verließen?«
»Ja.« Viper steckte das nutzlose Handy zurück in die Tasche. »Aber es ist nicht so ungewöhnlich, dass die moderne Technik durch die Kräfte eines Vampirs in Mitleidenschaft gezogen wird.«
Das entsprach der Wahrheit. Der frühere Anasso hatte ganze Stromnetze kollabieren lassen, wenn er die Geduld verlor, und Styx konnte sich kaum in demselben Zimmer mit einem Fernsehgerät aufhalten, ohne dass es von selbst von einem Programm zum anderen umschaltete. Es war also nicht weiter eigenartig, wenn ein Vampir Akkumulatoren die Energie entzog.
Trotzdem brachte das Wissen darum, dass sie nun keine Unterstützung anfordern konnten, Styx’ Instinkte vor Unbehagen zum Prickeln. »Mir gefällt das nicht«, murmelte er.
»Was nun?«, fragte Viper.
Die Vernunft verlangte, dass sie nach Chicago zurückkehrten und genauer über die sonderbare Situation nachdachten. Es war mehr als töricht, sich in eine Falle treiben zu lassen, einfach nur, weil sie ungeduldig waren. Konnten sie es andererseits riskieren, Desmond die Gelegenheit zu geben, sich davonzuschleichen und sogar noch mehr Schäden zu verursachen? Was würde geschehen, wenn er sein Gemetzel auch auf die Vampire ausdehnte? Styx hätte keine andere Wahl, als einen Clankrieg zu fordern.
Mit grimmiger Entschlossenheit dachte Styx nach. Er würde das Haus nicht betreten, ohne zu wissen, was er im Inneren vorfände. Die einzige Möglichkeit bestand darin, Desmond und seine Kameraden hinauszujagen.
»Nun versuchen wir die Falle zuschnappen zu lassen, ohne uns dabei erwischen zu lassen«, sagte er schließlich.
Viper forschte in seiner Miene, die von wilder Entschlossenheit kündete. »Hast du einen Plan?«
»Tatsächlich habe ich die Absicht, Darcys Methode zu verwenden.«
»Ob das so sinnvoll ist?«
»Sie trat den Beweis an, dass die beste Vorgehensweise, einen Vampir abzulenken, darin besteht, ein Haus in Brand zu setzen.«
»Ah.« Viper zeigte sich weniger begeistert. »Ein Feuer wird gewiss ihre Aufmerksamkeit erwecken, doch es dürfte wohl kaum die beste Methode sein, Freunde zu gewinnen und Vampire zu beeinflussen.«
»Ich hege kein Interesse daran, Freunde zu gewinnen.« Styx’ Tonfall war ausgesprochen eisig. »Ich bin hier, um dafür zu sorgen, dass man meinen Gesetzen gehorcht.«
»Gesprochen wie ein wahrer Anasso«, meinte Viper mit einem leichten Lächeln.
Styx warf seinem Freund einen finsteren Blick zu. »Du solltest dich daran erinnern,Viper, dass du derjenige warst, der mich zwang, diese Stellung zu übernehmen.«
»Der einzige Grund dafür bestand darin, dass ich nicht das Risiko eingehen wollte, diese Aufgabe am Hals zu haben.«
»Herzlichen Dank, mein Freund.«
»Es war mir ein Vergnügen.« Viper richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Haus in ihrer Nähe, und ein ernster Ausdruck breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Ich nehme nicht an, dass du zufällig ein Feuerzeug oder Streichhölzer bei dir trägst, oder?«
»Das wird nicht notwendig sein. Alles, was ich benötige, ist die Stelle, an der der Strom ins Haus führt.«
»Das sollte recht einfach sein.« Viper zögerte nicht. Er erhob sich und steuerte auf die Rückseite des Hauses zu. »Hier entlang.«
Styx folgte dem anderen Vampir auf den Fersen, und gemeinsam glitten sie vollkommen lautlos durch die kalte Nachtluft. Sie wirbelten nicht einmal eine Schneeflocke auf, als sie die kurze Distanz bis zum Hinterhof überwanden.
Ausnahmsweise war das Glück auf Styx’ Seite, und er machte ohne Schwierigkeiten den Sicherungskasten ausfindig, der sich in der Nähe einer kleinen Veranda befand. Er machte sich nicht die Mühe, den Kasten zu öffnen, sondern legte stattdessen links und rechts eine Hand darauf, bevor er seine Macht durch das Metall strömen ließ, bis hin zu den verborgenen Stromkreisunterbrechern.
»Tritt zurück!«, befahl er, als er spürte, wie sich das Metall unter seiner Berührung erhitzte.
Viper war klug genug, seinen Worten nicht zu widersprechen, sondern einfach zu tun, wie ihm geheißen war.
Styx konnte nicht im eigentlichen Sinn Feuer erzeugen, doch er konnte die Leitungen erhitzen, bis sie schmolzen. Er wollte nicht, dass Viper verletzt wurde, falls seine Kräfte außer Kontrolle gerieten. Er konzentrierte sich auf den Kasten zwischen seinen Händen und schenkte seiner Umgebung wenig Aufmerksamkeit. Zumindest, bis er spürte, wie Viper sich mit einer heftigen Bewegung umdrehte.
»Styx …«, warnte er ihn leise.
Widerstrebend ließ Styx seine Hände sinken und wandte sich um, um das Geräusch eines sich nähernden Fahrzeugs wahrzunehmen. Er griff nach Vipers Arm und zog ihn hinter einen Busch in seiner Nähe, gerade als der Kleinbus in Sicht kam, aus dem mehr als ein Dutzend Vampire herausströmte.
»Verdammt«, murmelte er, als ihm bewusst wurde, dass der Clanchef seinen Bediensteten befohlen haben musste, sich so weit entfernt vom Haus aufzuhalten, dass man sie nicht spüren konnte. Jedenfalls so lange nicht, bis Styx und Viper in die Falle getappt waren.
Es war tatsächlich eine Falle, wie er sich grimmig eingestehen musste. Daran bestand nun nicht mehr der geringste Zweifel. »Ich werde bleiben und sie abwehren. Ich möchte, dass du dich auf den Weg machst, um Hilfe zu holen.«
Viper fauchte leise. »Du kannst sie nicht ganz allein abwehren!«
»Es sind auch zu viele für uns beide«, betonte Styx, der bereits spürte, dass der Clanchef und seine beiden Kameraden sich durch das Haus bewegten. Sehr bald würden sie umringt sein. »Unsere einzige Hoffnung besteht darin, dass du ihnen entkommst und mit deinem Clan zurückkehrst. Es ist nicht weit bis zu deinem Versteck.«
»Dann musst du gehen, und ich werde bleiben!«, beharrte Viper störrisch.
Styx wusste, dass sein Freund diskutieren würde, bis sie beide gefangen und gepfählt sein würden. Daher setzte er seine gebieterischste Miene auf. »Ich habe keinen Wunsch ausgesprochen,Viper, sondern einen Befehl!«
Einen Augenblick lang kämpfte Viper gegen seinen gewaltigen Stolz an. »Ich hasse es, wenn du mir gegenüber den Vorgesetzten herauskehrst!«
Styx drückte seinen Arm. »Geh.«
»Wenn du dich töten lässt, werde ich ernsthaft zornig sein.«
»Das sagtest du bereits«, meinte Styx trocken.
Er wartete, bis Viper mit den Schatten verschmolzen war. Dann erhob er sich langsam und trat hinter dem Busch hervor. Er wollte nicht, dass irgendein unternehmungslustiger Vampir das Haus umrundete und Viper entdeckte, bevor er entkommen konnte.
Sein Plan funktionierte: Als er vortrat, wandten die Vampire ihre Aufmerksamkeit allein seiner eigenen großen Gestalt zu. Sie hoben die Armbrüste und zielten damit genau auf sein Herz.
Wirklich reizend. Er hatte gar nicht erwartet, als Anasso der Vampire so geliebt zu werden. Anscheinend gehörten sie nicht zu der Art von Volk, das seine Anführer hofierte. Ihre Mentalität besagte eher »Jeder gegen jeden«. Dennoch kam es nicht oft vor, dass ein Vampir es wagte, seine Existenz zu bedrohen.
Dafür werdet ihr büßen, dachte Styx mit aufflackerndem Ärger. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und legte absichtlich seinen Umhang ab, um das enorme Schwert zu enthüllen, das er sich auf den Rücken geschnallt hatte. Ein Schwert, das auf der ganzen Welt gefürchtet wurde.
»Ich bin Styx, euer Anasso!«, sagte er mit einer Stimme, die im ganzen Hinterhof zu hören war. »Legt eure Waffen nieder, sonst werdet ihr gerichtet werden!«
Nur einen Moment lang gerieten die Vampire ins Wanken, und ihre besorgten Blicke zeigten, dass sie dem Wissen nicht gleichgültig gegenüberstanden, eine Straftat zu begehen, die dazu führen konnte, dass sie alle aufgeknüpft und der Morgendämmerung überlassen wurden. Bevor sie jedoch vollkommen die Nerven verlieren konnten, öffnete sich die Hintertür, und die drei Vampire, die im Haus geblieben waren, erschienen.
»Bleibt standhaft, ihr feigen Bastarde! Wenn er entkommt, werde ich persönlich dafür sorgen, dass jeder von euch zu Tode kommt.« Der Mann, bei dem es sich ganz offensichtlich um ihren Anführer handelte, ging die Stufen hinunter und blieb direkt vor Styx stehen. Obgleich er mehrere Zentimeter kleiner war als Styx und kaum halb so viel wog wie dieser, war auf seinem hageren Gesicht ein spöttischer Ausdruck zu erkennen, als er eine tiefe Verbeugung vollführte.
»Ah, der große Anasso!«
Styx wartete, bis sich der andere Vampir wieder aufgerichtet hatte, und forschte in den hellgrünen Augen und dem schmalen Gesicht, das von schlaff herunterhängendem blondem Haar eingerahmt wurde. Keinen Augenblick ließ er sich von dem beinahe zierlichen Körperbau des Mannes täuschen. Dieser verfügte über genügend Macht, um Styx’ Haut zum Kribbeln zu bringen.
»Desmond, nehme ich an«, sagte er mit bewusster Überheblichkeit.
Das spöttische Lächeln blieb unbeirrt. »Ihr habt die Ehre.«
»Ehre ist nicht unbedingt das Wort, das ich verwenden würde.«
»Nein? Nun, vielleicht liegt es daran, dass Ihr nichts über Ehre wisst.«
Styx zögerte nicht, als er die Hand ausstreckte, um den Vampir am Hals zu packen und ihn hochzuheben.
Ein aufgeregtes Rascheln war zu hören, als die versammelten Vampire sich auf den Kampf vorbereiteten, aber Styx ignorierte sie. Er würde keine Respektlosigkeit dulden. Nicht durch einen seiner Brüder.
»Du bewegst dich auf gefährlichem Terrain«, sagte er in einem unerbittlichen Ton.
»Und Ihr seid dümmer, als ich angenommen hatte, wenn Ihr denkt, mein Clan würde Euch nicht auf der Stelle töten«, warnte ihn Desmond. »Lasst mich los!«
»Du darfst niemals meine Ehre in Zweifel ziehen!« Mit einer geringschätzigen Drehung seiner Hand ließ Styx den verräterischen Vampir fallen und war befriedigt, als dieser ungeschickt umherstolperte, bevor es ihm gelang, sein Gleichgewicht wiederzuerlangen und sich aufzurichten.
Desmond hielt inne, um mit den Händen über sein jadegrünes Seidenhemd zu streichen, und schaffte es endlich, sein Lächeln zurückzugewinnen. »Ihr versteht mich falsch, Mylord. Ich beschwere mich nicht über Euren Mangel an Moral. Ich war immer der Ansicht, dass galantes Benehmen lange überbewertet wurde. Welche Stellung besitzen schon Ehre, Treue oder Tradition unter blutgierigen Dämonen? Wir stehen über solchen schwachen menschlichen Vorstellungen.«
Styx war nicht schockiert über das Geständnis des Mannes. Diese Ansicht wurde von zahlreichen Vampiren geteilt.
»Offenbar glaubst du, auch über Vampirgesetzen zu stehen«, sagte er mit eiskalter Verachtung in der Stimme. »Ihr bracht das Gesetz, als Ihr zwei meiner Clansangehörigen aufnahmt.«
»Sie ersuchten mich um meinen Schutz. Es ist meine Pflicht, ihnen eine Zuflucht zu bieten.«
Der Mann zog die Brauen hoch. »Eure Pflicht?«
»Ich bin der Anasso.« Die grünen Augen verdunkelten sich, als die Macht des Vampirs durch die Luft wirbelte. »Das behauptet Ihr zumindest.«
»Ich behaupte es?« Styx ballte die Hände zu Fäusten. Wenn er das nicht getan hätte, hätte er sie um den Hals dieses aufgeblasenen Idioten geschlossen. »Es besteht kein Zweifel daran, dass ich der Anführer der Vampire bin!«
»Aber wie kamt Ihr denn zu dieser glanzvollen Stellung?« Der Mann gab vor, einen Moment zu überlegen, bevor er mit den Fingern schnippte. »Ach ja, nun erinnere ich mich! Ihr ermordetet den vorherigen Anasso. Recht unternehmungslustig von Euch, das muss ich schon sagen.«
Styx versteifte sich bei dieser Anschuldigung. In Wahrheit war es Viper gewesen, der den tödlichen Schlag bei dem vorherigen Anasso gelandet hatte, doch Styx hatte niemals seine eigene Schuld geleugnet. Er hatte die volle Schuld für den Tod des Vampirs, den er seit Jahrhunderten bewundert und beschützt hatte, auf sich genommen. Denn dieser Vampir war durch seine eigenen perversen Süchte irgendwann dem Wahnsinn verfallen.
»Bist du hier, um die Rückkehr deiner Clanangehörigen zu fordern oder um über mein Recht auf Führerschaft zu debattieren?« Styx’ Stimme klang angespannt.
Der Vampir lächelte. »Du willst die Wahrheit hören?«
»Wenn du in der Lage bist, sie auszusprechen?«
»Ich bin hier, um Euch Eure sogenannten Rechte zu nehmen.«
Verdammt. Styx war in dem Glauben hergekommen, dass dieser Vampir nur in dem Versuch, seine Clanangehörigen zurückzuholen, seine Stärke demonstrieren wollte. Nun erkannte er, dass die Situation weitaus gefährlicher war. Möglicherweise sogar tödlich, dachte er, als er den Vampiren einen Blick zuwarf, die ihn umkreisten und weiterhin ihre Waffen direkt auf sein Herz gerichtet hielten.
»Ist dies irgendeine Art von Scherz?«, knurrte er.
Mit einem breiten Grinsen warf Desmond einen Seitenblick auf den Vampir, der turmhoch neben ihm aufragte. »Jacob, mache ich einen Scherz?«
Der große Vampir mit dem strähnigen schwarzen Haar und den matten braunen Augen schüttelte langsam den Kopf. Styx musste nicht genauer hinsehen, um zu erkennen, dass es sich hier um einen Vampir handelte, dessen Wille vollkommen gebrochen worden war.
Einst war allgemein anerkannt gewesen, dass die stärkeren Vampire die schwachen grausam behandelten und versklavten. Ein Chef herrschte durch Terror, und diejenigen, die unter ihm standen, gehorchten ihm oder zahlten einen fürchterlichen Preis. Während der vergangenen Jahrhunderte hatte Styx langsam versucht, diese Praktiken zu verändern, was manchmal eine zähe Angelegenheit gewesen war. Unglücklicherweise schien es, dass Desmond an den alten Gepflogenheiten festhielt und sein gesamter Clan darunter litt.
»Nein, Mylord«, intonierte der Diener nun.
»Seht Ihr?«, spottete Desmond. »Ich scherze nicht.«
Styx betrachtete den Vampir mit kalter Verachtung. Ihm fiel nichts ein, was er mehr genießen würde, als dem dreckigen Prahler das Herz herauszureißen. Unglücklicherweise schränkte das halbe Dutzend Armbrüste, das gegenwärtig auf ihn gerichtet war, seine Optionen erheblich ein.
»Wie sehen denn deine Pläne aus?«, wollte er wissen. »Dass du mich tötest und dann meinen Platz einnimmst?«
»So was in der Art. Schließlich ist das auch das, was Ihr getan habt. Ich lerne stets von Meistern.«
»Du glaubst wahrhaftig, dass die Vampire dir einfach nur deshalb folgen werden, weil du dich zum Anasso erklärst?«
»Warum nicht?« Desmond gab vor, seine manikürten Nägel zu betrachten. »Immerhin folgen sie Euch doch auch, nicht wahr?«
Styx gab ein kurzes, freudloses Lachen von sich. »Wenn es ihnen gerade so passt.«
»Unsinn, Mylord. Ihr seid viel zu bescheiden. Euer Ruf hat sich überall verbreitet. Alle Vampire wissen, dass es bedeutet, sich das eigene Grab zu schaufeln, wenn man sich Eurem Willen widersetzt. Tatsächlich wird Euer Name benutzt, um Findlinge vor Angst schlottern zu lassen.« Er hob den Blick, und ein hektisches Glitzern war in den grünen Augen zu erkennen.
Ein Glitzern, von dem Styx zu argwöhnen begann, dass es mehr dem reinen Wahnsinn als dem einfachen Ehrgeiz zuzuschreiben war.
»Und das bedeutet, dass der Vampir, dem es gelingt, Euch zu bezwingen, allen beweist, dass er sogar noch gefährlicher, noch grausamer ist. Der perfekte Anführer.«
Also war er wahrhaftig dem Wahnsinn verfallen. Styx nahm sich einen Augenblick Zeit, um über seine Möglichkeiten nachzudenken.
Zweifelsohne konnte er einigen Vampiren den Verstand vernebeln oder sie mit seiner Macht lähmen, aber das funktionierte nicht bei so vielen gleichzeitig. Es gab einfach zu viele Feinde, als dass er sich seinen Weg hätte freikämpfen können.
Und nicht einmal er war schnell genug, um vor diesen Armbrüsten davonzulaufen.
Seine einzige Hoffnung schien darin zu bestehen, den fanatischen Vampir davon zu überzeugen, dass er niemals mit solch einem verwegenen Plan sein Ziel erreichen konnte.
»Du bist erbärmlich«, meinte er schließlich, wobei er seinerseits ein spöttisches Lächeln aufsetzte.
»Ich bin erbärmlich?« Zorn zeigte sich in dem hageren Gesicht, obwohl Desmond sich bemühte, der Kränkung scheinbar gleichgültig zu begegnen. »Ziemlich absurd, wenn man sich überlegt, wer hier gerade als hilflose Geisel gehalten wird, oder?«
Styx zuckte die Achseln. »Du kannst mich töten, wenn es dir gefällt, doch das Vampirvolk wird dir niemals folgen.«
»Warum nicht? Ein Anasso ist für die meisten unserer Brüder so gut wie ein anderer. Was für eine Rolle spielt der Name schon, sofern der Anführer die Gesetze für alle achtet und wahrt?«
»Wenn das der Wahrheit entsprechen sollte, was sollte dann verhindern, dass ein anderer Chef eines Tages deine Stellung einfach mit den gleichen verräterischen Mitteln wie du jetzt übernimmt?«
»Ich bin klug genug, mich nicht in feuchtkalte Höhlen zurückzuziehen und den distanzierten, geheimnisvollen Mönch zu spielen.« Er warf einen geringschätzigen Blick auf Styx’ hochgewachsene Gestalt. »Die Menschen haben bewiesen, dass man kein freundlicher, intelligenter oder auch kompetenter Herrscher sein muss.Wie viele Dummköpfe und Idioten saßen bereits auf einem Thron? Man muss lediglich die Gewogenheit seines Volkes gewinnen, dann wird es einem folgen.«
Styx lachte scharf auf. Bei den Göttern, diesem Vampir war die Fähigkeit, seinen eigenen kleinen Clan in Angst und Schrecken zu versetzen, gewaltig zu Kopf gestiegen!
»Denkst du tatsächlich, du könnest mit menschlichen Schachzügen bei Dämonen etwas bewirken?«
»Nun, hier und da fehlt noch ein wenig Feinschliff.« Ein grausames Lächeln kräuselte die dünnen Lippen. »Und natürlich werde ich dafür sorgen, dass ich über genügend Vollstrecker verfüge, um diejenigen zu überzeugen, die möglicherweise Schwierigkeiten mit meiner Art der Herrschaft haben.«
Er dachte, ein paar Schläger würden für seine Position als Anasso sorgen? »Ich hatte unrecht: Du bist nicht erbärmlich, sondern ein Narr!«
Styx beugte sich absichtlich nach vorn und betonte seine eigene Größe, als er dem Mann direkt ins Ohr sprach. »Du wärest innerhalb eines Monats tot. Wenn es nicht durch die Hand eines Clans geschähe, der mir treu ergeben ist, dann durch die meiner Raben. Sie würden nicht ruhen, bis jeder Einzelne von euch getötet wäre.«
Desmond machte hastig einen Schritt nach hinten, bevor er die aufschlussreiche Bewegung unterdrücken konnte. Sein Gesicht spannte sich verärgert an, während seine Hände über sein Hemd strichen, in dem Versuch, so zu tun, als habe sich dieser peinliche Ausrutscher nicht ereignet.
»Ja, ich muss zugeben, dass die Raben mich beunruhigen. Sie sind ein ernstzunehmender Feind«, räumte er mit scharfer Stimme ein. »Sie sind nicht nur gut ausgebildet und überaus loyal, sondern sie wären auch nicht so dumm, einfach unbesonnen anzugreifen. O nein, sie gehören zu der Sorte, die sich in der Dunkelheit versteckt und meine Clanbrüder einzeln nacheinander tötet.«
Styx lächelte kalt. »Sie würden dich bis in alle Ewigkeit jagen.«
»Wie ich bereits sagte, ein Problem. Es sei denn …«
Styx gefiel das selbstgefällige Glitzern nicht, das in den grünen Augen glühte. Es wies darauf hin, dass die Überraschungen für diese Nacht noch nicht vorüber waren. Und es reichte langsam damit. Er hatte bereits jetzt seine Toleranzgrenze überschritten, was Überraschungen anging.
»Es sei denn - was?«
»Es sei denn, Ihr wäret so freundlich, mich zu Eurem Nachfolger zu ernennen«, erklärte Desmond mit einem höhnischen Lächeln. »Selbstverständlich schriftlich, da Ihr traurigerweise nicht hier sein werdet, um die Erklärung selbst abzugeben. Dann werden die Raben keine andere Wahl haben, als meine Stellung anzuerkennen. Vielleicht werde ich sie sogar zu meinen eigenen persönlichen Leibwachen machen.«
Styx schüttelte langsam den Kopf. Dies ging weit über bloßen Wahnsinn hinaus. Dieser Vampir litt unter gewaltigen Wahnvorstellungen!
»Du hegst die Absicht, mich zu töten, und erwartest dennoch von mir, dich zu meinem Nachfolger zu ernennen, bevor ich sterbe?«, fragte Styx ungläubig. Er war nicht imstande, sein bissiges Lachen zu unterdrücken. »Und mich nennen die Leute arrogant …«
Die grünen Augen verengten sich. »Ich habe nicht behauptet, Ihr würdet meinen Befehl freudig befolgen, aber Ihr werdet es tun.«
Styx ließ warnend seine Fangzähne aufblitzen. Er hatte schon einmal alles geopfert, was ihm lieb und teuer war, um die Vampire vor einem psychotischen Wahnsinnigen zu bewahren. Er würde sie nicht einem weiteren ausliefern. Nicht einmal, wenn das seinen eigenen Tod bedeutete.
»Niemals.«
»Ein Vampir sollte wissen, dass man niemals ›nie‹ sagen darf.« Desmond schnippte mit den Fingern. »Jacob, hole mir Papier und einen Stift.«
»Sofort, Mylord.« Der große Vampir verbeugte sich unbeholfen, bevor er die Treppe hinauftrottete und im Haus verschwand.
Styx machte einen Schritt nach vorn und lächelte kühl, als Desmond nach hinten stolperte. »Du vergeudest deine Zeit«, fauchte er.
Desmond funkelte ihn zornig an, setzte dann aber wieder sein unsicheres Lächeln auf. »Ich denke nicht, dass es so ist. Zwar besitze ich vielleicht nicht Eure Stärke, aber ich bin äußerst schlau. Ich kämpfe nie offen gegen einen Gegner, es sei denn, ich bin mir vollkommen sicher, den Kampf auch zu gewinnen.« Sein Lächeln wurde breiter. »In diesem Fall besteht meine Versicherung in einer hübschen kleinen Blondine, die es Euch anscheinend angetan hat.«
Styx erstarrte, als ein betäubender Schock ihn überwältigte. »Darcy?«, keuchte er.
»Ein bezaubernder Name.«
Panik drohte in ihm aufzusteigen, bevor Styx mit Entschlossenheit die Kontrolle über seine Sinne zurückerlangte. Nein. Das war nicht möglich. Styx war sich nicht sicher, wie es Desmond gelungen war, von Darcy zu erfahren, aber es war vollkommen unmöglich, dass er seine schmutzigen Hände an sie legen konnte. Dies war nicht mehr als ein Trick, um ihn dazu zu bringen, eine Dummheit zu begehen. Falls es eine noch größere Dummheit gab als geradewegs in eine offensichtliche Falle zu tappen, die ihm von einem Vampir gestellt worden war, der über einen Allmachtskomplex und eine Bande idiotischer Gesellen verfügte.
»Darcy steht unter dem Schutz des Phönix!«, erklärte Styx. »Oder war es deine Absicht, auch gegen die Göttin zu kämpfen?«
»Ganz gewiss nicht.« Der Mann besaß die Unverschämtheit zu grinsen. »Glücklicherweise habt Ihr dafür gesorgt, dass das nicht nötig sein wird.«
»Ich …« Außer sich vor Zorn allein durch die Andeutung, er bringe Darcy auf die eine oder andere Weise in Gefahr, hielt Styx abrupt inne. Unvermittelt erkannte er, woher der Vampir von Darcy gewusst hatte. Und von wem er genau den Moment erfahren hatte, in dem Styx mit Viper aufgebrochen war, so dass er mühelos dazu gebracht werden konnte, die Abtrünnigen zu diesem Haus zu verfolgen.
»Eure beiden Clanangehörigen«, stieß er rau hervor.
»Genau«, antwortete ihm der Vampir, der hoffentlich sehr bald tot sein würde. »Indem Ihr ihnen ihre erbärmliche Geschichte geglaubt und sie in Dantes Haus untergebracht habt, gabt Ihr ihnen die perfekte Gelegenheit, jede Eurer Schwächen zu entlarven. Und natürlich die perfekte Chance, Eure geliebte Darcy zu entführen. Gerade jetzt wird sie abgeholt, damit sie uns bei dieser bedeutsamen Handlung Gesellschaft leisten kann.«
Styx sank langsam auf die Knie, und eine kalte, unerbittliche Wut überkam ihn. Er würde später noch die Möglichkeit haben, sich selbst dafür zu bestrafen, dass er sich so leicht von seinen Feinden hatte täuschen lassen. Es würden ohne Zweifel Jahre des Grübelns, der Selbstbeschuldigungen und der kaltblütigen Rachepläne folgen, in denen er dafür sorgen würde, dass er einen solchen Fehler niemals wiederholte. Vorerst jedoch war er vollkommen erfüllt von einem Zorn, der keine Grenzen kannte.
Die einzige Fehleinschätzung in Desmonds ausgefeiltem Plan resultierte aus der Tatsache, dass Styx sich erst kürzlich mit Darcy verbunden hatte. Er war nicht der kühl berechnende Anasso, der seine Situation mit einer distanzierten Sachlichkeit betrachtete.
Jener Styx hätte mit Leichtigkeit erkannt, dass er in der Unterzahl, ausmanövriert und seinem Gegner unterlegen war. Er hätte begriffen, dass das vernünftigste Mittel, Darcy in Sicherheit zu bringen, darin bestand, die Forderungen des anderen zu erfüllen. Bei diesem Styx hier handelte es sich jedoch um ein tollwütiges Tier, das nur wusste, dass seine Gefährtin in Gefahr war und dass es jeden, der ihm im Weg stand, töten würde.
Styx spürte, wie die Macht begann, durch seinen Körper zu toben. Er blickte auf, als Jacob aus dem Haus zurückkehrte, Stift und Papier mit den fleischigen Händen umklammert.
Desmond, der sich der Tatsache nicht bewusst war, dass er nur noch wenige Augenblicke vom Tode entfernt war, lächelte, während er auf den vor ihm knienden Styx hinunterblickte.
»Nun, Styx, es scheint, Eure Tage als Herrscher stünden kurz vor ihrem Ende. Möchtet Ihr noch irgendwelche letzten Worte sprechen?«
Der Wind begann zu peitschen und die Erde zu beben, als Styx sich langsam wieder erhob.
»Nur eines.« Er hob die Hand in Richtung des zunehmend verwirrten Gesichtes seines Gegners. »Stirb.«