KAPITEL 1
Was Nachtclubs betraf,
war das Viper Pit der weitaus teuerste,
eleganteste und exklusivste in ganz Chicago.
Seltsamerweise war er auch der unbekannteste.
Im Telefonbuch war er nicht aufgeführt und es gab
weder knallige Anzeigen auf Plakatwänden noch blinkende
Neonlichter, die verraten hätten, wo er zu finden war. Tatsächlich
lag das ganze Gebäude unter einem raffinierten Zauber
verborgen.
Aber alle, die etwas auf sich hielten, wussten, wie
der Club zu finden war. Und unter diesen gab es nicht einen
einzigen Menschen.
Zwischen den Marmorsäulen und den glitzernden
Brunnen bewegten sich diverse Dämonen, die sich alle verschiedenen
schändlichen Aktivitäten hingaben, den Glücksspielen, dem Trinken,
exotischen Tänzen und diskreten (sowie weniger diskreten) Orgien.
All das kostete ein kleines Vermögen.
Ohne Zweifel waren es köstliche Zeitvertreibe, aber
in dieser kalten Dezembernacht war der als Styx bekannte Vampir
nicht an den Aktivitäten interessiert, die unterhalb seiner
privaten Loge zur Verfügung standen. Oder an den diversen Dämonen,
die innehielten, um sich tief in seine Richtung zu verbeugen.
Heute betrachtete er seine Kameraden mit deutlicher
Resignation. Auf den ersten Blick hätten die beiden nicht
unterschiedlicher sein können. Nun ja, das war nicht ganz korrekt,
schließlich waren sie beide groß und mit den muskulösen Körpern
aller Vampire gesegnet. Und beide besaßen dunkle Augen und
natürlich Fangzähne. Aber damit hörten die Ähnlichkeiten auch schon
auf.
Der jüngere Vampir, Viper, stammte aus einem der
nordslawischen Länder und verfügte über das hellsilberne Haar sowie
die noch hellere Haut seiner Vorfahren.
Styx indes kam aus dem heißen Südamerika und hatte
sich auch nach seiner Verwandlung die bronzefarbene Haut und die
stolzen kantigen Gesichtszüge der Azteken bewahrt.
Heute Nacht hatte er seine traditionelle Robe
verworfen und sich für eine schwarze Lederhose, hohe Stiefel und
ein schwarzes Seidenhemd entschieden. Er war davon ausgegangen,
dass er mit dieser Kleidung auf seinem Weg durch die Straßen von
Chicago weniger auffallen würde. Unglücklicherweise gab es für
einen fast zwei Meter großen Vampir mit rabenschwarzem Haar, das
ihm in einem geflochtenen Zopf bis zu den Knien herunterhing, kaum
eine Möglichkeit, nicht aufzufallen. Gerade sterbliche Frauen
konnten sich der nahezu magischen Anziehungskraft der Vampire
einfach nicht entziehen. Auf seinem Weg durch die dunklen Straßen
hatte sich fast ein halbes Dutzend bewundernder Frauen an seine
Fersen geheftet. Schließlich war er auf die Dächer geflüchtet, um
ihrem hartnäckigen Interesse zu entgehen.
Bei den Göttern, er wünschte, er hätte in seinen
Höhlen bleiben können, vor den Blicken der Menschheit
verborgen.
Jahrhundertelang hatte er das Leben eines Mönches
gelebt, während er den Anasso beschützt hatte, den Anführer aller
Vampire. Er war Vollstrecker und Wächter gewesen und war dem
uralten Vampir kaum jemals von der Seite gewichen.
Da der Anasso jetzt tot war, war er gezwungen
gewesen, die Rolle des Anführers zu übernehmen, und er entdeckte
allmählich, dass er sich nicht länger verstecken konnte.
»Ich bin stets entzückt, dich zu Gast zu haben,
Styx, aber ich muss dich warnen. Mein Clan ist schon nervös genug,
da du in unserer Mitte weilst«, sagte Viper gedehnt. »Wenn du nicht
aufhörst, mich so finster anzublicken, werden sie zwangsläufig
befürchten, dass sie bald ohne mich als ihren Clanchef dastehen
werden.«
Styx wurde klar, dass er seine Aufmerksamkeit hatte
abschweifen lassen, und setzte sich abrupt in dem exklusiven
Ledersessel auf. Instinktiv hob er die Hand, um den Anhänger zu
berühren, den er um den Hals trug. Es war ein Symbol seines Volkes.
Ein Amulett, dazu erschaffen, Geister von einer Generation an die
nächste weiterzugeben. Natürlich besaß Styx als Vampir keine
fassbaren Erinnerungen an das Leben, das er geführt hatte, bevor er
als Dämon auferstanden war. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab,
wenigstens an einigen seiner heiligen Traditionen
festzuhalten.
»Ich blicke dich nicht finster an.«
Viper lächelte ironisch. »Styx, du vergisst, dass
ich eine Gefährtin habe, was bedeutet, dass ich finstere Blicke
bestens kenne. Und du, mein Freund, schaust ohne jeden Zweifel
finster.« Sein Lächeln verblasste, als der andere Vampir ihn mit
einem scharfen Blick bedachte. »Weshalb erzählst du mir nicht, was
dich beunruhigt?«
Styx hielt inne, bevor er schwer aufseufzte. Er
musste es tun. Selbst wenn er sich lieber auspeitschen, häuten und
die Fangzähne ziehen lassen würde, als zuzugeben, dass er Hilfe
brauchte. Als Clanchef dieser Gegend kannte sich Viper besser in
Chicago aus als jeder andere Dämon. Es wäre mehr als töricht, seine
Hilfe abzulehnen.
»Es geht um die Werwölfe«, antwortete er
abrupt.
»Werwölfe?« Viper fauchte leise. Wie rivalisierende
Fußballvereine konnten sich auch Vampire und Werwölfe gegenseitig
nicht ausstehen. »Welche Art von Scherereien machen sie dir?«
»Es geht inzwischen über reine Scherereien hinaus.
Sie haben ihre anerkannten Jagdgründe verlassen, und ich habe
zumindest einen Teil des Rudels nach Chicago verfolgt.« Styx ballte
die Hände im Schoß zu Fäusten. »Sie haben bereits mehrere Menschen
getötet und die Leichen liegengelassen, damit die Behörden sie
finden.«
Viper zuckte nicht mal mit der Wimper. Es war mehr
als ein Rudel Werwölfe nötig, um den mächtigen Vampir aus dem
Konzept zu bringen. »Ja, es gibt Gerüchte von wilden Hunden, die
angeblich in den Gassen von Chicago umherstreunen. Ich hatte mich
bereits gefragt, ob es sich dabei um Werwölfe handelt.«
»Sie haben einen neuen Anführer, einen jungen
Werwolf namens Salvatore Giuliani, aus Rom. Er ist reinrassig und
ehrgeiziger, als ihm guttut.«
»Hast du schon versucht, vernünftig mit ihm zu
reden?«
Styx kniff die Augen zusammen. Ob er es mochte oder
nicht, er war nun mal der Anführer der Vampire. Und das bedeutete,
dass sich die Welt der Dämonen seinen Befehlen zu beugen hatte.
Einschließlich der Werwölfe.
Bisher war der neueste Rudelführer seiner
Verpflichtung
gegenüber Styx allerdings nicht nachgekommen und hatte ihn nur mit
Verachtung gestraft. Das war ein Fehler, den er sehr bald bedauern
würde.
»Er weigert sich, sich mit mir zu treffen.« Styx’
Tonfall war so kalt wie seine Miene. »Er sagt, die Werwölfe würden
anderen Dämonen nicht länger dienen und alle Abkommen, die in der
Vergangenheit getroffen wurden, seien fortan null und
nichtig.«
Viper zog die Augenbrauen hoch. Ohne Zweifel fragte
er sich, aus welchem Grund Styx die Bestie noch nicht getötet
hatte.
»Er ist entweder sehr mutig oder sehr dumm.«
»Sehr dumm. Ich habe ein Treffen der Kommission
anberaumt, aber es kann Tage, wenn nicht Wochen dauern, bis sie
sich an einem Ort versammelt haben.«
Styx sprach von dem Rat, der Streitigkeiten
zwischen den diversen Dämonenrassen beilegte. Er bestand aus
uralten Autoritäten, die ihre verborgenen Verstecke nur selten
verließen. Unglücklicherweise handelte es sich dabei um das einzige
legale Mittel, ein Urteil über den König oder Anführer einer
anderen Rasse zu verhängen, ohne dass dafür Vergeltung geübt
wurde.
»Bis dahin stellen die rücksichtslosen Taten der
Werwölfe eine Bedrohung für uns alle dar.«
»Mein Clan steht bereit, um seine Hilfe
anzubieten.« Ein Lächeln der Vorfreude erschien auf Vipers Lippen.
»Wenn du möchtest, dass dieser Salvatore stirbt, so bin ich sicher,
dass das arrangiert werden kann.«
Styx konnte sich nur wenige Dinge vorstellen, die
befriedigender wären als der Befehl, Salvatore Giuliani zu töten.
Außer die Vorstellung seine eigenen Zähne in die Kehle des räudigen
Hundes zu graben. Es gab Zeiten, in
denen es eine nervtötende Angelegenheit war, ein
verantwortungsvoller Anführer zu sein.
»Das ist ein verlockendes Angebot, aber leider sind
die Werwölfe diesem Mann ungewöhnlich treu ergeben. Ich zweifle
nicht daran, dass den Vampiren die Schuld zugeschoben werden würde,
wenn er plötzlich stürbe. Ich hoffe, einen ernsthaften Krieg
vorerst vermeiden zu können.«
Viper neigte leicht den Kopf. Wie auch immer seine
eigenen Wünsche aussahen, er würde sich Styx’ Autorität beugen.
»Hast du einen Plan?«
»Es ist schwerlich ein Plan, aber ich hoffe, eine
Möglichkeit entdeckt zu haben, Druck auf Salvatore auszuüben.« Er
zog ein kleines Foto aus der Tasche und reichte es seinem
Kameraden.
Viper studierte für einen Augenblick die kleine,
zierliche Frau auf dem Bild. Mit ihrem kurzen blonden Stachelhaar
und ihren grünen Augen, die zu groß für ihr herzförmiges Gesicht
schienen, sah sie wie ein wunderschöner Kobold aus.
»Nicht mein Typ, aber ganz sicher ein Blickfang.«
Er schaute auf. »Ist sie seine Geliebte?«
»Nein, aber Salvatore hat eine beträchtliche Menge
an Geld und Energie aufgewendet, um diese Frau aufzuspüren. Ich
glaube, dass er sie hier in Chicago endlich entdeckt hat.«
»Was hat er mit ihr vor?«
Styx zuckte mit den Schultern. Die Vampire, denen
er befohlen hatte, den unberechenbaren Werwolf im Auge zu behalten,
hatten es geschafft, diese Fotografie in die Finger zu bekommen,
und es war ihnen auch gelungen, Salvatore bis nach Chicago zu
verfolgen. Allerdings kamen
sie nicht nahe genug an ihn heran, um herauszufinden, warum er von
dieser Frau besessen war.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, aber sie ist
ihm offensichtlich sehr wichtig. So wichtig, dass er vielleicht
willens sein könnte, über ihre Unversehrtheit zu verhandeln … falls
ich imstande wäre, ihm zuvorzukommen und sie in meine Gewalt zu
bringen.«
Ein Ausdruck der Überraschung zeigte sich auf dem
blassen Gesicht. »Du hegst die Absicht, sie zu entführen?«
»Ich hege die Absicht, sie als meinen Gast
aufzunehmen, bis die Werwölfe zur Vernunft kommen«, korrigierte
Styx. Sein ganzer Körper versteifte sich, als Viper den Kopf in den
Nacken legte, um herzhaft zu lachen. »Was ist daran so
amüsant?«
Viper deutete auf das Bild in seiner Hand. »Hast du
dir diese Frau genau angesehen?«
»Natürlich.« Styx runzelte die Stirn. »Das war
notwendig, um sich ihre Gesichtszüge einzuprägen, für den Fall,
dass das Bild verloren geht oder zerstört wird.«
»Und du willst sie dennoch freiwillig bei dir
aufnehmen?«
»Weshalb sollte ich das nicht tun?«, verlangte Styx
zu wissen.
»Der Grund ist doch offensichtlich.«
Styx unterdrückte seine aufflackernde Ungeduld.
Wenn Viper Informationen über diese Frau besaß, warum teilte er sie
dann nicht mit ihm, anstatt sich dermaßen geheimnisvoll
aufzuführen?
»Du sprichst in Rätseln, alter Freund. Glaubst du,
dass die Frau irgendeine Art von Gefahr darstellt?«
Viper hob die Hände. »Nur auf die Weise, wie jede
schöne Frau eine Gefahr darstellt.«
Styx’ Augen verengten sich. Bei den Göttern,
glaubte Viper tatsächlich, er sei empfänglich für die Reize einer
Frau? Und dann auch noch einer sterblichen?
Wenn er eine Frau haben wollte, musste er nur einen
Blick aus der Loge werfen. Der Nachtclub war voller Frauen, und es
gab sogar mehr als nur ein paar Männer, die ihr Interesse bekundet
hatten, seit er heute Abend durch die Tür getreten war.
»Die Frau wird meine Geisel sein, nichts weiter«,
erwiderte er kalt.
»Natürlich.«
Styx, der Vipers anhaltende Belustigung spürte,
zeigte ungeduldig auf das Foto. Schließlich war das der Grund,
weshalb er überhaupt hergekommen war. »Kennst du das Etablissement,
vor dem sie steht?«
»Es kommt mir bekannt vor.« Viper nahm sich einen
Augenblick Zeit und nickte dann. »Ja. Das ist eine Gothic-Bar. Ich
würde sagen, sie liegt vier, nein, warte … fünf Blocks südlich von
hier.«
»Ich danke dir, alter Freund.« Styx stand schnell
auf. Er streckte die Hand aus, um das Foto an sich zu nehmen, und
steckte es wieder in die Tasche.
Viper erhob sich ebenfalls und legte Styx eine Hand
auf den Arm, um ihn zurückzuhalten. »Warte, Styx.«
Dieser unterdrückte die Ungeduld, die in ihm
aufstieg. Er hatte nicht die Zeit, noch länger zu verweilen. Je
eher er sich die Frau schnappte, desto eher würde er wissen, ob sie
für die Werwölfe tatsächlich von Bedeutung war.
»Was gibt es?«
»Was wirst du tun?«
»Das habe ich dir doch bereits gesagt. Ich hege die
Absicht, die Frau zu meiner Gefangenen zu machen.«
»Einfach so?«, fragte Viper.
Styx sah ihn verwirrt an. »Ja.«
»Du kannst nicht allein gehen. Wenn die Werwölfe
über sie wachen, werden sie versuchen, dich aufzuhalten.«
»Ich fürchte kein Rudel Hunde«, gab Styx
verächtlich zurück.
Viper weigerte sich nachzugeben. »Styx!«
Styx seufzte. »Meine Raben werden in der Nähe
sein«, versprach er und deutete auf die fünf Vampire, die seit
Jahrhunderten seine Begleiter waren und so sehr Teil von ihm wie
sein eigener Schatten.
Der silberhaarige Vampir war jedoch noch immer
nicht zufrieden. »Und wohin wirst du sie bringen?«
»In mein Versteck.«
»Großer Gott!« Viper lachte unüberhörbar auf. »Du
kannst die arme Frau doch nicht in diese feuchtkalten,
widerwärtigen Höhlen bringen.«
Styx runzelte die Stirn. Er hatte noch nie über den
Komfort seiner Behausung nachgedacht. Für ihn waren seine Höhlen
einfach ein Ort, an dem er sich in Sicherheit vor der Sonne befand.
»Die meisten der Höhlen sind recht komfortabel.«
»Es ist schlimm genug, dass du die Frau als Geisel
nimmst. Aber dann solltest du sie wenigstens an einen Ort bringen,
der über ein anständiges Bett und einige Annehmlichkeiten
verfügt.«
»Was für eine Rolle spielt das? Sie ist doch nichts
weiter als ein Mensch.«
»Es spielt eine Rolle, weil
sie ein Mensch ist. Meine Güte, Menschen sind empfindlicher als
Tauelfen!« Mit fließenden Bewegungen schritt Viper rasch auf den
Schreibtisch zu, der den Großteil seines an die Loge angrenzenden
Büros
einnahm. Er griff in eine Schublade und zog ein Blatt Papier
heraus. Nachdem er einige Zeilen hingekritzelt hatte, steckte er
die Hand in die Tasche und zog einen kleinen Schlüssel hervor. Er
kehrte zu Styx zurück und legte ihm beides in die Hände.
»Hier.«
»Was ist das?«, wollte Styx wissen.
»Der Schlüssel zu meinem Anwesen nördlich der
Stadt. Es ist ruhig und abgelegen genug für deine Zwecke, aber
weitaus angenehmer als dein Versteck.« Er zeigte auf das Papier.
»Das ist die Wegbeschreibung. Ich werde Santiago und dem Rest
meines Personals Bescheid geben, damit sie dich erwarten.«
Styx öffnete den Mund, um zu protestieren.
Vielleicht war sein Versteck nicht elegant oder luxuriös, aber es
lag gut geschützt. Und noch wichtiger war die Tatsache, dass er die
Umgebung gut kannte. Doch wie Viper bereits betont hatte, waren
Menschen unangenehm empfindlich, und Styx wusste, dass sie zu einer
ganzen Reihe überraschender Krankheiten und Verletzungen neigten.
Und er brauchte die Frau lebendig, wenn sie ihm von irgendeinem
Nutzen sein sollte.
»Es wäre gut, in der Nähe der Stadt zu bleiben, um
mit den Werwölfen verhandeln zu können«, gab er zu.
»Und um Hilfe herbeirufen zu können, falls du sie
benötigst«, ergänzte Viper.
»Ja.« Styx steckte den Schlüssel in die Tasche.
»Jetzt muss ich gehen.«
»Gib auf dich acht, alter Freund.«
Styx nickte düster. »Das kann ich dir
versprechen.«
Gina, eine rothaarige Kellnerin mit
Sommersprossen, lehnte lässig am Tresen, als drei Männer den
Gothic-Nachtclub
betraten. »Ach du Scheiße, geile Typen im Anmarsch!«, brüllte sie,
um den ohrenbetäubenden Lärm der Band in ihrer Nähe zu übertönen.
»Na, das ist ja mal Frischfleisch allererster Güte!«
Darcy Smith wandte die Augen von dem Drink ab, den
sie gerade mixte, und warf einen Blick auf die neuen Gäste. Sie hob
überrascht die Brauen.
Normalerweise war Gina nicht übermäßig
anspruchsvoll. Sie betrachtete alles, was auch nur entfernt
männlich schien und auf zwei Beinen stand, als Frischfleisch
allererster Güte. Aber diese Typen verdienten wirklich die
Bestnote.
Darcy pfiff leise durch die Zähne, während sie die
beiden studierte, die ihr am nächsten standen.
Der Inbegriff der Steroidgeneration, stellte sie
fest, als sie die hervortretenden Muskeln beäugte, die unter den
engen T-Shirts und maßgeschneiderten Jeans wie aus Marmor gemeißelt
wirkten. Merkwürdigerweise hatten sich beide die Köpfe
rasiert.Vielleicht, um die gefährlich finsteren Augen
hervorzuheben, die ihre attraktiven Gesichter beherrschten, oder um
die Ausstrahlung von Aggression zu betonen, die sie umgab.
Es funktionierte jedenfalls.
Im Gegensatz dazu war der Mann, der hinter ihnen
stand, geradezu feingliedrig gebaut. Natürlich konnte der elegante
Seidenanzug nicht ganz die geschmeidigen Muskeln verbergen, genauso
wenig, wie die langen schwarzen Locken die dunklen, adlerartigen
Gesichtszüge kaschierten. Doch Darcy wusste sofort mit absoluter
Gewissheit, dass er der gefährlichste des Trios war.
Eine unnatürliche Wildheit umgab ihn, als er seine
Handlanger durch die dichte Menschenmenge führte.
»Der mit dem Anzug sieht wie ein Gangster aus«,
bemerkte sie kritisch.
»Ein Gangster in einem Armani-Anzug.« Gina ließ ein
Lächeln aufblitzen. »Ich hatte schon immer eine Schwäche für
Armani.«
Darcy rollte mit den Augen. Sie selbst hatte nie
Interesse an Designerkleidung gehabt und ebenso wenig an der Art
von Männern, die es für nötig hielten, sie zu tragen.
»Was will der bloß hier?«, murmelte sie.
Die Menschenmenge in der Bar bestand vorwiegend aus
der üblichen Mischung: Gothics, Metalheads, Stonies und den
wirklich Bizarren. Die meisten Leute kamen her, um sich die
Heavy-Metal-Bands anzuhören und sich auf der beengten Tanzfläche
auszutoben. Einige wenige bevorzugten die Hinterzimmer, in denen
eine breite Auswahl illegaler Beschäftigungen angeboten wurde. Es
war kein Ort, der eine niveauvolle Kundschaft anzog.
Gina schüttelte ihr Haar ordentlich durch, bevor
sie nach ihrem Tablett griff. »Ist wahrscheinlich hier, um die
Einheimischen anzugaffen. Leute mit Kohle genießen es dann und wann
in Kontakt mit dem Pöbel zu kommen.« Sie schnitt eine Grimasse,
wobei ihre Miene ihr ein deutlich älteres Aussehen verlieh, als es
ihren Jahren entsprach. »Solange sie sich dabei nicht schmutzig
machen.«
Darcy beobachtete mit einem kleinen Lächeln, wie
die Kellnerin sich zügig ihren Weg durch die wilde Menge bahnte.
Sie konnte Gina ihre zynische Art nicht verübeln. Wie sie selbst
war sie ganz allein auf der Welt und hatte weder die Ausbildung
noch die Mittel, um auf eine große Karriere zu spekulieren.
Darcy selbst weigerte sich allerdings, Bitterkeit
in ihrem Herzen aufkeimen zu lassen. Was für eine Rolle spielte es
schon, dass sie gezwungen war, jeden Job anzunehmen, der sich ihr
bot?
Barkeeperin, Pizzabotin, Yogalehrerin und
gelegentlich auch Aktmodell für die örtliche Kunstschule - nichts
war unter ihrer Würde. Stolz konnte man sich nicht leisten, wenn
man die täglichen Brötchen selbst verdienen musste.
Außerdem sparte sie auf etwas Besseres: Eines Tages
würde sie ihren eigenen Naturkostladen haben, und sie würde nicht
zulassen, dass sich ihr irgendjemand in den Weg stellte.
So beschäftigt wie Darcy mit dem Einschenken von
Drinks und dem Abwaschen von Gläsern war, bemerkte sie nicht, dass
sich die Neuankömmlinge an der Bar niederließen. Erst als ihre
wütenden Blicke und ihr Muskelspiel es geschafft hatten, den Rest
der Stammgäste am Tresen zu vertreiben, stellte sie fest, dass sie
praktisch allein mit ihnen war.
Darcy verspürte ein seltsames Aufflackern von
Unbehagen, zwang aber ihre Füße, sie in Richtung der wartenden
Männer zu tragen. Sie sagte sich selbst, dass ihr Verhalten
lächerlich war. Es befanden sich über hundert Menschen in der Bar.
Da konnten diese Männer keine Bedrohung darstellen.
Sie blieb instinktiv vor dem Mann im Anzug stehen
und unterdrückte ein leises Keuchen, als sie der Blick aus seinen
goldbraunen Augen traf. In ihnen loderte eine Hitze, die fast
greifbar war. Himmel. Ein Wolf in Seidenkleidern.
Sie war sich nicht sicher, woher dieser alberne
Gedanke kam, und sie verdrängte ihn schnell wieder. Der Mann war
ein Gast und sie war hier, um ihn zu bedienen. Nicht mehr und nicht
weniger.
Sie setzte ein Lächeln auf und legte einen kleinen
Papieruntersetzer vor ihm auf den Tisch. »Kann ich Ihnen
helfen?«
Langsam kräuselte ein Lächeln seine Lippen und
enthüllte überraschend weiße Zähne. »Das will ich doch hoffen,
cara«, antwortete er gedehnt. Ein schwacher
Akzent war aus seinen Worten herauszuhören.
Die Härchen in Darcys Nacken richteten sich auf,
als sein goldener Blick träge über ihr schwarzes T-Shirt und ihren
zu kurzen Minirock glitt. In seinen Augen lag ein Hunger, von dem
sie sich nicht sicher war, ob er ausschließlich sexuell gedeutet
werden konnte. Es wirkte eher so, als ob er sie als ein leckeres
Kotelett betrachtete.
»Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen?« Sie
zwang sich, einen energischen Ton anzuschlagen, der aus hundert
Schritten Entfernung eine Erektion zum Erschlaffen hätte bringen
können.
Der Fremde lächelte nur. »Eine Bloody Mary.«
»Pikant?«
»Und wie.«
Sie widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen.
»Und Ihre Freunde?«
»Die sind im Dienst.«
Darcys Blick schoss zu den Männern, die mit
verschränkten Armen hinter ihrem Anführer aufragten wie hirnlose
Zwillinge.
»Sie sind der Boss.« Darcy trat von der Bar zurück
und mixte den Drink. Sie fügte eine Selleriestange und eine Olive
hinzu, bevor sie zurückkehrte. »Eine Bloody Mary.«
Sie wandte sich bereits ab, als der Mann die Hand
ausstreckte, um sie am Arm festzuhalten. »Warten Sie.«
Sie blickte missbilligend auf die dunklen,
schlanken Finger auf ihrem Arm herunter. »Was wollen Sie?«
»Leisten Sie mir Gesellschaft. Ich hasse es, allein
zu trinken.«
Offensichtlich zählten die hirnlosen Zwillinge
nicht. »Ich bin auch im Dienst.«
Er warf einen nachdrücklichen Blick auf die
verlassene Bar. »Niemand scheint Ihre Dienste sonderlich dringend
zu brauchen. Niemand außer mir.«
Darcy seufzte. Sie war nicht gern unhöflich. Das
war schlecht für ihr Karma. Aber dieser Mann verstand ganz
eindeutig keine Zwischentöne. »Wenn Sie Gesellschaft suchen, bin
ich mir sicher, dass sich hier jede Menge Frauen freuen würden,
etwas mit Ihnen zu trinken.«
»Ich will nicht jede Menge Frauen.« Die goldenen
Augen brannten sich in ihre. »Nur Sie.«
»Ich arbeite.«
»Sie können nicht die ganze Nacht arbeiten.«
»Nein, aber wenn ich fertig bin, gehe ich nach
Hause.« Sie entzog sich seinem Griff. »Allein.«
Etwas, das vielleicht Verärgerung sein mochte,
huschte über das ausgesprochen attraktive Gesicht. »Alles, was ich
will, ist, mit Ihnen zu reden. Sicherlich können Sie mir ein paar
Minuten Ihrer Zeit opfern.«
»Mit mir reden? Worüber?«
Er warf einen ungeduldigen Blick auf die
Menschenmenge, die jede Minute ausgelassener wurde. Offenbar wusste
er die Begeisterung der in Leder gehüllten Teenager mit den
zahlreichen Piercings nicht zu schätzen, die sich in vollem Tempo
gegenseitig rammten.
»Ich würde es vorziehen, wenn wir an einen etwas
privateren Ort gingen.«
»Auf keinen Fall.«
Seine Miene verfinsterte sich. Noch befremdlicher
war allerdings die Tatsache, dass in den goldenen Augen plötzlich
ein inneres Licht zu glühen schien. Als habe jemand dahinter eine
Kerze angezündet.
»Ich muss mit Ihnen sprechen, Darcy. Ich würde es
vorziehen, wenn unsere Beziehung zueinander freundlich bliebe -
schließlich sind Sie eine attraktive junge Frau -, aber wenn Sie
diese Situation erschweren, bin ich darauf vorbereitet, alles zu
tun, was notwendig ist, um meinen Willen zu bekommen.«
In Darcys Herz flackerte plötzlich Angst auf.
»Woher kennen Sie meinen Namen?«
Er beugte sich vor. »Ich weiß sehr vieles über
Sie.«
Diese Unterhaltung verwandelte sich von seltsam in
ausgesprochen gruselig. Hinreißend aussehende Herren in tausend
Dollar teuren Anzügen und mit persönlichem Gefolge belästigten
normalerweise keine armen Barkeeperinnen. Es sei denn, sie
beabsichtigten sie zu töten und zu verstümmeln.
Darcy machte einen abrupten Schritt nach hinten.
»Ich denke, Sie sollten besser Ihren Drink austrinken, sich Ihre
Schlägertypen schnappen und verschwinden.«
»Darcy …« Der Mann streckte die Hand aus, als ob er
sie mit physischer Gewalt zwingen wollte, ihm Gesellschaft zu
leisten.
Glücklicherweise schien seine Aufmerksamkeit
plötzlich nachzulassen. Er wandte den Kopf zur Tür. »Wir haben
Gesellschaft bekommen«, knurrte er in Richtung der Zwillingstypen.
»Kümmert Euch darum.«
Augenblicklich rannten die beiden Schläger in
erstaunlichem Tempo auf die Tür zu. Der Mann erhob sich von
seinem Barhocker und sah ihnen nach, als ob er erwartete, dass
eine Armee in den Club gestürmt käme.
Das genügte Darcy. Sie mochte vielleicht nicht zu
den klügsten Köpfen der Welt gehören, aber sie erkannte eine
Gelegenheit, wenn sie sich bot. Was auch immer der Mann von ihr
wollte, es konnte nichts Gutes sein. Je mehr Abstand sie zwischen
ihn und sich selbst bringen konnte, desto besser.
Darcy raste auf das andere Ende der Bar zu und
ignorierte den plötzlichen Aufschrei des Mannes hinter ihr. Sie
machte sich nicht einmal die Mühe, einen Blick auf die Menge zu
werfen, um dort jemanden um Hilfe zu bitten. Eine schreiende Frau
wäre hier bloß ein weiterer Teil der Show.
Stattdessen wandte sie sich dem hinteren Teil des
Clubs zu. Am Ende des Flurs befand sich ein Vorratsraum, dessen
Türschloss sehr stabil wirkte. Da konnte sie sich verstecken, bis
einer der Rausschmeißer sie hinter der Bar vermisste. Sollten die
sich mit dem wahnsinnigen Stalker herumschlagen, schließlich
gehörte das zu ihrer Stellenbeschreibung.
Da sie sich so sehr auf die Verfolgungsgeräusche
von hinten konzentrierte, bemerkte Darcy nicht die dichten
Schatten, die sich ihr von vorne näherten. Bis sich einer von ihnen
direkt in ihren Weg stellte. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf
ein bildschönes bronzefarbenes Gesicht und kalte schwarze Augen,
bevor der fremde Mann ein einziges Wort sagte, sie zu Boden fiel
und die Dunkelheit sie verschlang.