KAPITEL 11
Es war schon fast Morgen,
als Darcy den Wintergarten verließ und in die Küche ging. Sie hatte
Styx nicht mehr zu Gesicht bekommen, seit er durch seine
Bittsteller weggerufen worden war, und konnte nur vermuten, dass er
noch immer Gespräche mit ihnen führte.
Eine Weile hatte sie das Wissen bedauert, dass sie
Styx nicht dabei zusehen konnte, wie er König spielte. Sie
zweifelte nicht daran, dass er sehr imposant aussah, wenn er über
diejenigen Recht sprach, die unter ihm standen. Ein stolzer
Krieger, der auf seinem Königsthron saß. Aber dann hatte sich doch
ihr gesunder Menschenverstand durchgesetzt. Sie wusste nicht viel
über Vampirjustiz, aber sie war sich ziemlich sicher, dass sie
weder Kuschelsitzungen bei einem Psychologen noch irgendeine Art
von gemeinnütziger Arbeit beinhaltete. Es war mehr als
wahrscheinlich, dass sie eher aus Schwertern, Blut und schneller
Vergeltung bestand. Und das war überhaupt nicht ihr Ding.
Darcy ging in die Küche, nahm einen Apfel aus einem
der Körbe und drehte sich abrupt um, als die Tür, die nach draußen
führte, aufgestoßen wurde und Levet hereinwatschelte. Er murmelte
Flüche vor sich hin.
Sie zitterte leicht, als die eisige Luft
hereinströmte. »Großer Gott, Sie sehen durchgefroren aus!«, meinte
sie
und machte sich daran, die Tür zu schließen. So sehr sie den
Schnee auch liebte, sie wollte nicht, dass die Küche voll davon
war.
»Das liegt ohne Zweifel daran, dass ich
durchgefroren bin«, murmelte Levet. Er schüttelte seine Flügel aus,
um sich von dem daran haftenden Eis zu befreien. »Ich habe keine
geringere Absicht, als diesen widerwärtigen Vampir in einen
Gefrierschrank zu stecken, und zu sehen, ob es ihm gefällt, ein
dämonisches Eis am Stiel zu sein!«
Darcy griff nach einem Handtuch und fing an, die
raue graue Haut vorsichtig abzutrocknen. »Styx hat Sie wieder
rausgeschickt?«
»Meinen Sie, ich würde freiwillig durch den Schnee
stapfen?«
»Warum macht er denn so was?«, fragte Darcy wütend.
Was dachte sich Styx nur dabei?! Der arme Gargyle war fast blau vor
Kälte.
»Oh …« Ein merkwürdig zurückhaltender Ausdruck
spiegelte sich auf dem pummeligen Gesicht. »Nur eine kleine
Besorgung. Wo ist denn der Herr und Meister?«
»Er sitzt auf seinem Thron.«
Levet blinzelte erstaunt. »Ich fürchte mich, auch
nur zu fragen, was Sie damit meinen.«
Mit einem Kichern warf Darcy das Handtuch beiseite.
»Er verschafft ein paar Vampiren Gerechtigkeit, die gerade gekommen
sind.«
»Sacrebleu. Das sieht dem
Vampir ähnlich, mich zuerst in den Schnee hinauszuschicken und dann
zu erwarten, dass ich mir die Beine in den Bauch stehe, bis er
bereit ist, mich zu empfangen.«
Darcy beobachtete, wie der Gargyle auf den Tisch
zustampfte, und bemerkte den großen Umschlag, den er in
der Hand hielt. Eine seltsame Kälte stieg ihr den Rücken hoch.
Offenbar hatte er Informationen für Styx. Informationen, die
durchaus mit ihr zu tun haben konnten. »Sie haben mir immer noch
nicht erzählt, was Sie gemacht haben«, erinnerte sie ihr Gegenüber
sanft.
Levet überlegte einen Moment mit besorgter Miene.
»Ich bin mir nicht sicher, ob es Ihrem Entführer recht wäre, wenn
ich Ihnen mitteilte, was ich herausgefunden habe.«
»Und?«
Es folgte noch eine Pause, aber dann lächelte der
Gargyle plötzlich. »Und daher erzähle ich Ihnen gern, was auch
immer Sie wissen möchten!«
Darcy erwiderte das Lächeln. Sie hatte von Anfang
an gewusst, dass sie diesen winzigen Dämon mögen würde.
»Erzählen Sie mir, wo Sie gewesen sind«, bat sie
ihn.
Ein Anflug von Selbstgefälligkeit zeigte sich in
Levets Zügen. »Während Ihr tapferer Krieger sich von seiner
tödlichen Verwundung erholte, gelang es mir, mich in das Versteck
der Werwölfe zu schleichen.«
Sie hatte es doch gewusst! Darcy schaffte es,
angemessen beeindruckt auszusehen. »Wie mutig von Ihnen!«
Levet flatterte mit den Flügeln. »Nun ja, ich habe
den Ruf, erstaunlich tapfer zu sein, wenn die Situation es
erfordert.«
»Ich kann verstehen, warum.« Darcys Blick glitt zu
dem Umschlag in seiner Hand. »Haben Sie denn etwas Wertvolles
gefunden?«
»Es ist mit Sicherheit faszinierend.«
»Kann ich es sehen?« Sie streckte die Hand aus und
war überrascht, als er zögerte. »Levet?«
Er seufzte grollend auf. »Ich nehme an, Sie müssen
sie
irgendwann zu Gesicht bekommen, auch wenn ohne Zweifel meine
männlichen Teile abgemeißelt sein werden, wenn ich erwache.«
Das Kältegefühl wanderte in Darcys Magengrube. Sie
konnte sich nicht vorstellen, was die Werwölfe besessen haben
sollten, was sie betraf. Und sie musste zugeben, dass ein kleiner
Teil von ihr sich ziemlich unbehaglich fühlte. Aber sie musste es
trotzdem wissen. Sie musste einfach. »Was ist es?«, flüsterte
sie.
Mit einer unbeholfenen Bewegung schob der Gargyle
den Umschlag in ihre Hand.
Darcy setzte sich auf einen der Holzstühle, die um
den Tisch herumstanden. Das schien eine kluge Vorsichtsmaßnahme zu
sein, da ihre Knie jetzt schon weich waren. Nachdem sie den
Umschlag geöffnet hatte, zog sie einen ganzen Stapel Fotografien
heraus und verteilte die Bilder auf dem Tisch.
»O Gott«, keuchte sie und verengte die Augen zu
Schlitzen, als sie die zahlreichen Fotos betrachtete. Auf allen war
sie selbst zu sehen, und alle stammten aus den vergangenen zwei
Wochen: Darcy im Lebensmittelgeschäft. Darcy im Park. Darcy in der
kleinen Wohnung (zum Glück in der Küche und nicht im Bad). Eine
Welle der Übelkeit wogte durch ihren Magen. »Sie haben mich
ausspioniert. Das ist einfach … unglaublich.«
»Es gibt noch mehr«, erklärte Levet leise.
Darcy blickte überrascht auf, als er ihr noch ein
Foto gab, das er versteckt gehalten hatte. Sie nahm das Bild in die
Hand und fühlte, wie ihr Herz einen heftigen Satz machte, als sie
sich die Frau mit dem langen hellblonden Haar und den grünen Augen
genau ansah. Wenn sie nicht deutlich längere Haare gehabt hätte,
hätte sie als Darcys
eineiiger Zwilling durchgehen können. »Mein Gott, sie sieht aus
wie ich!«, keuchte Darcy.
»Ja.«
»Sie muss eine Verwandte von mir sein.« Darcy
befeuchtete sich die mit einem Mal trockenen Lippen mit der Zunge,
während sie aufsah, um Levets vorsichtigem Blick zu begegnen.
»Vielleicht sogar … meine Mutter.«
Vollkommen überwältigt von dem Gefühl, dass die
ganze Welt sich plötzlich aus einem völlig neuen Blickwinkel
zeigte, bemerkte sie die große, schweigende Gestalt nicht einmal,
die jetzt den Raum betrat und sie mit suchendem Blick ansah. Eine
kühle Hand berührte sie an der Schulter.
»Darcy, was gibt es?«
Darcy fuhr leicht zusammen. Als sie den Kopf in den
Nacken legte, stellte sie fest, dass Styx direkt hinter ihrem Stuhl
stand.
Ihre Hand zitterte, als sie ihm das schockierende
Bild hinstreckte. »Sieh mal.«
Unerwarteterweise verhärteten sich seine Züge und
zeigten einen gefährlichen Ärger. »Woher stammt das Bild?«
Levet trat mit störrischer Miene vor. »Aus
Salvatores Versteck. Du hast zu mir gesagt, ich solle es
durchsuchen.«
Der Vampir fauchte leise und verärgert. »Und die
Dinge zu mir bringen, die du findest, nicht zu Darcy! Was zum
Teufel hast du dir dabei gedacht?«
Darcy blinzelte verwirrt, während der Gargyle
nervös mit den Flügeln flatterte. »Weshalb sollte sie sie nicht zu
Gesicht bekommen? Schließlich betreffen die Bilder sie.«
»Natürlich betreffen sie mich!«, sagte Darcy und
stand auf. Sie verstand Styx’ merkwürdige Reaktion nicht, doch
im Moment war sie zu überwältigt, um lange darüber nachzudenken.
Nichts spielte eine Rolle außer dem Bild. »Das ist … ich weiß
nicht. Ich muss mit Salvatore sprechen.«
»Das kommt nicht infrage!«
Darcy drückte das Kreuz durch und funkelte wütend
den Vampir an, der über ihr aufragte. Zum ersten Mal bemerkte sie
die elegante Robe, die er trug. Sie war ohne Zweifel ein Symbol
seiner Amtsgewalt. Ein Symbol, das ihm offensichtlich zu Kopf
gestiegen war, wenn er dachte, sie herumkommandieren zu können, als
sei sie einer seiner Vampirlakaien!
»Das kommt sehr wohl infrage!« Sie schwenkte das
Bild unter seiner arroganten Nase hin und her. »Verstehst du, was
das hier bedeutet? Ich habe … eine Familie! Und der Werwolf weiß,
wo sie ist.«
So schnell, dass sie es nur verschwommen wahrnahm,
hatte er ihr das Bild aus den Fingern gerissen und starrte sie mit
glühenden schwarzen Augen an. »Und was, wenn es sich dabei
lediglich um einen Trick handelt?«
Darcy wich instinktiv vor der prickelnden Macht
zurück, die in der Luft um ihn herum schimmerte. »Was meinst du
damit?«
»Salvatore will dich unbedingt in seine Gewalt
bekommen. Denkst du, er würde nicht auf jedes beliebige Mittel
zurückgreifen, um dich in seine Fänge zu locken?«
Etwas wie Enttäuschung zog Darcy das Herz zusammen.
Vielleicht war es ja verständlich, dass Styx alles, was aus den
Händen der Werwölfe kam, mit Misstrauen behandelte, aber er konnte
doch wenigstens versuchen, ihre Aufregung zu verstehen. Sie hatte
dreißig Jahre lang auf einen Moment wie diesen gewartet!
»Das ist kein Trick.« Sie zeigte auf das Bild in
seiner Hand. »Wer auch immer diese Frau ist, sie sieht aus wie ich.
Sie sieht mir so ähnlich, dass sie meine Mutter sein könnte.«
»Darcy …« Styx streckte die Hand aus, wie um ihre
Wange zu streicheln, aber Darcy zuckte zurück. Sie würde sich von
seiner zärtlichen Liebkosung nicht ablenken lassen. Das hier war zu
wichtig. »Nein. Ich muss es wissen!«
Ungeduld zeigte sich auf seinem schönen Gesicht,
bevor es ihm gelang, die kühle Kontrolle wiederzuerlangen, die man
von ihm kannte. »Dann werden wir die Wahrheit herausfinden«,
erklärte er mit düsterer Autorität.
»Und wie?«
Er straffte die Schultern. »Ich werde mich selbst
an Salvatore wenden.«
Darcy verdrehte die Augen. »Super, weil das ja beim
letzten Mal auch so toll geklappt hat!«
Ein leichtes Aufblitzen seiner Fangzähne war zu
erkennen. Es gefiel ihm nicht, daran erinnert zu werden, dass
Salvatore auch nur ein Mal die Oberhand über ihn gewonnen
hatte.
»Ich wurde unvorbereitet überrascht. Ich versichere
dir, das wird nicht noch einmal geschehen.«
Darcy glaubte ihm. Er würde den Rassewolf eher
töten, als dass er sich noch einmal demütigen lassen würde. Was ihr
Vertrauen in seine Fähigkeit, die Wahrheit über sie herauszufinden,
nicht gerade größer machte. Von einem toten Wolf waren keine
Antworten zu bekommen.
»Vielleicht nicht, aber Salvatore wird wohl kaum
seinem Todfeind irgendwelche Fragen beantworten, oder?«
»Doch, das wird er tun, wenn er weiß, was gut für
ihn ist.«
»Oh, um Gottes willen, du kannst doch nicht die
Wahrheit aus ihm herausprügeln!«, fuhr sie ihn an. Ihr
üblicherweise so sonniges Gemüt war mittlerweile überstrapaziert.
»Es ist wesentlich sinnvoller, wenn ich ihn ausfrage. Das hier ist
vielleicht der Grund, warum er nach mir sucht. Vielleicht hat diese
Frau ihn bezahlt, damit er mich findet!«
»Oder sie befindet sich bereits in seiner Gewalt«,
erwiderte Styx finster.
»Was?« Darcy presste eine Hand auf ihr Herz. Der
Gedanke daran, dass die unbekannte Frau vielleicht von den
Werwölfen festgehalten wurde, reichte aus, um sie in Panik zu
versetzen. »Lieber Gott! Wir müssen etwas tun.«
»Ich habe dir bereits das Versprechen gegeben, mich
darum zu kümmern, Darcy. Überlass diese Angelegenheit mir.«
Sie holte tief Luft. Er war wirklich der
halsstarrigste Vampir, den es je gegeben hatte! »Wenn du darauf
bestehst, daran beteiligt zu sein, ist das schön und gut, aber ich
werde diejenige sein, die Salvatore gegenübertritt!«
In den dunklen Augen blitzte eine Warnung auf.
»Diese Entscheidung steht dir nicht zu.«
»Ich mache sie zu meiner Entscheidung! Ich lasse es
nicht zu, dass du diese Frau in Gefahr bringst, weil du die
Werwölfe bestrafen willst!«
Darcy hatte alles vorgebracht, was ihr auf dem
Herzen lag. Sie hatte ihren Entschluss gefasst, und damit war die
Sache erledigt. Mit festen Schritten ging sie auf die Tür zu.
»Wohin gehst du?«, knurrte Styx hinter ihr.
»Ich will mich umziehen.«
Styx beobachtete mit ohnmächtigem Zorn, wie Darcy
aus dem Zimmer stolzierte. Es war ihm gelungen, diese
Angelegenheit mit ganz erstaunlichem Erfolg zu vermasseln.
Doch natürlich war es nicht allein sein Fehler. Er
wirbelte herum und deutete direkt auf den winzigen Dämon, der sich
hinter einem der Holzstühle zu verstecken versuchte.
»Du!«, keuchte er in einem gefährlichen Tonfall,
»Das ist alles deine Schuld!«
Mit einiger Mühe hob der Gargyle den Blick. »Du
darfst die Schuld nicht dem Boten in die Schuhe schieben.
Schließlich bist du derjenige, der mich in dieses verdammte
Versteck geschickt hat. Ich hätte getötet werden können!«
Wie schade, dass das nicht passiert ist, dachte
Styx.
Er war hergekommen, um Darcy zu suchen, weil er
gehofft hatte, den Rest der schwindenden Nacht in ihren Armen
verbringen zu können. Er brauchte ihre sanfte Berührung, nachdem er
Stunden damit zugebracht hatte, sich mit zwei anstrengenden
Vampiren zu befassen, die erwartet hatten, dass er wie von
Zauberhand ihre Probleme löste.
Nun schien es, als sei die Aussicht auf
irgendwelche sanften Berührungen vorerst dahin.
»Stattdessen kehrst du mit Bildern zurück, die
Darcy zwangsläufig in die Arme ihrer Feinde treiben«!, knurrte er
wieder den Gargylen an.
Levets Augen verengten sich. »Ich würde sagen, sie
befindet sich bereits in den Armen ihrer Feinde.«
»Gib nur acht, Gargyle!«
»Kannst du meinen Vorwurf bestreiten?« Der kleine
Dämon tauchte mit zuckendem Schwanz hinter dem
Stuhl auf. »Du bist derjenige, der sie entführt hat. Du bist
derjenige, der sie gefangen hält. Du bist derjenige, der sie
benutzt, um seine eigenen Ziele zu erreichen!«
Styx ballte die Hände zu Fäusten. Wie gerne hätte
er den Gargylen gewürgt, bis er zur Hölle gefahren wäre! Er musste
nicht daran erinnert werden, dass er in dieser absurden Farce der
Bösewicht war.
»Salvatore ist derjenige, um den man sich Sorgen
machen muss, du Dummkopf! Er hat eine Menge Zeit und Mühe
investiert, um Darcy in seine Gewalt zu bekommen.«
»Du hast noch immer keinen Beweis, dass er die
Absicht hat, ihr zu schaden.«
»Und keinen Beweis, dass er nicht diese Absicht
hat.« Überwältigt von dem Drang, jemanden zu schlagen, zu beißen
oder zu töten, durchmaß Styx die große Küche mit seinen Schritten,
doch er kam sich lächerlich dabei vor. Er lief niemals ziellos hin
und her. Das war ein Anzeichen eines kranken Geistes.
Er zwang sich selbst, stehen zu bleiben, und sah
den lästigen Dämon mit einem kalten Blick an. »Ist es dein Wunsch,
einem Werwolf zu vertrauen, der bereits bewiesen hat, dass er keine
Achtung vor den Gesetzen hat, die ihn binden?«
»Ich möchte mein Vertrauen weder in Vampire noch in
Werwölfe setzen«, murmelte Levet. »Beide sind berüchtigt dafür, auf
gerissene Art jede Situation zu ihrem eigenen Vorteil zu
wenden.«
»Wenn Darcy verletzt wird, werde ich dich
persönlich zur Rechenschaft ziehen!«, warnte ihn Styx. »Du hättest
ihr niemals dieses Bild zeigen dürfen!«
»Du hättest es ihr vorenthalten?«
»Natürlich!« Styx drehte sich förmlich der Magen
um,
als er sich die zarte Hoffnung ins Gedächtnis rief, die in den
schönen grünen Augen geschimmert hatte. Er konnte es nicht
ertragen, dass dieser Bastard Salvatore Darcys Verletzlichkeit
ausnutzte, um ihr etwas anzutun. »Es war sinnlos, sie zu
beunruhigen!«
Levet forschte mit offenem Argwohn in Styx’
Gesicht. »Obwohl du weißt, dass es ihr möglicherweise das bietet,
was sie sich mehr als irgendetwas anderes auf dieser Welt
wünscht?«
Styx ging mit schonungsloser Gründlichkeit über die
Worte des Gargylen hinweg. Salvatore war ein raffinierter Feind,
der sich auf jedes Niveau herablassen würde, um Darcy aus dem
sicheren Versteck zu locken! Aber was, wenn das nicht seine
Beweggründe waren?
Ein düsteres Gefühl der Furcht erfüllte Styx’ Herz.
Im Augenblick war Darcy sein einziges Druckmittel, um das Rudel
ohne Blutvergießen zur Rückkehr in seine Jagdgründe zu zwingen. Er
brauchte sie und durfte sie nicht gehen lassen.
»Wir wissen bis jetzt noch nichts Genaues«, meinte
er schließlich steif.
»Wenn diese Frau ihre Mutter ist …«, begann Levet,
hielt jedoch inne, als Styx ihn mit einem tödlichen Blick
durchbohrte.
»Das reicht! Wir werden später darüber sprechen.
Erst einmal muss ich versuchen, Darcy zu überzeugen, dass sie
Salvatore nicht in seine verdammungswürdige Falle geht.«
Darcy war erstaunt festzustellen, dass ihre Hände
zitterten, als sie eine saubere Jeanshose und einen weichen grünen
Pullover anzog. Sie sah verwundert auf sie herab. Himmel!
Im Lauf der Jahre hatte sie es ertragen müssen, als
Freak
bezeichnet zu werden, hatte ein Dutzend Pflegefamilien wieder
verlassen müssen und hatte auf der Straße gelebt, bis sie
schließlich wenigstens genug Geld verdient hatte, um sich eine
Wohnung leisten zu können.
In der vergangenen Woche war sie von einem Werwolf
verfolgt und von einem Vampir entführt worden. Das alles reichte
aus, um sogar der coolsten, ruhigsten und gelassensten Frau einen
Nervenzusammenbruch zu bescheren. Aber nichts, gar nichts, hatte sie so sehr erschüttert wie dieses
Foto.
Darcy presste eine Hand auf ihren zitternden Magen
und zwang sich, mehrmals tief Atem zu holen. Sie musste Salvatore
finden und die Identität der Frau klären! Er hatte die Antworten
auf die Fragen, die sie schon viel zu lange quälten.
Sie war gerade damit fertig, sich ihre Lederstiefel
anzuziehen, als plötzlich die Tür zu ihrem Zimmer aufflog und Styx
mit distanzierter Miene auf sie zukam.
Sie stemmte die Hände in die Hüften und weigerte
sich zurückzuzucken, als er nur wenige Zentimeter vor ihrem
angespannten Körper anhielt. Er überragte sie und hätte genügend
Kraft besessen, um sie mit einer Hand zu zerquetschen. Und dann gab
es da noch die verdammten Vampirzähne, mit denen er sie aussaugen
konnte … Und trotzdem hatte Darcy keine Angst. Nicht einmal, als er
sie am Arm packte.
»Darcy, wir müssen miteinander reden!«, befahl er
leise.
»Nein!« Sie sah ihm direkt in die Augen. »Ich werde
darüber nicht diskutieren, Styx. Ich muss die Wahrheit
erfahren!«
»Und du traust mir nicht zu, dass ich für dich die
Wahrheit herausfinde?«
»Ich glaube, dass du immer das tun wirst, was für
dein Volk das Beste ist«, antwortete sie ausweichend. Ob Vampir
oder nicht, Styx besaß den typischen Stolz eines jeden Mannes. Es
schien nicht der richtige Zeitpunkt zu sein, diesen zu verletzen.
»Und du musst zugeben, dass das Beste für dein Volk nicht unbedingt
das Beste für mich sein muss! Das hier ist etwas, was nur mich
etwas angeht. Ganz allein.«
Er sah aus, als habe sie ihm einen Schlag ins
Gesicht verpasst. »Ganz allein?«
»Styx, das ist wichtig für mich!«, entgegnete
Darcy. Dabei zitterte ihre Stimme, so verzweifelt war das
Bedürfnis. »Ich habe mein ganzes Leben mit Fragen und Suchen
verbracht! Wenn es da draußen jemanden gibt, der Antworten hat,
dann muss ich ihn finden. Das kannst du doch sicher verstehen,
oder?«
Styx ließ die erhobene Hand sinken, drehte sich um
und schritt auf das dunkle Fenster zu. Darcy wunderte sich über die
Starre in seinen Schultern und die unverkennbare Anspannung, die in
der Luft lag.
»Du scheinst eine relevante Tatsache vergessen zu
haben, mein Engel«, erwiderte er, wobei seine Stimme seltsam belegt
klang.
Darcy erschauderte. Sie hatte eine böse Vorahnung.
»Und welche?«
»Im Augenblick bist du meine Gefangene.«
Ihr Herz drohte stehen zu bleiben, und sie ballte
ihre Hände zu Fäusten. »Du wirst mich davon abhalten, mit Salvatore
zu sprechen?«
»Ich werde natürlich dafür sorgen, dass du in
Sicherheit bist.«
»Und was ist mit der Frau?«, fragte sie. »Was ist,
wenn
sie verschwindet, bevor ich mit ihr sprechen kann? Was, wenn
Salvatore ihr etwas tut?«
Styx drehte sich langsam um. Auf seinem schönen
Gesicht lag ein Ausdruck, der nicht zu entziffern war. »Ich
verstehe, dass du aufgebracht bist.«
Darcy rang nach Luft. Nein, nein, nein! Das hier
konnte einfach nicht wahr sein. Nicht, wenn das Rätsels Lösung so
nahe war. Nicht einmal ein Vampir konnte so kaltherzig sein.
»Natürlich bin ich aufgebracht! Ich habe mein
ganzes Leben auf diese Chance gewartet! Ich kann sie mir nicht
durch die Lappen gehen lassen.« Entschieden fuhr sie fort: »Und ich
werde sie mir nicht durch die Lappen gehen
lassen!«
»Und ich werde dir nicht gestatten, dich in Gefahr
zu begeben, während du so überreizt bist!«, brachte Styx zwischen
zusammengebissenen Zähnen hervor. »Salvatore ist ein gefährlicher
Rassewolf, kein armseliger Mensch, den du mit einem Klimpern deiner
Wimpern und einem einnehmenden Lächeln beeinflussen kannst! Er
könnte dich töten, ohne weiter darüber nachzudenken.«
Sie konnte nicht aufhören, viel zu wütend, um sich
Gedanken darüber zu machen, dass in seinen Augen ein gefährliches
Feuer glühte. »Wage es ja nicht, mich so herablassend zu
behandeln!«, stieß sie bebend hervor.
Einen Moment lang wurde das Kribbeln, das in der
Luft lag, fast schmerzhaft. Darcy rieb sich instinktiv mit den
Händen über die Arme, als Styx’ Macht um sie herum aufloderte. Dann
nahmen seine Züge ohne Vorwarnung einen Ausdruck von eisiger Kälte
an.
»Ich habe meine Entscheidung getroffen, Darcy. Ich
werde tun, was auch immer mir möglich ist, um herauszufinden,
wer diese Frau sein kann, und du bleibst hier. Ist das
klar?«
Sie machte bewusst einen Schritt nach hinten, und
ihre Miene war so kalt und unerbittlich wie seine. »Kristallklar!«,
gab sie zurück. »Dürfte ich jetzt um etwas Privatsphäre
bitten?«
Etwas, was vielleicht Reue war, blitzte in seinen
Augen auf, als er die Hand hob, um sie leicht zu berühren. »Mein
Engel, ich möchte dich nicht aufregen, aber du musst verstehen, ich
kann nicht riskieren, dass Salvatore dich in seine Gewalt
bekommt!«
Sie schüttelte seine Hand ab und weigerte sich,
sich durch seine sanfte, verführerische Stimme umstimmen zu lassen.
So sehr sie Styx auch für seine Hingabe an sein Volk respektierte,
in diesem Moment war er ihr Entführer, nicht ihr Geliebter! Er
stand zwischen ihr und der Wahrheit, nach der sie so verzweifelt
suchte.
»Du hast es sehr deutlich gemacht, dass du deine …
Trumpfkarte für die Verhandlungen nicht aufs Spiel setzen willst,
Styx.« Sie warf einen betonten Blick auf die Tür. »Gehst du jetzt,
oder habe ich das Recht verloren, ein paar Minuten für mich allein
zu haben?«
Völlige Stille trat ein, und Darcy befürchtete,
dass Styx sich tatsächlich weigern würde zu gehen. Sie konnte
fühlen, wie er ihrem abgewandten Profil einen wilden Blick zuwarf,
als versuchte er ihre düsteren Gedanken zu lesen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit stieß Styx
schließlich einen schwachen Seufzer aus. »Vielleicht ist es besser,
darüber zu sprechen, sobald du dich beruhigt hast«, entgegnete er
widerstrebend. Er wandte sich zur Tür und blieb dann stehen, um
noch einmal zurückzuschauen. »Ich bin
nicht dein Feind, Darcy. Wenn du mir nur vertrauen würdest, würde
ich es dir beweisen.«
Mit diesen Worten verließ er den Raum und es blieb
nur ein Hauch seines exotischen, männlichen Duftes zurück.
Darcy schloss die Augen. Wenn
du mir nur vertrauen würdest …
Dabei vertraute sie ihm doch! Was zweifellos nur
die Meinung der Leute bestätigte, dass sie völlig irre war. Welche
Frau mit Verstand würde je einem tödlichen Raubtier der Nacht
vertrauen? Aber genauso groß wie dieses Vertrauen war auch das
unerschütterliche Wissen, dass Styx viel zu ehrenhaft war, um seine
Verpflichtungen zu vergessen. Er würde tun, was auch immer er tun
musste. Und sie auch.
Darcy ignorierte den merkwürdigen Schmerz in ihrer
Herzregion, ging in das angrenzende Badezimmer und schloss die Tür.
Als Levet so nett gewesen war, ihre Kleidung zu holen, hatte er
auch ihr Mobiltelefon und ein kleines Bündel Geldscheine
mitgebracht, das sie zu Hause immer in ihrer Sockenschublade
versteckt hatte. Beides hatte sie klugerweise sofort zwischen die
Handtücher unter dem Waschbecken gesteckt. Als hätte sie gewusst,
dass sie vielleicht irgendwann aus ihrem luxuriösen Gefängnis würde
fliehen müssen. Und dass Styx es ihr nicht leicht machen
würde.
Sie drückte das Handy an ihre Brust, während sie
darüber nachdachte, wer ihr helfen konnte. Nicht die Polizei. Die
würden sie in eine Zwangsjacke stecken, wenn sie sie zu überzeugen
versuchte, dass sie von einem Vampir entführt worden war,
vorausgesetzt, dass Styx und die Raben den Polizisten nicht vorher
schon etwas Schreckliches
antun würden, wenn sie auch nur versuchten, das Anwesen zu
betreten.
Das Gleiche galt für ihre wenigen Freundinnen und
Freunde.
Sie durfte sie nicht in Gefahr bringen, indem sie
sie in ihre Schwierigkeiten hineinzog. Eine Familie gab es nicht.
Also blieb ihr … niemand.
Sie biss die Zähne fest zusammen und kämpfte gegen
die düsteren Gedanken an, während sie über den gefliesten Fußboden
wanderte. Es gab sicher jemanden, der ihr helfen konnte! Es musste
einfach jemanden geben!
Sie blieb abrupt stehen, als ihr unerwartet ein
Einfall kam. Shay. Die schöne Dämonin hatte mehr als deutlich
gemacht, dass sie bereit und willens war, Darcy bei allem zu
helfen, was immer es auch sein mochte. Und was noch wichtiger war:
Sie fürchtete sich nicht vor Styx und seinen Raben. Wenn sie nur
herausfinden könnte, wie sie an Shays Telefonnummer kam …
»Darcy.«
Das Mobiltelefon fiel ihr aus den Händen, als Darcy
merkte, dass Styx vollkommen lautlos zurückgekehrt war und das Bad
betreten hatte.
»Mist«, keuchte sie, und ihr Herz schlug
schmerzhaft bis zum Hals. »Was zum Henker machst du hier? Ich habe
dir doch gesagt …«
Ihre panikerfüllten Worte brachen jäh ab, als er
ihr einen schlanken Finger auf die Lippen legte. »Pst. Du sollst
dir keine Sorgen machen, mein Engel, alles wird gut«, murmelte er
sanft.
Sie runzelte die Stirn, als seine Finger ihr Kinn
umfassten und er den Kopf senkte, um ihr tief in die aufgerissenen
Augen zu blicken.
»Styx?«, japste sie, als ein sehr seltsames Gefühl
von Frieden sie überkam. Sie konnte nichts außer seinen schwarzen
Augen sehen und nichts außer seiner weichen, überzeugenden Stimme
hören.
»Du bist sehr müde, Darcy«, besänftigte er sie. »Du
musst die Schwierigkeiten dieser Nacht vergessen. Vergiss, dass
Levet von Salvatore zurückgekehrt ist.Vergiss die Bilder.«
Ihre Augen schlossen sich zitternd, obwohl sie
gegen den dunklen Zwang ankämpfte. »Aber …«
»Vergiss, Darcy«, flüsterte er. »Schlafe
nun.«
Und sie schlief ein.
Viper schüttelte den Kopf, als er das kleine Foto
studierte.
»Die Ähnlichkeit ist bemerkenswert«, stimmte er zu
und hob den Kopf, um Styx zu beobachten, der in dem kleinen Büro
von Vipers Club in der Stadtmitte auf- und ablief. »Und Darcy weiß
nichts über diese Frau?«
»Nichts.« Styx zwang sich, neben dem Schreibtisch
mit den eleganten Schnörkeln im Stil Ludwigs XIV. anzuhalten, der
perfekt zu dem Rest der zierlichen französischen Möbel
passte.
Bei den Göttern, er war in der vergangenen Woche
mehr herumgelaufen, als er es seit einem Jahrtausend getan hatte!
Und alles wegen Darcy Smith. »Sie war … beunruhigt von den Bildern.
Insbesondere, nachdem Levet töricht genug war zuzugeben, dass er
sie in Salvatores Tresor entdeckt hatte.«
Viper erhob sich langsam und forschte neugierig in
Styx’ Gesicht. »Beunruhigt? Was meinst du damit?«
Styx presste die Lippen zusammen, als der Gedanke
an Darcy, wie sie in tiefem Schlaf in ihrem Bett lag, ihm einen
jähen Stich verpasste.
Er hatte ihr kein Leid zugefügt. Vielmehr hatte er
sie vor ihrer eigenen Dummheit gerettet. Verdammt noch mal, sie war
fest entschlossen gewesen, Salvatore mit offenen Augen in die Arme
zu laufen und so seinem hinterhältigen Plan zum Opfer zu fallen!
Alles, was er getan hatte, war, dafür zu sorgen, dass sie an diesem
Abend erwachen würde, ohne sich an die Ereignisse der letzten
vierundzwanzig Stunden zu erinnern. Sie würde in seiner Obhut sein,
wo sie hingehörte.
Weshalb hatte er dann das Gefühl, als habe er die
einzige Frau verraten, die je in sein langweiliges Leben voller
Verpflichtungen etwas ganz Neues gebracht hatte?
Viper räusperte sich. »Styx?«
Styx zog geistesabwesend an dem Amulett um seinen
Hals.
»Wie alle Menschen neigt sie dazu, voreilige
Schlüsse zu ziehen. Sie ist vollkommen überzeugt davon, dass diese
Frau blutsverwandt mit ihr ist, vielleicht sogar ihre
Mutter.«
Viper nickte. »Eine recht logische
Schlussfolgerung. Die Ähnlichkeit ist frappierend. Das kann kein
Zufall sein!«
Bei den Göttern, war Styx denn der Einzige, dem
noch ein Rest Verstand geblieben war? Widerstrebend antwortete er:
»Wir wissen noch nichts. Womöglich ist es nur ein raffinierter
Trick von Salvatore, um Darcy in sein Versteck zu locken.«
»Wohl kaum«, meinte Viper.
Styx verstummte. »Was meinst du damit?«
»Du sagtest, dass Levet die Bilder verborgen in
einem Tresor entdeckte?«
»Ja.«
»Wenn es die Absicht des Werwolfes gewesen wäre,
die Bilder dazu zu nutzen, Darcy in sein Versteck zu locken, hätte
er sie doch mitgebracht, als er sich ihr in der Bar näherte«,
erwiderte Viper ruhig. »Oder zumindest, als es ihm gelang, deine
Sicherheitsvorkehrungen zu umgehen und sie aufzusuchen. Er konnte
sie doch wohl kaum mit Fotos locken, die in einem Tresor
eingeschlossen waren.«
Styx war nicht dumm. Er hatte die eigenartige
Tatsache, dass Salvatore nicht versucht hatte, die Fotos schon
früher zu verwenden, durchaus bedacht. Doch schließlich war er zu
dem Schluss gekommen, dass die Gründe dafür nichts an der Situation
änderten. Zumindest nicht, soweit es Darcy betraf.
»Wer kann schon sagen, was in dem Kopf eines Hundes
vor sich geht?«, entgegnete er unwirsch.
»Das entspricht vermutlich der Wahrheit«, stimmte
Viper ihm zu, setzte aber sogleich nach: »Wie geht es Darcy?«
Styx drehte sich abrupt um, um das pastellfarbene
Aquarell zu betrachten, das die Wand zierte. »Ihr geht es
gut.«
Es folgte eine kurze Pause, und Styx wagte zu
hoffen, dass sein eisiger Tonfall den weiteren Fragen ein Ende
bereitet hätte. Dem war natürlich nicht so. Nur ein Holzpflock, der
auf sein Herz zielte, wäre in der Lage gewesen, Viper abzulenken,
wenn er sich erst einmal in etwas verbissen hatte.
»Du sagtest, sie sei durch die Fotos beunruhigt
gewesen«, insistierte er.
Styx zuckte zusammen, als er sich an die Hoffnung
erinnerte, die in Darcys Augen aufgeleuchtet war. »Mehr als nur
beunruhigt. Sie war entschlossen, sich zum Versteck
der Werwölfe durchzuschlagen und eine Erklärung zu verlangen!«,
schnarrte er.
»Das ist wohl weiter nicht überraschend. Shay
lehrte mich, dass Menschen ein starkes Bedürfnis nach Familie
besitzen. Sie scheint ihnen ein Gefühl des Trostes und der
Sicherheit zu vermitteln.«
Familie? Wozu benötigte Darcy eine Familie? Und
noch viel weniger brauchte sie eine Familie, die sich dann nicht um
sie kümmern konnte, wenn sie am dringendsten danach verlangte.
Überdies hatte sie doch nun ihn und seine Raben, die ihr Trost und
Sicherheit geben konnten.
»Darcy ist dabei alle in Gefahr zu bringen, sogar
sich selbst, nur wegen eines lächerlichen Bildes!«
»Für sie ist es anscheinend nicht so
lächerlich.«
Styx wandte den Kopf, um seinen Freund mit einem
wilden Blick zu durchbohren. »Ich gestatte nicht, dass sie auf
Salvatore reinfällt! Es steht zu vieles auf dem Spiel.«
»Du sprichst von dem Vertrag zwischen den Werwölfen
und den Vampiren?«
»Davon … und natürlich von Darcys eigener
Sicherheit.«
»Ah.« Viper verzog das Gesicht. »Natürlich.«
»Stimmt etwas nicht?«
»Ich nehme nicht an, dass Darcy im Augenblick
sonderlich glücklich über dich ist?«
Nun war es an Styx, das Gesicht zu verziehen. »Ganz
und gar nicht.«
»Du solltest sie besser genau im Auge behalten,
alter Freund!«, warnte ihn Viper. »Ich spüre, dass unter ihrem
süßen Lächeln ein eiserner Wille liegt. Wenn sie sich dazu
entschließen sollte, sich davonzuschleichen, wird es nicht leicht
sein, sie aufzuhalten.«
Styx schloss die Augen, als eine Woge der Qual ihm
fast den Magen umdrehte. »Das ist nicht zu befürchten.«
»Du bist dir deines Charmes sehr sicher.« »Es ist
nicht mein Charme, dessen ich mir sicher bin. Ich habe Schritte
unternommen, um dafür zu sorgen, dass sie nichts Übereiltes tun
wird.« Sein kalter Tonfall verriet keine der Emotionen, die ihn
quälten.
»Welche Art von Schritten?« Viper gab ein leises
Fauchen von sich. »Styx? Hast du ihr Gedächtnis verändert?«
Verdammt, warum klang Viper so schockiert? Vampire
taten diese Dinge seit Anbeginn der Zeit. »Es war die einzige
vernünftige Lösung.«
»Zum Teufel.« Viper schüttelte langsam den Kopf.
»Du spielst ein gefährliches Spiel.«
»Es ist kein Spiel.«
»Nein, es ist kein Spiel. Es ist eine Sache, einen Fremden in deinen Bann zu ziehen,
aber eine ganz andere, deine Kräfte auf eine Frau auszuüben, die du
in dein Bett geholt hast.«
Mit steifen Bewegungen nahm Styx seinen Umhang und
legte ihn um seine Schultern.
Er musste nicht daran erinnert werden, dass er
Darcys Vertrauen unverfroren ausgenutzt hatte. Oder daran, dass er,
während sie sich nicht an den vergangenen Abend erinnern würde, bis
in alle Ewigkeit von seiner Erinnerung gequält werden würde.
»Ich habe nur das getan, was notwendig war.«
Er hatte soeben die Tür erreicht, als Vipers sanfte
Worte ihn erreichten. »Vielleicht, doch wenn Darcy die Wahrheit
herausfindet, dann wirst du es bitter büßen.«