KAPITEL 14
Darcy wachte mit einem Krampf im Bein und einem schmerzhaft steifen Nacken auf. Offensichtlich waren Sportwagen dazu da, um darin herumzufahren und toll auszusehen, aber sie waren ziemlich ungeeignet für eine erschöpfte Frau, die ein paar Stunden Schlaf zu erhaschen versuchte.
Sie rieb sich den Hals, quälte sich aus dem Auto und sah sich in dem kleinen Park um, den sie sich ausgesucht hatte, um sich zu verstecken.
Es war eine der gepflegten Gartenanlagen, die nur in den elegantesten Gegenden zu finden waren, ein Ort, an dem sie nicht befürchten musste, angegriffen zu werden, während sie schlief. Wenigstens nicht von Menschen. Und da sie es geschafft hatte, die Art von Auto zu stehlen, die nur jemandem mit einem beträchtlichen Vermögen gehören konnte, hatte sich nicht einmal die Polizei die Mühe gemacht, sie zu stören.
Ihr knurrte der Magen, und sie seufzte, als sie sich an die leckeren Müsliriegel erinnerte, die sie in der von Gina mitgebrachten Tasche zurückgelassen hatte.
Verdammt. Diese dämliche Werwölfin hatte alles ruiniert! Wahrscheinlich bedauerte die Frau ihren Angriff mehr als Darcy selbst. Zumindest im Moment.
Darcy drehte sich beinahe der Magen um, als sie an den heftigen Zusammenstoß zurückdachte. Gott, die Frau war eindeutig verrückt gewesen! Wie um alles in der Welt konnte sie eifersüchtig sein, wenn Darcy doch kaum mit Salvatore gesprochen hatte? Vielleicht waren alle Werwölfe einfach verrückt.
Oder vielleicht bin ich auch die Verrückte, dachte Darcy dann. Welche Frau mit auch nur einem bisschen Verstand würde in diesem Park herumhängen, wenn sie stattdessen mit ihrem Wagen so weit von Chicago hätte wegfahren können, wie es nur ging?
Sie hatte schließlich öfter als sie zählen konnte, ihre Habseligkeiten gepackt und neu angefangen. Noch nie hatte es etwas gegeben, das sie irgendwo hätte halten können. Oder jemanden. Immer wieder: eine neue Stadt, ein neuer Job, ein neuer Anfang. Keine große Sache. Aber obwohl die Versuchung groß war, wusste sie, dass sie diesmal auf keinen Fall verschwinden würde. Nicht, bevor sie die Wahrheit über das Foto wusste.
Darcy presste eine Hand auf ihren knurrenden Magen. Sie wurde ganz still, als ein seltsames Prickeln ihr die kleinen Haare im Nacken zu Berge stehen ließ. Der Park schien ruhig unter seiner lockeren Schneedecke zu schlafen, aber sie wusste instinktiv, dass sie nicht mehr allein war. Jemand schlich zwischen den Bäumen in ihrer Nähe umher, der nicht annähernd menschlich war.
Darcy war spontan bereit zu fliehen, als plötzlich die elegante Gestalt Salvatores aus der Dunkelheit trat. Sie erkannte den massigen Riesen, der direkt hinter ihm aufragte, es war der Gleiche wie in der Nacht, in der sie zum ersten Mal an sie herangetreten waren. Der Muskelprotz trug sogar die gleiche Kleidung: T-Shirt und Jeans in Schwarz, als ob es fünfundzwanzig Grad plus statt minus zehn seien.
Salvatore trug natürlich wieder einen brandneuen unbezahlbaren Anzug. Dieser war anthrazitfarben und wurde durch ein Nadelstreifenhemd und eine schmale Seidenkrawatte ergänzt.
»Himmel«, keuchte sie und wich ruckartig zum Wagen zurück.
Salvatore, der sah, wie sie nach dem Türgriff tastete, machte einen schnellen Schritt auf sie zu und hielt eine Hand bittend hoch.
»Darcy, lauf nicht weg!«, verlangte er. Diesmal war sein Akzent durch die Dringlichkeit in seiner Stimme deutlicher zu erkennen. »Ich schwöre, ich bin nicht hier, um dir etwas anzutun.«
Sie verzog das Gesicht, da sie an ihre letzte Begegnung mit einem Werwolf dachte. »Und warum sollte ich Ihnen das glauben?«
»Weil du nichts tun könntest, um mich aufzuhalten, wenn ich dir Schaden zufügen wollte.«
Nun ja, er nannte das Kind beim Namen. »Und das soll beruhigend sein?«
Allmählich hoben sich seine Mundwinkel. »Eigentlich solltest du meine Beteuerungen nicht benötigen. Du hast bewiesen, dass du mehr als in der Lage bist, dich zu behaupten, falls es erforderlich ist.«
Sie zuckte zusammen. Der stolze Unterton in seiner Stimme gefiel ihr nicht. Großer Gott, das Letzte, was sie je gewollt hätte, war, dafür bewundert zu werden, dass sie eine andere Person verletzt hatte!
»Sie waren in der Lagerhalle?«
»Ja.«
»Ist die Frau … Geht es ihr gut?«
»Sie wird sich von ihren Verletzungen erholen.« In den dunklen, äußerst attraktiven Gesichtszügen gab es eine leichte Veränderung, als ob sich seine Emotionen unter seiner Haut abspielten, statt sich darauf abzuzeichnen. »Aber ob es ihr gut geht, ist noch vollkommen in der Schwebe. Ich muss noch eine Entscheidung darüber treffen, wie sie bestraft werden soll.«
Darcy gab sich keine Mühe, ihr Erstaunen zu unterdrücken. »Sie wollen sie bestrafen?«
Die goldenen Augen glühten im hellen Sonnenlicht.
Darcy kam zu dem Schluss, dass das mittags genauso unheimlich war wie um Mitternacht.
»Es gibt keine Alternative«, informierte er sie in einem Tonfall, der keine Kompromisse zuließ. »Sie widersetzte sich nicht nur meinen direkten Befehlen, sondern sie wagte es auch noch, dich anzugreifen. Das werde ich nicht tolerieren.«
»Wenn Sie mich fragen, ist sie gestraft genug«, murmelte Darcy. Natürlich mochte sie die Frau nicht, die versucht hatte, ihr den Kopf abzubeißen, aber sie weigerte sich dennoch, als Entschuldigung dafür herzuhalten, dass der Werwölfin noch mehr Schmerzen zugefügt wurden.
Salvatore seufzte leicht auf, während er sorgfältig die Manschetten seines sauber gebügelten Hemdes zurechtrückte. »Du musst wirklich dein sanftes Naturell überwinden, cara! In unserer Welt wird es andernfalls dafür sorgen, dass du getötet wirst.«
Darcy kniff die Augen zusammen. Sie würde sich hier doch nicht abkanzeln lassen wie ein Kind! Oder sich dafür entschuldigen, dass sie keine rachsüchtige Persönlichkeit war.
»Sie meinen wohl, in Ihrer Welt.«
»Nein, in unserer Welt.« Der Werwolf ließ eine strategische Pause entstehen und beobachtete ganz genau ihr Gesicht. »Du bist eine von uns, Darcy.«
Ihr Herz schlug heftig. »Eine Dämonin?«
Er öffnete die Lippen, als wolle er endlich ihre Fragen beantworten, aber dann warf er einen Blick auf den öffentlichen Park und schüttelte ungeduldig den Kopf. »Dies ist kein Ort für eine Unterhaltung. Wenn du mit mir kommst, werde ich dir alles erzählen.«
»Wir können hier sehr gut reden.«
»Du bist erstaunlich störrisch für so ein kleines Wesen«, murmelte er. »Das wird unser gemeinsames Leben sehr interessant gestalten.«
Gemeinsames Leben? So wie bei dem Nachsatz ›Und sie lebten glücklich bis an ihr seliges Ende‹? Himmel! Darcy drückte sich gegen das Auto, während sie Salvatore mit neuer Vorsicht beobachtete. »Moment mal, Chef, nicht so hastig!«, sagte sie.
»Chef?« Er wirkte merkwürdig gekränkt. »Ich bin ein König, kein Chef. Du wirst herausfinden, dass wir Werwölfe weitaus kultivierter sind als die Vampire, trotz unseres Rufes als Wilde.«
Darcy zeigte sich verblüfft über seinen offensichtlichen Ärger. »Ich würde Sie nie für einen Wilden halten. Nicht in einem Anzug für tausend Dollar.«
»Vielen Dank …« Er sah sie lange an.
»Das bedeutet allerdings nicht, dass ich die Absicht habe, mein Leben mit Ihnen zu verbringen.«
»Aber so wird es sein«, versicherte er ihr mit gesenkter Stimme, wobei ein heiserer Unterton seinen Worten eine gewisse Sinnlichkeit verlieh. »Es ist unsere Bestimmung.«
Darcy erzitterte. Ganz zweifellos besaß dieser Mann eine animalische Anziehungskraft. Selbst aus der Ferne schaffte er es, ihre Knie weich werden zu lassen. Aber sie war nicht an der rohen, verzehrenden Leidenschaft interessiert, die er ihr bot. Sie zog die sehnsüchtige Zärtlichkeit ihres Vampirs bei weitem vor.
Der Gedanke an Styx versetzte ihr einen unerwarteten Stich ins Herz. Auch wenn sie aus gutem Grund wütend auf ihn war, konnte sie nicht leugnen, dass sie ihn vermisste. Wenn er an ihrer Seite war, gab es keine Angst mehr.
»Ich glaube eigentlich nicht an Bestimmung. Ich möchte lieber glauben, dass ich selbst Einfluss auf mein Schicksal habe«, meinte sie, wobei sie ihren Oberkörper mit den Armen umschlang. Plötzlich fühlte sie sich völlig durchgefroren.
Der Rassewolf trat plötzlich unbehaglich von einem Fuß auf den anderen und sah sie mit einer merkwürdigen Wachsamkeit an.
»Darcy, cara, du wirst doch nicht weinen, oder?«
Sie schniefte und war überrascht, als sie bemerkte, dass sie tatsächlich kurz davorstand, in Tränen auszubrechen. Diese Erkenntnis wiederum stärkte ihr den Rücken, wie es nichts anderes hätte tun können. Verdammt! Sie würde doch keine Tränen wegen eines arroganten Vampirs vergießen! Nicht einmal wegen eines Vampirs, dem es gelungen war, sich in ihrem Herzen einzunisten.
»Es ist nichts.« Darcy schüttelte den Kopf. »Ich bin bloß müde und hungrig und habe Angst.«
Salvatore, der immer noch genervt durch den Gedanken zu sein schien, es mit einer weinenden Frau zu tun zu bekommen, räusperte sich.
»Ich fürchte, ich kann wenig an der Müdigkeit und der Angst ändern, aber ich bin durchaus willens, dich zu ernähren, wenn du es wünschst.« Er machte eine schroffe Handbewegung in Richtung seines Begleiters. »Fess!«
Der Schlägertyp eilte zu ihm und verbeugte sich tief. Das schwarze T-Shirt protestierte, aber es riss nicht auf, wie Darcy es schon fast erwartet hätte.
»Ja, Mylord?« Die Stimme klang rau, als ob er mehr Zeit mit Knurren als mit Sprechen verbrachte.
»Geh ins nächstliegende Restaurant, und hole Ms. Smith ein Mittagessen.« Die goldenen Augen glitten zu Darcy. »Bevorzugst du etwas Bestimmtes?«
Sie war zu hungrig, um sein Angebot auszuschlagen. Außerdem konnte sie nicht leugnen, dass sie durchaus erleichtert war, Fess loszuwerden. Er hatte einen wilden Blick, der sie ausgesprochen nervös machte. Als ob sie ein Schweinekotelett sei, das direkt über dem Maul eines tollwütigen Hundes baumelte.
»Kein Fleisch!«, sagte sie mit mehr Nachdruck, als eigentlich nötig gewesen wäre.
Beiden Männern klappte vor Erstaunen der Unterkiefer herunter. »Kein Fleisch?«, fragte Salvatore. »Ist das dein Ernst?«
»Warum sollte es nicht mein Ernst sein? Ich bin Vegetarierin.«
»Unmöglich«, keuchte Salvatore. Er war eindeutig schockiert.
»Was ist los?«, fragte sie. »Es gibt eine ganze Menge Leute, die kein Fleisch essen. Wissen Sie, es ist viel gesünder, Obst und Gemüse zu essen.«
»Aber nicht …« Der Rassewolf unterbrach sich abrupt, und seine Miene wurde undurchdringlich.
»Was?«
Er ignorierte ihre Frage und wandte sich an seinen Begleiter. »Fess, bring Ms. Smith etwas ohne Fleisch.«
Ein bedrohliches Knurren drang aus der Kehle des großen Mannes. »Mylord, ich denke, ich sollte Euch hier nicht allein lassen. Dies könnte eine Falle sein.«
Salvatore kniff die Augen zusammen. »Eine grandiose Falle, wenn man bedenkt, dass es heller Tag ist und nicht einmal der entschlossenste Vampir es wagen würde, aus seinem Versteck hervorzukriechen.«
»Vampire sind nicht die einzige Gefahr.«
»Das ist wahr, aber ich bin auch nicht gerade hilflos.«
»Dennoch denke ich, ich sollte bleiben.« Fess drehte den Kopf und zeigte Darcy die Zähne. »Ich traue dieser Frau nicht. Sie riecht nach Täuschung.«
»Hey …«, begann Darcy zu protestieren, brach aber keuchend ab, als Salvatore dem Mann ohne mit der Wimper zu zucken einen Schlag mit dem Handrücken verpasste. Der Mann jaulte erschrocken auf, fiel auf die Knie und drückte eine Hand auf seinen blutenden Mund.
»Diese Frau ist dazu bestimmt, deine Königin zu sein, Fess!«, erklärte Salvatore finster. »Und noch wichtiger ist die Tatsache, dass ich dich mehr als einmal gewarnt habe. Wenn ich deine Meinung hören möchte, werde ich danach fragen. Bis dahin wirst du ohne Wenn und Aber meinen Befehlen gehorchen. Klar?«
»Ja, Mylord.« Fess rappelte sich auf, machte eine Verbeugung und wich dann mit offensichtlicher Vorsicht zurück.
Darcy wartete ab, bis Fess zwischen den Bäumen verschwunden war. Dann seufzte sie tief. »Himmel.«
Salvatore bewegte sich geschmeidig auf sie zu und hielt erst an, als Darcy sich wegen seiner Nähe verkrampfte.
»Es tut mir leid, wenn er dir Angst eingejagt hat, cara«, beschwichtigte er sie. »Wolfstölen sind von Natur aus aufsässig, und Fess sogar noch mehr als die meisten. Das macht ihn zu einem Diener, der alles andere als zuverlässig ist.«
Darcy befeuchtete sich die plötzlich trockenen Lippen. »Er war nicht derjenige, der mir Angst eingejagt hat«, meinte sie langsam. »Schlagen Sie Ihre Bediensteten immer so?«
Er gab sich geduldig. »Wir sind Werwölfe, Darcy, keine Menschen. Und wie alle Dämonen sind wir gewalttätige Bestien. Wir respektieren Stärke. Ich bin nicht König, weil ich ein Rassewolf bin. Es ist meine Macht, die mich zu einem Anführer macht.«
Ein Kältegefühl erfasste ihr Herz. »Ich kann nicht glauben, dass alle Dämonen gewalttätig sind.«
»Vielleicht weisen einige wenige eine sanftere Natur auf, doch ich versichere dir, die meisten Dämonen verlassen sich auf rohe Gewalt. So ist unsere Welt nun mal.«
Darcy senkte den Blick, als ihr Magen sich vor Unbehagen zusammenzog. Sie wollte nicht glauben, dass sie dazu bestimmt war, zu einer wilden Bestie zu werden. Das lag ganz bestimmt nicht in ihrem Charakter, ganz egal, wie böse ihr Blut auch sein mochte. Sie würde es einfach nicht zulassen.
Darcy hob den Kopf und begegnete dem Blick aus den goldenen Augen. »Dann gefällt mir Ihre Welt nicht besonders!«
Salvatore runzelte die Stirn über ihre heftig hervorgestoßenen Worte. »Meinst du, Vampire seien anders?«
»Vielleicht nicht.« Sie sah ihm gerade in die Augen. »Aber ich habe noch nie befürchtet, dass Styx mich schlagen würde.«
»Ah.« Er forschte genau in ihrem Gesicht. »Und du meinst, ich würde das tun?«
»Sagen Sie es mir.«
»Ich würde dir nur dann Schmerzen zufügen, wenn du das wünschtest. Du bist meine Gefährtin, meine Königin. Wir sind gleichgestellt.«
Darcy kaute auf ihrer Unterlippe. Salvatore hatte schon zuvor Andeutungen gemacht und auf ein intimes Interesse an ihr angespielt, aber nicht so direkt. Sie konnte sich nur vorstellen, dass er sich einen Spaß auf ihre Kosten erlaubte.
»Na klar, ich und eine Königin, sehr witzig«, murmelte sie.
Er legte den Kopf zur Seite, um tief einzuatmen. Wahrscheinlich roch er, was sie dachte, was sie fühlte und was sie vor zwei Wochen zum Abendbrot gegessen hatte. Verdammte Dämonennasen!
Schließlich schüttelte er langsam den Kopf. »Es war nicht witzig gemeint.«
»Gut, denn es war auch nicht witzig!«, erwiderte sie. »Wie zum Henker könnte ich die Königin der Werwölfe sein, wenn ich ganz offensichtlich keine Werwölfin bin?«
In den goldenen Augen blitzte etwas auf, was vielleicht Bedauern war. »Auf diese Weise wollte ich dir nicht die Wahrheit sagen, cara. Du machst diese Angelegenheit schwieriger, als sie sein muss.«
O nein, nein, nein. Das Kältegefühl kehrte in Darcys Herz zurück. Ohne nachzudenken, machte sie plötzlich einige Schritte weg von dem Auto, um den nötigen Abstand zwischen sich und den drohend vor ihr aufragenden Werwolf zu bringen. Sie wusste nicht, was er sagen würde, aber sie vermutete, dass sie es nicht hören wollte.
»Dann sollten wir vielleicht das Thema wechseln!«, meinte sie mit scharfer Stimme. »Erzählen Sie mir von dem Foto! Wer ist diese Frau?«
Salvatore war klug genug, sie nicht zu verfolgen. Stattdessen lehnte er sich elegant an den Sportwagen. »Jemand, der sich sehr wünscht, dich zu treffen.«
»Warum ist sie dann nicht bei Ihnen?«
»Sie sollte morgen in Chicago eintreffen, allerspätestens übermorgen.«
Darcy blinzelte überrascht. Sie war gar nicht in Chicago? Sie war nicht in einem Kerker eingesperrt und wurde nicht gerade in diesem Augenblick gefoltert?
»Sie ist nicht … bei Ihnen?«
»Derzeit nicht. Sie war die vergangenen Wochen mit ihren eigenen Verpflichtungen beschäftigt, aber in dem Moment, als ich sie angerufen und ihr mitgeteilt habe, dass du Kontakt mit mir aufgenommen hast, ließ sie alles stehen und liegen, um hierherzueilen und bei dir zu sein.«
Darcy bemühte sich, ihre Gedanken neu zu ordnen. »Also ist sie nicht in Gefahr?«
»Natürlich nicht.« Er schaute irritiert, als er ihren verwirrten Gesichtsausdruck sah. »Stimmt etwas nicht?«
Nun ja, nichts weiter als die Tatsache, dass Darcy bei dem Gedanken völlig in Panik geraten war, möglicherweise ihre Mutter gefunden zu haben und Gefahr zu laufen, sie wieder zu verlieren. Und dass ihre Panik sie dazu gebracht hatte, vor Styx zu fliehen, sich einer eifersüchtigen Werwölfin auszusetzen, die fest entschlossen war, sie zu töten, Kraftfahrzeugdiebstahl zu begehen und jetzt in einem eisigen Park zu stehen, während ihr Magen vor Hunger knurrte. Aber sonst stimmte alles.
Sie räusperte sich. »Woher kennen Sie sie?«
»Wir stehen uns nahe, und zwar seit längerer Zeit, als du es dir auch nur vorstellen kannst.«
»Oh …« Sie dachte über seine Worte nach, bis ihr klar wurde, was er wohl meinen musste. Himmel. Das war ihr nie in den Sinn gekommen.
Auf seinem Gesicht erschien ein sinnliches Lächeln. »Aus diesem reizenden Erröten kann ich nur schließen, dass du den voreiligen Schluss gezogen hast, wir seien ein Liebespaar.«
»Und sind Sie es?«, fragte sie unverblümt.
»Nein.« Er strich leicht über seine blassblaue Krawatte. »Sophia ist ganz gewiss aufregend genug, um jeden Mann in Versuchung zu führen, aber sie verfügt bereits über mehrere Liebhaber. Ich ziehe es vor, mehr zu sein als einer im Rudel.«
Liebhaber? Mehrzahl? Ein ganzer Harem? O Gott. Diese Sache wurde immer seltsamer.
Darcy presste ihre Finger gegen ihre pochenden Schläfen. Sie brauchte mehr als sechs Stunden Schlaf in einem beengten Auto, um sich mit all diesen Dingen auseinanderzusetzen.
»Himmel, das macht mir Kopfschmerzen.« Sie funkelte Salvatore wütend an. Inzwischen war sie zu dem Entschluss gekommen, dass sie genug von seinen versteckten Andeutungen und subtilen Hinweisen hatte. Es war an der Zeit, den Stier bei den Hörnern zu packen. Oder den Wolf bei den Zähnen. Was auch immer!
Sie holte tief Luft. »Wer ist diese Frau?«
»Ich dachte, das sei offensichtlich.«
»Sagen Sie es mir!«
Es folgte eine angespannte Pause, bevor er sich von dem Auto abdrückte und direkt vor sie trat. »Diese Frau ist deine Mutter, Darcy«, sagte er.
Obwohl sie diese Worte erwartet hatte, spürte sie, wie ihr die Knie weich wurden. »Sind Sie sicher?«, flüsterte sie.
Er streckte die Hand aus, um sie leicht an der bleichen Wange zu berühren. »Angesichts der Tatsache, dass ich bei deiner Geburt anwesend war, bin ich mir sehr sicher.« Sein Finger strich über ihre Wange bis zu ihrem Mundwinkel. »Du warst ein erstaunlich schönes Baby, so wie deine Schwestern.«
»Schwestern?« Abrupt packte sie seine Handgelenke mit festem Griff. »Ich habe Schwestern?«
»Deine Mutter brachte Vierlinge zur Welt«, antwortete er ruhig. »Das ist nicht ungewöhnlich für eine Rassewölfin.«
Mit einem Schrei wich Darcy zurück, die Hände flehend erhoben. »Warten Sie! Halt!«
Er blinzelte angesichts ihrer heftigen Reaktion. Sie gebärdete sich, als hätte er eine Atombombe fallen lassen. »Was ist los, Darcy? Fühlst du dich unwohl?«
Sie schlang die Arme um sich und entfernte sich noch weiter von ihm. »Ich bin einfach überwältigt. Ich brauche einen Moment Zeit, um das zu verdauen.«
»Ich habe dich gewarnt, dass dies nicht die richtige Umgebung für diese Unterhaltung ist.«
»Ich versichere Ihnen, dass die Umgebung nichts damit zu tun hat!« Sie gab ein kurzes, fast hysterisches Lachen von sich. »Um Gottes willen, ich war dreißig Jahre lang so furchtbar allein, und jetzt finde ich plötzlich heraus, dass ich nicht nur eine Mutter habe, sondern auch noch drei Schwestern!« Sie schluckte. »Und als Krönung haben Sie mehr als nur angedeutet, dass meine Mutter eine Werwölfin ist! Und das würde bedeuten …«
»Dass du eine Werwölfin bist«, vervollständigte er sanft ihren Satz. »Si
»Nein!«, stritt sie seine Behauptung instinktiv ab.
Styx hatte behauptet, dass Salvatore sie zu täuschen versuchte. Der Vampir hatte offenbar recht. Das war jedenfalls einfacher zu glauben als die Vorstellung, dass Salvatore die Wahrheit sagte. »Das ist nicht möglich.«
Salvatore versuchte die Geduld zu bewahren, aber Darcy fühlte, dass er diese Aufgabe nicht meisterte.
»Was muss ich tun, um meine Worte zu beweisen?«, fragte er.
»Nichts.« Ihr Ton war scharf. »Ich denke, ich würde es wissen, wenn ich mich einmal im Monat in ein Tier verwandeln würde. Das ist nichts, was eine Frau so ohne Weiteres ignorieren könnte, oder?«
»Es gibt einen Grund dafür, weshalb du dich nicht verwandelst.«
»Und welchen?«
Er kniff ungeduldig die Lippen zusammen. »Das werde ich hier nicht mit dir besprechen, bevor wir uns unserer Privatsphäre sicher sein können.«
»Sie können hier einfach behaupten, dass ich ein Werwolf bin, aber nicht erklären, warum ich keine Symptome habe, die darauf hindeuten?«, fragte Darcy ungläubig.
»Ich habe nicht den Wunsch, hier irgendetwas zu diskutieren.«
Sie starrte ihm wütend in das attraktive Gesicht. »Diese Geheimnisse fangen an, mir auf die Nerven zu gehen!«
Er schwieg eine ganze Weile. Ohne Zweifel rief er sich selbst ins Gedächtnis, dass er bereits zu viele Schwierigkeiten auf sich genommen hatte, um sie jetzt zu erwürgen. »Ich dachte, du wärest froh zu entdecken, dass du eine Familie hast!«
Sie verlagerte nervös ihr Gewicht. »Das bin ich natürlich auch.«
»Aber?«, forschte er.
Da gab es mehr als ein Aber. Sie wusste nicht einmal, wo sie anfangen sollte.
»Wo war denn meine Familie?«, fragte sie schließlich. »Warum wurde ich ausgesetzt, als ich noch ein Baby war?«
»Darcy, du wurdest niemals ausgesetzt.« In den goldenen Augen glühte plötzlich ein gefährliches Licht. »Du und deine Schwestern, ihr seid von entscheidender Bedeutung für unser Volk. Keiner von uns würde für eure Sicherheit nicht sein Leben opfern.«
»Soll das ein Witz sein?«, fragte Darcy. »Ich war mir selbst überlassen und schmorte in einer Pflegefamilie nach der anderen vor mich hin, bis ich endlich weggelaufen bin, um auf der Straße zu leben. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass eine Ihrer Werwölfinnen vergessen zu haben scheint, wie ungeheuer bedeutend ich bin, und vor nur ein paar Stunden versucht hat, mich zu killen!«
Salvatore winkte ab. »Jade ist nur eine Wolfstöle und nicht in der Position, unsere Geheimnisse zu kennen. Sie spürte, dass du mir sehr viel bedeutest, aber sie verstand nicht, wie wichtig du für unser Volk bist.«
Großartig. Weil dieser verdammte Kerl zu arrogant war, sich vor Wolfstölen zu erklären, wäre sie fast getötet worden!
»Und warum wurde ich ausgesetzt?«
»Wie ich schon sagte, du wurdest niemals ausgesetzt, Darcy.« Er ballte die Hände zu Fäusten. »Du und deine Schwestern, ihr gingt uns verloren.«
»Wir gingen Ihnen verloren? Bei Ihnen klingt das so, als wären wir überzähliges Kleingeld, das Ihnen zufällig in den Gully gefallen ist.«
Das beunruhigende Prickeln breitete sich auf ihrer Haut aus.
»Dann sollte ich mich wohl präziser ausdrücken. Ihr wurdet uns geraubt.«
Es dauerte einen Moment, bis sie seine Worte endgültig begriffen hatte. »Geraubt?«
»Gesunde Säuglinge sind immer begehrt, Darcy«, hob er hervor. »Es gibt Menschen, die für ein Kind jeden Preis zahlen würden, und natürlich gibt es auch Menschen und sogar Dämonen, die willens sind, diese Säuglinge zur Verfügung zu stellen, indem sie sie rauben.«
»Wir wurden geraubt und auf dem Schwarzmarkt verkauft?«
»Si. Als es gelungen war, die Diebe aufzuspüren, wart ihr vier bereits von Italien nach Amerika transportiert worden.« In seiner Stimme lag ein Zorn, von dem Darcy annahm, dass er schon seit Jahren existierte. »Es ist unmöglich, eine Fährte über den Ozean zu verfolgen, selbst für Rassewölfe. Es dauerte Jahre zu rekonstruieren, was mit dir und deinen Schwestern geschehen war.«
»Also haben Sie meine Geschwister noch nicht gefunden?«
»Es ist uns gelungen, zwei deiner Schwestern aufzuspüren, obwohl wir noch nicht an sie herangetreten sind.« Ein schmerzliches Lächeln bildete sich auf seinen Lippen. »Wie du demonstriert hast, ist es nicht immer eine leichte Aufgabe, zu beweisen, dass wir nichts Böses im Schilde führen.«
»Da können Sie mir wohl kaum einen Vorwurf machen! Ich …« Sie hielt abrupt inne, als Salvatore auf sie zukam, die Hand warnend erhoben.
»Fess kehrt zurück«, sagte er so leise, dass Darcy seine Worte kaum verstehen konnte. »Du musst mit mir kommen. Ich verspreche, all deine Fragen zu beantworten.«
Darcy machte vorsichtig einen Schritt nach hinten. »Nein.«
Er zog die Augenbrauen zusammen. »Darcy, ich bin der Einzige, der die Wahrheit kennt.«
»Vielleicht. Aber vorerst habe ich genug gehört«, gestand sie. »Ich fange langsam zu glauben an, dass die Unwissenden selig sind.«
»Du kannst davor nicht davonlaufen. Und ganz sicher kannst du nicht vor mir davonlaufen.« Die Warnung in seiner Stimme war unverkennbar. »Du bist von zu großer Bedeutung.«
Darcy schob bei seinem unmissverständlichen Befehl das Kinn vor. Sie würde sich nicht einschüchtern oder drangsalieren lassen! Nicht, wenn sie so dringend über alles nachdenken musste, was sie bisher erfahren hatte.
»Ich habe bereits begriffen, dass es keinen Ort gibt, an den ich fliehen kann«, gab sie zurück. »Zumindest keinen, an dem mich kein Dämon finden würde, aber vorerst möchte ich nur etwas Zeit, um über alles nachzudenken.«
Mit unsicheren Schritten ging sie auf das Auto zu, das sie gestohlen hatte. Fast erwartete sie, dass Salvatore die Hand ausstrecken und sie aufhalten würde, als sie an seiner schlanken Gestalt vorbeiging. Nachdem sie sich ins Auto gesetzt hatte, startete sie den Motor und machte sich bereit loszufahren.
Ohne Vorwarnung wurde die Tür geöffnet, und Salvatore warf ihr eine große Tasche auf den Schoß. »Vergiss dein Mittagessen nicht!«, sagte er, bevor sie protestieren konnte. »Und vergegenwärtige dir, cara: Obwohl ich willens bin, vorerst Geduld zu zeigen, wird eine Zeit kommen, in der du deine Bestimmung erfüllen musst!«
»Und Sie sollten daran denken, Salvatore, dass meine Bestimmung genau das ist - meine. Und sie wird so erfüllt werden, wie ich mich entscheide, sie zu erfüllen!«
Nachdem sie ihre Salve abgefeuert hatte, schloss sie die Autotür und fuhr mit einem Quietschen ihrer Reifen rückwärts aus dem Park heraus.