KAPITEL 13
Darcy schob das Handy in ihre Tasche und betrachtete vorsichtig die Frau, die an dem Geländer über ihr stand. Du liebe Güte. Sie sah nicht wie die Art von Frau aus, die sich in dreckigen Lagerhallen vermuten ließ. Nicht mit diesem hochgewachsenen, gertenschlanken Körper und dem glänzenden schwarzen Haar, das ihr perfektes ovales Gesicht mit den schräg stehenden Augen einrahmte. Sie wirkte eher wie ein exotisches Partygirl, das mit Seide und Champagner überhäuft werden sollte.
Trotzdem war Darcy intelligent genug, nicht auf die äußere Erscheinung hereinzufallen. Die letzten Tage hatten ihr mehr als einmal klargemacht, dass die schönsten, elegantesten Wesen der Welt gleichzeitig auch die tödlichsten waren.
Und diese Tatsache wurde nur noch einmal untermauert, als die fremde Frau die Treppe herunterglitt. Ja, sie gleitet wirklich, dachte Darcy mit einem Schauder. Es gibt kein anderes Wort dafür. Die Frau war kein Mensch. Oder wenigstens nicht vollkommen menschlich.
Hastig wich Darcy zum nächstliegenden Fenster zurück. Einen Fluchtweg in der Nähe zu haben schien eine nützliche Sache zu sein. Natürlich nicht so nützlich wie eine Schusswaffe, aber da sie sowieso nicht glaubte, dass sie je würde abdrücken können, musste das Fenster einfach genügen.
»Ihr seid also die mysteriöse, so ungeheuer faszinierende Darcy Smith«, meinte die Frau gedehnt, und ihre Stimme ließ Darcy die Nackenhaare zu Berge stehen. »Ich nahm an, dass die Fotos Euch wohl unvorteilhaft dargestellt hätten, aber ich sehe, dass Ihr wahrhaftig so … gewöhnlich seid, wie ich dachte.«
Gewöhnlich? Darcy war mit Sicherheit schon mit schlimmeren Begriffen bedacht worden. Aber nicht mit diesem eindeutigen Anflug von Boshaftigkeit oder diesem Hass, der in den dunklen Augen schimmerte. Irgendwie hatte sie es geschafft, diese Frau sehr wütend zu machen, und jetzt war diese entschlossen, Darcy dafür büßen zu lassen.
»Sind wir uns schon mal begegnet?«, murmelte Darcy.
»Ihr wäret bereits tot, wenn wir uns schon begegnet wären!«, knurrte die Frau, und in ihren dunklen Augen begann ein seltsames Licht zu glühen.
Darcy lief erneut ein kalter Schauder über den Rücken, und sie streckte instinktiv die Hand aus, um nach dem zerbrochenen Fenster hinter ihrem Rücken zu tasten. Sie kannte dieses charakteristische Glühen: Die Frau war eine Werwölfin.
Das bedeutete, dass Salvatore mit seinen perfekten weißen Zähnen gelogen hatte. Und dass Darcy sehr, sehr tief in der Tinte saß. Sie mochte sich ja gegen die meisten Menschen behaupten können, aber sie glaubte keinen Moment lang, dass sie es schaffen könnte, einen wütenden Wolf abzuwehren.
»Ich wage einfach mal einen Schuss ins Blaue. Sie mögen mich nicht besonders.« Darcy versuchte das Wesen abzulenken, das immer näher kam. »Wie wäre es, wenn Sie mir erzählen würden, was ich Ihnen getan habe, um Sie zu beleidigen?«
Um den schlanken Körper herum war schimmernde Energie zu sehen. »Ihr seid mir ein Dorn im Auge.«
»Bin ich Ihnen einfach nur ganz allgemein ein Dorn im Auge, oder könnten Sie das ein bisschen einschränken?«
»Ihr seid ein Mensch!« Die Frau drehte den Kopf, um auf den Boden zu spucken.
Darcy schluckte. »Das ist alles? Ich bin Ihnen ein Dorn im Auge, weil ich ein Mensch bin?«
»Ihr seid mir ein Dorn im Auge, weil Salvatore Euch mir vorzieht!«, fauchte ihr Gegenüber.
Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Eine psychopatische Exfreundin, und zwar eine, die zufällig noch Werwölfin war.Vielen herzlichen Dank auch, Salvatore!
Heimlich fing Darcy an, das zerbrochene Fenster nach oben zu schieben. Ihr wäre es lieber, sich nicht durch die gezackten Glasscherben zu stürzen, wenn es sich vermeiden ließ.
»Dann weiß Salvatore nicht, dass Sie hier sind?«, konterte sie.
»Natürlich nicht.« Das Glühen in den mandelförmigen Augen wurde ausgesprochen gespenstisch. »Der Dummkopf ist so vernarrt in Euch, dass er mich töten würde, wenn er erführe, dass ich auch nur Euren kostbaren Weg gekreuzt habe!«
Also hatte Salvatore doch nicht gelogen. Eine Woge der Erleichterung überkam Darcy. Das war natürlich nicht sehr schlau, so wahrscheinlich wie es war, dass sie von seiner wütenden Exfreundin verspeist werden würde. Sie schob das Fenster noch ein paar Zentimeter weiter nach oben.
»Und trotzdem sind Sie hier«, sagte sie mit angespannter Stimme.
»Er hätte mich nicht wegschicken dürfen! Ich bin vielleicht nur eine Wolfstöle, aber ich bin nicht seine Hündin, der er einfach den Laufpass geben kann!« Das Schimmern wurde greifbarer, während sich die Luft mit einer kribbelnden Hitze füllte. »Dafür wird er bezahlen.«
Darcy schluckte mühsam. Scheiße, Scheiße, Scheiße. »Hören Sie, ich bin sicher, dass das alles bloß ein Missverständnis ist. Ich kenne Salvatore doch nicht einmal richtig!«
Das Fenster war kaum halb offen. Nur noch ein paar Minuten. O bitte, Gott, gib mir noch ein paar Minuten! »In Wirklichkeit sind wir uns absolut fremd! Wenn Sie zu ihm zurückgehen und mit ihm reden würden, könnte dieses Problem bestimmt gelöst werden.«
»Ich will es jetzt lösen.« Mit einem haarsträubenden Knurren machte die Frau urplötzlich einen Satz nach vorn, und ihre schlanke Gestalt verwandelte sich vor Darcys fassungslosen Augen übergangslos von einem Menschen in einen Wolf.
Einen Moment lang blieb ihr schockiert das Herz stehen. Wenn einem erzählt wurde, dass Werwölfe wirklich existierten, dann war das eine Sache, aber einer Frau dabei zuzusehen, wie sie zu einer turmhoch aufragenden Bestie wurde, war eine ganz andere.
Darcy kam mit einiger Verspätung wieder zu sich und schaffte es kaum, zur Seite zu hechten, so dass die Werwölfin nur wenige Zentimeter von ihr entfernt landete. Es folgte ein frustriertes Knurren, und die Werwölfin drehte den Kopf, um ihre glühenden roten Augen und Zähne zu zeigen, die wirkten, als seien sie dazu gemacht, Fleisch zu zerreißen. Nichts Menschliches lag mehr in diesen schrecklichen Augen.
Darcy wich zurück und heftete ihren Blick fest auf die Werwölfin, die sich duckte und wieder zum Sprung ansetzte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie die Bestie abwehren sollte, aber sie wusste, dass sie es versuchen musste. So sehr sie sich auch eine gewaltfreie Lösung für diese Begegnung wünschte, war sie doch intelligent genug, um zu wissen, dass es schwierig wäre, vernünftig mit einer angreifenden Werwölfin zu reden.
Ein warnendes Knurren war zu hören, und dann schoss das Tier auf sie zu. Instinktiv trat Darcy mit beiden Beinen zu. Es war ein verzweifelter Akt, aber erstaunlicherweise gelang es ihr dennoch, die Schnauze der Werwölfin direkt zu treffen. Mit einem schrillen Aufjaulen hielt sie inne und schüttelte benommen den Kopf.
Darcy sprang augenblicklich hoch und raste auf die Tür auf der anderen Seite zu. Sie glaubte eigentlich nicht, dass sie es schaffen konnte, aber vorerst war jeder Abstand, den sie zwischen sich und ihre Angreiferin bringen konnte, eine gute Sache. Es war der reine Instinkt, der ihr das Leben rettete: Mit einem Hechtsprung ging sie zu Boden, so dass die Werwölfin einen Satz über ihren Kopf hinweg machte.
Darcy wurde durch den plötzlichen Kontakt mit dem Zementboden die Atemluft aus den Lungen getrieben, und nur mit einiger Mühe konnte sie sich auf Hände und Knie aufrichten.
Sie sah, dass die Werwölfin sich durch ihren wilden Sprung mitten in einen Stapel rostiger Fässer katapultiert hatte. Einige davon waren auf sie gestürzt und hielten sie auf dem Boden fest.
Aber das würde nicht lange vorhalten, wie Darcy erkannte. Als sie gerade wieder aufstehen wollte, entdeckte sie ein kurzes Metallrohr, das nur wenige Zentimeter entfernt lag. Widerstrebend hob sie das Rohr vom Boden auf. Dann richtete sie sich auf und rannte wieder auf die Tür zu.
Sie hatte es fast durch die ganze Lagerhalle geschafft, als das Schaben von Krallen auf dem Zement sie dazu zwang, herumzuwirbeln.
»Scheiße«, keuchte sie. Ihr Mund war trocken, als sie beobachtete, wie die Werwölfin mit ihren langen Zähnen geradewegs auf ihre Kehle zusteuerte. Darcy ließ sich keine Zeit, darüber nachzudenken, sondern schwang das Rohr direkt in Richtung des sich ihr nähernden Kopfes.
Es folgte ein grauenhafter dumpfer Schlag, als der Stahl den dicken Schädel mit genug Wucht traf, um Darcy nach hinten zu schleudern. Sie kassierte noch mehr blaue Flecken, aber als sie sich wieder aufrappelte, wurde ihr klar, dass sie es geschafft hatte, die Bestie zu betäuben.Vielleicht ist es auch mehr als nur Betäuben, dachte sie mit einem heftigen Schauder.
Die Werwölfin lag mit geschlossenen Augen auf der Seite und blutete stark aus einer tiefen Wunde, die von einem Ohr bis zu der Wölbung ihrer Schnauze reichte. In Darcys Magen bildete sich ein Gefühl der Übelkeit, als sie erkannte, dass sie die Frau härter getroffen hatte, als sie es eigentlich vorgehabt hatte.
Sie hatte schon immer gespürt, dass sie stärker war als eine durchschnittliche Frau, aber eine Werwölfin zu besiegen …
Sie war tatsächlich ein Freak.
Mit einem Kopfschütteln verscheuchte Darcy die absurden Gedanken und machte sich auf den Weg zur Tür, wobei sie das Rohr noch immer umklammerte.
Sie stürmte aus der Lagerhalle, und als sie den Parkplatz überquerte, entdeckte sie einen Sportwagen, der neben einem Container stand.
Vorsichtig ging sie auf das Auto zu und spähte hinein, bereit, beim ersten Hinweis darauf, dass die Frau nicht allein gewesen war, wegzulaufen. Ihr Herz machte einen Satz, als sie feststellte, dass der Schlüssel immer noch im Zündschloss steckte.
Heiliger Bimbam, konnte es sein, dass das Glück endlich einmal auf ihrer Seite war? Darcy zog die Tür auf und glitt auf den Fahrersitz. Der Motor erwachte gleich beim ersten Versuch mit einem sanften Schnurren zum Leben. Sie kämpfte mit dem ungewohnten Schalthebel, schaffte es aber, schlingernd über den Parkplatz zu fahren. Sie wusste nicht, wohin sie fuhr, aber weg von der Lagerhalle war schon einmal ein guter Anfang. Sie hatte keine Lust auf eine zweite Runde mit der Werwölfin. Nicht, wenn sie voller blauer Flecken, total ramponiert und immer noch erschüttert war von dem Wissen, eine andere Person absichtlich verletzt zu haben.
Und natürlich war da noch das Wissen, dass Salvatore jeden Moment an der Lagerhalle eintreffen konnte. Sie war im Augenblick viel zu aufgewühlt, um dem Rassewolf entgegenzutreten. Ganz egal, ob er die Werwölfin geschickt hatte oder nicht - er war verantwortlich für den Angriff.
Es schien das Beste zu sein, den Rückzug anzutreten, damit sie sich etwas Zeit nehmen konnte, um sich etwas genauer zu überlegen, wie und wann sie sich mit diesem Mann treffen wollte.
Darcy fuhr vom Parkplatz herunter und zog das Handy aus ihrer Hosentasche. Während sie langsam die leere Straße hinunterfuhr, prägte sie sich sorgfältig Salvatores Telefonnummer ein. Als sie überzeugt war, dass sie sich die Nummer mühelos ins Gedächtnis rufen konnte, kurbelte sie das Seitenfenster herunter und warf das Handy mit einem kleinen Lächeln auf ein unbebautes Grundstück, an dem sie gerade vorbeikam.
Sie hatte genug davon, eine glücklose Trumpfkarte in einem blutrünstigen Dämonenspiel zu sein, das sie nicht begriff. Von jetzt an würden sie nach ihren Regeln spielen!
 
Styx murmelte eine Reihe uralter Flüche, als er die dunkle Lagerhalle betrat. Obgleich Darcys Duft deutlich in der Luft hing, war sie ganz offensichtlich geflohen. Noch schlimmer war jedoch die Tatsache, dass ein unverkennbarer Geruch nach Werwolf in der Nähe wahrzunehmen war.
Styx glitt durch die Schatten und entdeckte die Frau, die ohnmächtig auf dem Boden lag. An der einen Seite ihres Gesichts war eine verheilende Wunde zu erkennen, und an ihrer Schläfe befand sich eine Schwellung, die von einem heftigen Schlag herrührte. Darcy?
Es schien unglaublich, dass sein süßer, unschuldiger Engel in der Lage gewesen sein sollte, diese Wolfstöle abzuwehren, aber wenn er in den vergangenen Tagen eins gelernt hatte, dann war es das, dass man nie vorhersehen konnte, wie Darcy reagieren würde. Sie hatte ihn von dem Augenblick an, als er sie gefangen genommen hatte, verwirrt, verblüfft und fasziniert.
Er spürte einen Luftzug hinter sich, und dann stand Viper an seiner Seite. Styx hatte den anderen Vampir mitgenommen, als er aufgebrochen war. Er hatte seine Lektion gelernt, was das Losstürmen ohne Begleitung betraf, und er hatte bereits seine Raben zu Salvatores Versteck geschickt, um den verdammenswerten Rassewolf zu überwachen.
»Ihre Spuren führen zum Parkplatz, doch sie muss ein Auto gefunden haben und entkommen sein. Ohne Zweifel befindet sie sich inzwischen zahlreiche Kilometer entfernt.«
»Verdammt!«
Styx’Körper spannte sich enttäuscht an. Die Nacht verging zu rasch. Sehr bald würde der Morgen anbrechen, und er würde gezwungen sein, Schutz zu suchen. Und Darcy würde dort draußen ganz allein sein. Salvatores Willkür ausgeliefert.
Nun, vielleicht nicht vollkommen Salvatores Willkür ausgeliefert, dachte Styx, während er seinen Blick über die ohnmächtige Werwölfin schweifen ließ.
Viper folgte seinem Blick und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wer ist diese Wolfstöle?«
Styx rümpfte angewidert die Nase. »Sie riecht nach Salvatore. Sie gehört wohl zu seinem Rudel.«
»Glaubst du, sie kam hierher, um Darcy zu treffen?«
Allein der Gedanke reichte aus, um in Styx die Sehnsucht zu wecken, seine Zähne in Werwolffleisch zu graben. »Aus welchem Grunde sie auch immer herkam, es scheint nicht so ausgegangen zu sein wie erwartet.«
»Nein, es scheint überhaupt nicht gut gelaufen zu sein.« Viper drehte sich um, um Styx aufmerksam anzusehen. »Deine Geliebte ist imstande, sich zu behaupten.«
»Es scheint so.« Styx’ Herz zog sich bei dem Gedanken zusammen, dass Darcy mit der Werwölfin gekämpft hatte. Nicht nur, da sie so leicht hätte verletzt werden können, sondern auch, da er seinen Engel gut genug kannte, um zu vermuten, dass sie auch tief in ihrem Herzen verletzt sein musste, weil sie einer anderen Person hatte Schaden zufügen müssen.
»Sie hatte wohl das Gefühl, ihr Leben sei bedroht, sonst hätte sie niemals zugeschlagen.« Abrupt drehte er sich um und schritt auf die Tür zu, während er in der verbrauchten Luft witterte. »Doch weshalb sollte Salvatore eine Wolfstöle aussenden, um einen Angriff auf sie auszuführen? Falls er sie tot sehen wollte, hätte er sie in der Bar töten können oder auch, als er sich auf das Anwesen geschlichen hatte. Er schien den inständigen Wunsch zu hegen, sie lebendig zu entführen.«
»Das scheint die entscheidende Frage zu sein.« Viper führte mit aufmerksamer Miene seine eigene Durchsuchung der Lagerhalle durch. »Darüber hinaus war hier noch eine weitere Frau. Ein Mensch.«
Styx fauchte leise. »Nichts davon ergibt einen Sinn!«
Viper untersuchte kurz die schwarze Tasche, die auf dem Boden abgestellt worden war, schüttelte aber dann den Kopf. »Dieses Rätsel muss später gelöst werden, alter Freund. Der Morgen dämmert in weniger als einer Stunde. Wir können nicht länger hier verweilen.«
Styx schlug sich die Fingernägel in die Handflächen. »Falls Darcy über ein Auto verfügt, könnte sie den gesamten Staat durchquert haben, bevor ich erneut damit beginnen kann, ihr zu folgen.«
Viper, der mühelos den Zorn und die Enttäuschung spürte, die in Styx brodelten wie in einem Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch stand, trat zu ihm, um ihm leicht die Hand auf die Schulter zu legen. »Nicht einmal der Anasso kann gegen die Sonne kämpfen und gewinnen«, sagte er sanft.
»Ihr meint doch gewiss nicht, dass der unbesiegbare Styx Angst vor ein paar Sonnenstrahlen hätte?«, war eine spöttische Stimme von einer der Türen in ihrer Nähe zu vernehmen. »Wie fürchterlich enttäuschend! Als Nächstes werdet Ihr mir noch erzählen, dass Ihr nicht über Gebäude springen oder Kugeln während des Fluges aufhalten könnt.«
Nur die Hand auf seiner Schulter hielt Styx davon ab, einen Satz durch die Türöffnung zu machen und dem Rassewolf die Kehle herauszureißen.
»Ich fürchte vielleicht das Sonnenlicht, doch ich fürchte keine Hunde«, warnte er den Werwolf mit eiskalter Verachtung. »Zeigt Euch, Salvatore!«
»Mit Vergnügen.« Salvatore schlenderte durch die Tür. Er war mit einem perfekt sitzenden, rauchgrauen Anzug bekleidet, und seine abgerichtete Wolfstöle folgte ihm auf dem Fuße. Er bewegte sich mit der lockeren Anmut aller Werwölfe, obgleich eine unverkennbare Anspannung seinen schlanken Körper umgab.
»Ah, da ist ja auch der großartige Viper! Wir sind wahrlich gesegnet, uns in der Gesellschaft dermaßen bedeutender Vampire zu befinden, nicht wahr, Fess?«
Die massige Wolfstöle warf den beiden Vampiren einen finsteren Blick zu und leckte sich dann nachdrücklich die Lippen. »Sieht für mich nach Abendbrot aus, Mylord.«
Styx ließ seine Macht ausströmen, wodurch die Wolfstöle auf die Knie gezwungen wurde.
»Dein Abendbrot verfügt über Zähne, du Hund, und ich bin nicht sonderlich gut verdaulich. Und wenn du mir das nicht glaubst, bist du herzlich eingeladen, den Versuch zu unternehmen, einen Bissen zu ergattern!«
Die Wolfstöle schoss in die Höhe, aber bevor sie auf den sicheren Selbstmord zusteuerte, hielt Salvatore sie am Arm zurück. »Sachte, Fess! Wir haben heute Nacht wichtigere Angelegenheiten zu erledigen.«
Der Rassewolf schlenderte auf die Frau zu, die noch immer ohnmächtig auf dem Boden lag, und betrachtete sie. »Jade. Ich hätte es wissen sollen.« Sein Blick glitt zu Styx. »Ich bin überrascht, dass Ihr sie nicht getötet habt.«
Styx ließ seine Fangzähne aufblitzen. Das war vielleicht nicht besonders würdevoll für den Anführer aller Vampire, doch er fühlte sich im Augenblick auch nicht sonderlich würdevoll.
»Dies ist nicht mein Werk.«
»Das war Darcy?« Ein Ausdruck der Befriedigung bildete sich auf Salvatores schmalem Gesicht. »Wer hätte das gedacht? Sie entwickelt sich allmählich zu einer bemerkenswerten Frau. Zu einer Frau, die sein Eigen zu nennen, sich jeder Mann freuen könnte.«
Reiner, wilder Zorn übermannte Styx, und nicht einmal Vipers fester Griff konnte ihn davon abhalten, sich auf Salvatore zu stürzen und ihn am Hals zu packen. Er würde Salvatore leertrinken, bevor er es dem Hund gestattete, seine Hand an Darcy zu legen!
Blitzartig setzte sich Salvatore zur Wehr, und es gelang ihm, Styx am Knie zu treffen. Styx fauchte, als seine Finger sich fester um Salvatores Hals legten. »Habt Ihr diese Wolfstöle ausgesandt, um sie zu töten?«, schnarrte er.
Salvatore knurrte und schlug Styx heftig in den Magen. »Ich hörte immer, dass Vampiren gewisse Teile ihrer Anatomie fehlten. Ich wusste nicht, dass damit die Größe ihres Gehirns gemeint war!«
Styx wich einem Aufwärtshaken aus, bevor Salvatore ihm einen weiteren Fausthieb in den Magen verpasste. Er zuckte zusammen und war dann gezwungen, einen Satz nach hinten zu machen, als der Werwolf mit einer geschmeidigen Bewegung einen Dolch unter seiner Jacke hervorzog.
Von der unmittelbaren Todesgefahr befreit, rückte Salvatore in Ruhe seine Krawatte zurecht und funkelte dann Styx an. »Ich bin willens, alles zu opfern, um Darcy am Leben zu halten.«
Es wäre ein Leichtes für Styx gewesen, dem Werwolf den Dolch aus der Hand zu schlagen und ihn erneut zu packen, aber Styx widerstand dem Drang. Der Anasso wälzte sich nicht mit einem gewöhnlichen Werwolf im Schmutz.
»Weshalb griff diese Frau sie dann an?«
»Jade neigt dazu, ein wenig zu reizbar zu sein - selbst für eine Wolfstöle.«
Styx traute seinen Ohren nicht. »Ihr erwartet von mir zu glauben, dass diese Werwölfin aus purem Zufall in diese Lagerhalle kam und sich dazu entschloss, Darcy anzugreifen?«
Salvatore wiegte bedächtig den Kopf. »Sie muss wohl Euer Anwesen beobachtet und auf eine Gelegenheit gewartet haben, sie allein zu erwischen.« Er hielt inne. »Da wir gerade davon sprechen, weshalb war Darcy überhaupt allein hier?«
»Haltet mich nicht für einen Dummkopf, Hund!« Eine Menge Staub wurde aufgewirbelt, als Styx’ Macht die Luft um ihn herum in Bewegung brachte. »Darcy mag unschuldig sein, doch ich versichere Euch, das ist bei mir nicht der Fall. Ihr schobt ihr absichtlich ein gefälschtes Bild unter, um Darcy aus meinem Schutz fortzulocken.«
»Dieses Bild ist nicht gefälscht,Vampir.«
»Unmöglich.«
»Falls Ihr das wünscht, kann ich dafür sorgen, dass Sophia Euch die Kehle zerfleischt, um zu beweisen, wie echt sie ist.« Die goldenen Augen glühten im schwachen Licht. »Möglicherweise wird sie das ohnehin tun, sobald sie entdeckt, dass Ihr ihre Tochter entführt habt.«
Styx zögerte. War das tatsächlich möglich? War das Bild wirklich echt? Und falls dies der Fall war: Konnte die Frau dann mit Darcy verwandt sein?
Heftig schob er die Fragen beiseite. Es war nicht die richtige Zeit, um sich selbst mit Was-wäre-wenn-Fragen zu belasten.
»Was ist das hier für ein Spiel, Salvatore?«, verlangte er zu wissen.
Nun brachte Salvatores Macht die Luft zum Prickeln. »Es gibt kein Spiel. Darcy gehört mir.«
»Niemals!«
»Ihr habt lange genug gelebt, um niemals ›nie‹ zu sagen, Vampir.«
Der Rassewolf hegte eindeutig einen Todeswunsch. »Ich werde Euch töten, bevor Ihr Hand an sie legt!«
»Nicht, wenn ich Euch zuvor ins Grab bringe!«
Styx trat vor. Er war durchaus bereit, jede Herausforderung anzunehmen, die Salvatore willens war auszusprechen. »Ist das eine Drohung?«
»O ja.« Das Glühen in den goldenen Augen schimmerte, da Salvatore sich bemühte, seine innere Bestie unter Kontrolle zu halten. »Ihr habt meine Gefährtin entführt. Niemand könnte mir für meine Vergeltung einen Vorwurf machen.«
»Gefährtin!« Styx zuckte zusammen, als habe Salvatore ihm den Dolch ins Herz gebohrt. »Ein Rassewolf kann nur eine Rassewölfin zu seiner Gefährtin nehmen.«
»Genau.«
Styx fauchte leise und warnend. Die Versuchung, den Werwolf einfach zu töten und es hinter sich zu haben, wurde mit jedem Augenblick, der verstrich, immer größer. Ganz gewiss würde jede Strafe durch das Vergnügen aufgewogen, Salvatore in ein hübsches, tiefes Grab zu schicken!
»Darcy ist keine Werwölfin«, stieß er hervor.
»Seid Ihr Euch da so sicher,Vampir?«
»Bei den Göttern, das ist irgendeine Art von Trick.«
Ein spöttisches Lächeln erschien auf Salvatores Lippen. »Denkt, was Ihr wollt.« Er wirbelte den Dolch herum und schob ihn dann ruhig unter seine Jacke, bevor er sich auf den Weg in Richtung Tür machte. »Komm, Fess, wir müssen der Spur meiner Königin folgen. Es tut mir sehr leid, dass Ihr uns nicht Gesellschaft leisten könnt, Styx. Wenn die Sonne wieder untergeht, wird Darcy die Meine sein, und zwar in jeder Hinsicht.«
Styx bewegte sich, bevor er überhaupt denken konnte. Dieser Hund sollte eine Hand an Darcy legen? Vorher würde er ihn in die Hölle schicken! Er machte einen Satz nach vorn und war nicht auf die große Gestalt gefasst, die plötzlich drohend vor ihm aufragte. Mit erstaunlicher Wucht prallte er gegen Viper, wodurch beide zu Boden stürzten. Im Handumdrehen stand Styx wieder auf den Beinen, genauso aber auch Viper.
»Styx, nein!«, knurrte Viper, und sein entschlossener Gesichtsausdruck warnte diesen, dass er sehr wohl darauf vorbereitet war, gegen Styx zu kämpfen, um ihn davon abzuhalten, den verdammenswerten Werwolf zu verfolgen. »Die Morgendämmerung ist zu nahe, als dass du die Werwölfe bekämpfen solltest. Wir müssen hier verschwinden, und zwar sofort.«
»Und ihn ziehen lassen, damit er Darcy aufspüren kann?«, fragte Stxy, und sein gesamter Körper erbebte unter dem Drang, dem Werwolf zu folgen. »Er wird sie lange vor Sonnenuntergang erwischt haben.«
Ein seltsamer Ausdruck zeigte sich auf den blassen, feinen Zügen seines Kameraden. »Wenn sie wahrhaftig seine Gefährtin sein sollte, musst du zur Seite treten, Styx«, erklärte er vorsichtig. »Nicht einmal die Kommission wird es dir gestatten, die Gefährtin eines Königs gefangen zu halten.«
»Darcy ist keine Werwölfin«, entgegnete Styx mit frostiger Stimme.
»Aber …«
»Es reicht, Viper. Wie du so ermüdend wiederholt hast, nähert sich die Morgendämmerung.«
Styx drehte sich auf dem Absatz um und durchquerte die Lagerhalle. Seine Macht ließ den Staub um ihn herum aufwirbeln, und das Glas in den Fenstern zerbarst unter dem Druck. Alles sollte verdammt sein. Er würde die Vorstellung, dass Salvatore nicht log, nicht einmal in Betracht ziehen. Es musste eine Lüge sein. Darcy konnte einfach nicht die Gefährtin eines Wolfes sein! Nicht, wenn Styx sich absolut sicher war, dass sie vom Schicksal dazu auserkoren war, seine eigene Gefährtin zu sein.