KAPITEL 3
Darcy war durch und durch erschrocken. Sie war aufgewacht und war völlig verwirrt gewesen, als sie festgestellt hatte, dass sie sich in einem fremden Schlafzimmer befand und ein großer, unglaublich attraktiver Mann vor ihr stand. Und sie war noch erschrockener gewesen, als er begonnen hatte, sie mit Fragen zu bombardieren, als seien sie beim Speed-Dating. Und ganz besonders fassungslos war sie gewesen, als er sich die Brust aufgeschlitzt und etwas davon gefaselt hatte, er sei ein Vampir.
Aber trotz allem wärmte eine gewisse Erleichterung ihr Herz.
Wie viele Jahre hatte sie sich Gedanken darüber gemacht, dass etwas an ihr anders war? Wie oft war sie von irgendwo weggezogen, aus Angst, andere Leute in ihrer Nähe könnten ihre verborgenen Geheimnisse aufdecken und sie wie ein Monster behandeln?
Das Aufwachsen in Pflegefamilien hatte sie gelehrt, dass die Menschen niemandem trauten, der von der Norm abwich. Ganz egal, wie gutherzig die Leute waren, die sich um sie kümmerten, sie konnten ihre Merkwürdigkeiten trotzdem nicht akzeptieren. In sechzehn Jahren war sie durch zwanzig Pflegefamilien gereicht worden. Schließlich war sie zu dem Schluss gekommen, dass sie die Straße vorzog. Egal, wie schwer das Überleben hier auch sein mochte, es war besser als mitzubekommen wie jemand, den sie zu lieben gelernt hatte, sie voller Entsetzen ansah.
Und nun hatte sie endlich jemanden gefunden, der genauso merkwürdig war wie sie selbst. Zugegeben, er hatte gesagt, er sei ein Vampir, und natürlich hatte er sie rüde entführt, aber es lag etwas seltsam Tröstliches in dem Wissen, dass sie nicht so völlig allein war, wie sie gedacht hatte.
Darcy hob den Kopf, um ihren Kidnapper anzustarren. Er war vom Bett aufgestanden und stand so unbeweglich da, dass er auch eine Schaufensterpuppe hätte sein können.
Natürlich war diese Reglosigkeit nicht das einzig Unnatürliche an ihm. Das schmale Gesicht war viel zu perfekt. Die breite Stirn, die tief liegenden Augen, die von langen, dichten Wimpern umgeben waren, die sinnlich geschwungenen Lippen, die fein gemeißelten Wangenknochen und die aristokratische Nase - er erinnerte sie an eine auf Hochglanz gebrachte aztekische Maske. Ganz sicher hatte es noch nie einen so schönen Menschen gegeben. Und welcher Mann, der kein fanatischer Gewichtheber oder süchtig nach Steroiden war, konnte wohl einen solchen Körper sein Eigen nennen? Ganz zu schweigen von dem blauschwarzen Haar, das er zu einem komplizierten Zopf geflochten trug, der mit Bronzeund Türkissteinen geschmückt war und ihm bis weit über die Taille reichte.
Er war ein exotischer Traum. Genau das, was eine Frau von einem Vampir erwartete. Oder von einem total Verrückten.
Darcy schloss ihre Finger fester um die Decke und schluckte, wobei sie den Kloß in ihrem Hals spürte. Sie hatte keine Ahnung, was dem Mann durch den Kopf ging, während er sie mit dieser irrsinnigen Intensität anstarrte. Und um ehrlich zu sein … auch das erschreckte sie.
»Sie haben mir noch nicht gesagt, warum ich hier bin!«, warf sie ihm vor. »Oder auch nur Ihren Namen.«
Er blinzelte als ob er aus tiefem Schlaf erwachte. »Styx.«
»Styx? Sie heißen Styx?«
»Ja.«
Darcy schnitt eine Grimasse. Das war nicht gerade ein Name, der einem ein Gefühl der Geborgenheit gab. Aber natürlich war er auch nicht gerade ein Mann, den man mit Geborgenheit assoziierte. Er war wild, erschreckend und sah geradezu unverschämt gut aus in seinem aufgeknöpften Hemd, das die Perfektion seiner glatten, breiten Brust und das seltsame Drachentattoo offenbarte, das eigenartig metallisch glänzte. Wahrscheinlich war es das Beste, dass er nicht mehr auf ihrem Bett saß.
Es ist schwer, einen festen Freund zu haben, wenn man ständig befürchten muss, ihn aus Versehen zu verletzen, dachte Darcy. Oder ihn merken zu lassen, dass man nicht völlig normal ist.
Meistens machte ihr das nichts aus. Ihr Leben war so ausgefüllt, dass sie niemanden brauchte, der ihm einen Sinn verlieh. Aber manchmal kam sie einem Mann näher, und wenn sie ihn dann roch und berührte, wurde ihr in aller Intensität bewusst, was sie verpasste.
»Warum haben Sie mich entführt?«, fragte sie.
Styx zuckte die Schultern. »Ich muss wissen, was die Werwölfe mit Euch zu tun beabsichtigen.«
»Warum?«
Es folgte eine Pause, und Darcy dachte, er würde sich vielleicht weigern, ihre Frage zu beantworten. Und sie wusste, dass sie sich keinen Moment lang einzubilden brauchte, ihn dazu zwingen zu können. Er mochte ja behaupten, dass in ihren Adern Dämonenblut floss, aber das war mit Sicherheit nicht dämonisch genug, um es mit einem Vampir aufzunehmen.
Schließlich seufzte er und begegnete ihrem forschenden Blick. »Sie bereiten mir Schwierigkeiten.«
»Sie herrschen über die Werwölfe?«
»Sie müssen mir Rede und Antwort stehen.« Sein Gesichtsausdruck war kalt und reserviert und verriet nichts.
»Sind sind so etwas wie Ihre Angestellten?«
»Angestellte?« Dieses Wort klang unbeholfen aus seinem Mund. »Nein. Sie schulden mir die Lehnstreue.«
»Sie meinen, wie Leibeigene?« Darcy lachte kurz auf. »Ist das nicht ein bisschen vorsintflutlich?«
Ein Anflug von Ungeduld überzog seine schönen Züge. »Die Werwölfe unterstehen den Gesetzen der Vampire, und sie müssen mir als dem Anführer der Vampire gehorchen.«
Darcy blinzelte. »Also sind Sie … was? Der König der Vampire?«
»Ich bin der Herr und Meister, der Anasso«, antwortete er mit mildem Stolz.
Darcy fühlte, wie ihre Lippen zuckten. Sie konnte nichts dagegen tun. In seiner Arroganz lag etwas, das sie zum Lachen reizte. So wie sie die meisten Dinge im Leben komisch fand - schon vor langer Zeit hatte Darcy herausgefunden, dass sie von Bitterkeit überwältigt werden würde, wenn sie nicht über die Welt und all ihre Verrücktheiten lachte.
»Wow.« Sie riss die Augen auf. »Ein hohes Tier!«
Sein Gesichtsausdruck war weiterhin undeutbar, aber in den dunklen Augen schien etwas aufzublitzen. »Ein hohes Tier? Ist das ein menschlicher Ausdruck für einen Anführer?«
Sie runzelte die Stirn. »Sie kommen wohl nicht viel rum, oder?«
Styx zuckte die Achseln. »Mehr, als ich mir wünschen würde.«
»Eigentlich spielt es auch keine Rolle.« Darcy schüttelte leicht den Kopf. Sie war einerseits froh, dass sie nicht zur hysterischen Sorte Frau gehörte, aber andererseits war es wahrscheinlich nicht unbedingt das Klügste, hier zu sitzen und ein Schwätzchen mit dem König der Vampire zu halten.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich nichts über diesen Salvatore weiß. Und auch nichts über Werwölfe. Ich glaube nicht mal an sie. Wenn es Ihnen also nichts ausmacht - ich muss wirklich nach Hause.«
»Ich fürchte, das kann ich nicht zulassen.«
Ihr stockte der Atem, als sie seine kategorische Weigerung hörte. »Was meinen Sie damit?«
»Salvatore nimmt große Mühen auf sich, um Euch aufzuspüren.«
»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, ich kann Ihnen nicht helfen. Ich habe keine Ahnung, warum er mich verfolgen sollte.«
»Eure Präsenz wird sich dennoch als Vorteil erweisen.«
»Was soll das heißen?«
Sein Blick blieb fest. »Ich glaube, dass Salvatore Euch so sehr begehrt, dass er über Eure Freilassung verhandeln wird.«
Darcy brauchte einen Moment, um zu begreifen, was er vorhatte. Sie wollte einfach nicht glauben, dass er so kaltherzig sein konnte. Ihr entging allerdings auch nicht, dass er sie die ganze Zeit mit düsterer Intensität beobachtete. Leider war sie sich nicht sicher, ob er dabei an Sex oder an ein saftiges Abendessen dachte.
»Sie haben vor, mich gegen meinen Willen hier festzuhalten und dann zu verhandeln, ob sie mich an die Werwölfe ausliefern?«
»Ja.«
»Auch wenn Sie nicht wissen, was dieser Salvatore von mir will? Vielleicht wird er mich in einem furchtbaren Ritual opfern! Oder er ist zu dem Entschluss gekommen, dass ich eine schmackhafte Mahlzeit abgeben könnte!«
Styx drehte sich um und ging auf das Fenster zu. Er öffnete die schweren Fensterläden und offenbarte ihr damit, dass die Nacht schon angebrochen war. Natürlich, es war Dezember in Illinois. Die Sonne war in diesen Tagen kaum aufgegangen, bevor sie auch schon wieder im Untergehen begriffen war. Wie lange hatte sie überhaupt geschlafen?
»Salvatore würde sich nicht solchen Anstrengungen unterziehen, wenn es einfach nur um ein Opfer oder seinen Appetit ginge«, meinte er schließlich leise. »Ich glaube, er möchte Euch lebendig haben.«
»Sie glauben das?« Darcy schnaubte. Sie würde sich auf keinen Fall unterwürfig an einen Werwolf ausliefern lassen - falls Salvatore überhaupt ein Werwolf war.
»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie beruhigend das ist! Mein kleines Leben ist für Sie vielleicht nicht wichtig, aber für mich sehr wohl!« Sie schnappte sich ein Kissen und warf es in Richtung seines Rückens. In einem unglaublichen Tempo drehte er sich um und fing das Kissen auf, bevor es ihn berührte. Darcys Kehle wurde trocken. »Bitte«, flüsterte sie, »ich will nach Hause.«
Fast wirkte es so, als ob ihr leises Flehen ihm zu schaffen machte. »Darcy, dort wäret Ihr nicht in Sicherheit. Wenn Ihr dieses Anwesen verlasst, werden die Werwölfe Euch abfangen, bevor Ihr in Euer Zuhause zurückkehren könnt. Nur durch meinen Schutz …«
Seine düstere Prophezeiung wurde unterbrochen, als der Klang einer schrillen, gebieterischen Stimme durch die Tür drang. Ein starker französischer Akzent und die entsprechende Arroganz waren zu vernehmen. »Aus dem Weg, du Idiot! Kannst du nicht sehen, dass ich hier bin, um der Gefangenen beizustehen?«
Styx warf mit ungläubiger Miene einen Blick zur Tür. »Bei den Göttern, was tut der denn hier?«, keuchte er.
»Wer ist das?«, fragte Darcy.
»Levet.« Er richtete den Blick wieder auf sie. »Wappnet Euch, mein Engel.«
Sie zog die Decke bis zur Nasenspitze, als könne sie das irgendwie schützen. »Ist er gefährlich?«
»Nur für Euren gesunden Verstand.«
»Ist er ein Mensch?«
»Nein, er ist ein Gargyle.«
Ihr Herz zog sich heftig zusammen. Vampire, Werwölfe - und jetzt auch noch Gargylen? »Ein … was?«
»Fürchtet Euch nicht. Er ist durchaus nicht die erschreckende Bestie, die man erwarten könnte. Man kann ihn kaum einen Dämon nennen.«
Darcy wusste nicht, was das heißen sollte. Zumindest nicht, bis die Tür aufschwang und eine winzige graue Kreatur in den Raum watschelte, die ein großes Tablett trug.
Das Wesen hatte zwar groteske Gesichtszüge, kleine Hörner und einen langen Schwanz, der hinter ihm zuckte, aber es war höchstens einen Meter groß, und die Flügel auf seinem Rücken waren hauchdünn und besaßen ein wunderschönes Muster in leuchtenden Farben.
Der kleine Gargyle bewegte sich quer durch den Raum und rümpfte die Nase, als er den finster dreinblickenden Vampir ansah. »Endlich! Ich will dein Personal ja nicht kritisieren, Styx, aber ich glaube, deine Leute sind nicht ganz richtig im Kopf, wenn du verstehst, was ich meine. Sie haben versucht, mich aufzuhalten. Moi
Styx umrundete das Bett, um den winzigen Dämon wütend anzufunkeln. »Ich wünschte, nicht gestört zu werden! Sie befolgten nur meine Anweisungen.«
»Gestört? Als ob ich eine Störung darstellen könnte!« Levet richtete den Blick auf die stumme Darcy. Sie war überrascht, als sie hinter den grauen Augen eine zarte Seele erkennen konnte. In diesen Dingen irrte sie sich nie.
»Oh, sie ist wirklich so schön, wie Viper behauptet hat. Und so jung!« Der Gargyle schnalzte anerkennend mit der Zunge, näherte sich dem Bett und stellte das Tablett neben ihr ab. »Du solltest dich schämen, Styx! Hier, bitte, mignon. Ein gemischter Salat und ein paar Früchte.«
Darcys Magen knurrte dankbar. Sie war dabei zu verhungern, und das Essen sah köstlich aus. »Vielen Dank.« Sie warf ihm ein Lächeln zu und griff nach einem Apfelschnitz.
Das Lächeln des Kleinen enthüllte mehrere Reihen spitzer Zähne, als er sich tief vor ihr verbeugte. »Erlauben Sie mir, mich vorzustellen, da unser Gastgeber die Manieren eines Giftpilzes besitzt? Ich bin Levet. Und Sie sind Darcy Smith?«
»Ja.«
»Ich wurde von meiner lieben Freundin Shay geschickt, um sicherzustellen, dass Sie es bequem haben. Offensichtlich ist sie mit unserem grimmigen Kameraden vertraut genug, um zu wissen, dass Sie etwas Bequemlichkeit brauchen werden.« Er hob seine knotige Hand. »Wohlgemerkt, ich bin normalerweise nicht für diese Art von Empfang zuständig. Ich habe zahlreiche sehr wichtige Verpflichtungen, die ich jetzt verschieben musste, um für Sie zu sorgen.«
Darcy blinzelte. Sie war sich nicht sicher, was sie von dem Dämon halten sollte. Er wirkte nicht gefährlich, aber andererseits hätte sie auch nicht gedacht, dass Styx der Typ wäre, der sie den Wölfen zum Fraß vorwarf. »Das war sehr nett«, sagte sie vorsichtig.
Der Gargyle versuchte vergeblich, Bescheidenheit vorzutäuschen, als sich der Vampir direkt neben ihn stellte. Die Bewegung war so schnell gewesen, dass Darcy ihr nicht mit den Augen hatte folgen können.
»Levet …«, knurrte Styx warnend.
»Non, non. Danke mir nicht. Na gut, außer in Form von Geld.« Er seufzte schwer auf. »Du glaubst nicht, wie schwierig es für einen Gargylen ist, in dieser Stadt anständig zu verdienen.«
Das bronzefarbene Gesicht zeigte einen distanzierten Ausdruck. »Ich hege nicht die Absicht, dir zu danken. Tatsächlich wäre Dankbarkeit das Letzte, woran ich denken würde!«
Schockierenderweise reagierte der Gargyle darauf, indem er verächtlich schnaubte. »Sei nicht so ein alter Griesgram! Du hast das arme Mädchen verängstigt.«
»Sie ist nicht verängstigt.«
Darcy schob das Kinn vor. Sie würde auf gar keinen Fall zulassen, dass der Vampir für sie sprach. »Doch, bin ich.«
»Ha! Siehst du?« Levet grinste Styx selbstgefällig an, bevor er Darcy wieder seine Aufmerksamkeit zuwandte. »Essen Sie jetzt in Ruhe Ihr Abendessen. Ich werde nicht zulassen, dass der böse Vampir Ihnen etwas antut!«
»Levet!« Styx beugte sich herab und packte den Gargylen an der Schulter.
Darcy hatte keine Ahnung, ob er das tat, um ihn zu schütteln oder um ihn durch das Fenster zu werfen.
»Autsch!« Levet machte hastig einen Schritt nach hinten. »Meine Flügel! Fass meine Flügel nicht an!«
Styx schloss kurz die Augen. Vielleicht zählte er bis hundert. »Ich denke, ich werde mit Viper reden müssen!«, schnarrte er, drehte sich auf dem Absatz um und rauschte zur Tür.
»Tu das, mon ami«, erwiderte Levet. »Oh, und wenn du mit dieser reizenden Haushälterin sprichst, sag ihr bitte, dass sie sich nicht mit dem Abendessen für mich aufhalten soll. Ich ziehe es vor, selbst zu jagen.«
Der feurige Blick des Vampirs wanderte über Darcys blasses Gesicht. »Tun wir das nicht alle …?«
 
Es war Styx gelungen, Viper zu einem anderen seiner exklusiven Clubs zu verfolgen. Dieser hier befand sich in der Nähe von Rockport und zielte auf die Dämonen ab, die den grausamen Sport des Käfigkampfes dem Glücksspiel oder den sexuellen Ausschweifungen vorzogen. Styx ignorierte die beiden Dämonen, die einander zu blutigem Brei schlugen, sowie die Menge, die sie mit grausamer Wildheit anfeuerte, und steuerte auf das Büro im Hinterzimmer zu.
Wie erwartet, fand er Viper hinter seinem Schreibtisch aus schwerem Mahagoni. Er sah einen Stapel Papiere durch und erhob sich, als Styx den Raum betrat und die Tür schloss.
»Styx, ich hatte dich heute Abend gar nicht erwartet! Hat dein Gast das Haus schon wieder verlassen?«
Styx kniff mit kalter Miene die Augen zusammen. »Welchen Gast meinst du? Etwa die Frau, die ich entführen musste, um einen blutigen Krieg mit den Werwölfen zu vermeiden, oder vielleicht den kleinen, lästigen Gargylen, der mich eines Tages noch dazu bringen wird, einen Mord zu begehen?«
Viper war wenig erfolgreich bei dem Versuch, seine Belustigung zu verbergen. »Ah, dann ist Levet eingetroffen?«
»Er ist eingetroffen. Nun möchte ich, dass er geht.«
Der jüngere Vampir lehnte sich gegen den Schreibtisch und verschränkte seine Arme vor der Brust. »Nicht, dass ich deinen Schmerz nicht nachempfinden könnte, alter Freund, aber bedauerlicherweise hatte ich nichts damit zu tun, dass Levet zu dir geschickt wurde. Es war Shay, die darauf bestand, dass dein Gast einen Kameraden brauchen würde. Sie ist überzeugt davon, dass du das arme Mädchen unglücklich machen wirst.«
Styx erstarrte. Bei den Göttern, er hatte Darcy doch mit außerordentlicher Aufmerksamkeit behandelt! Hatte er etwa nicht dafür gesorgt, dass sie alle Annehmlichkeiten erhielt, die sie benötigte? Hatte er ihr etwa nicht ihre vielen Fragen beantwortet? Und hatte er nicht trotz aller Versuchung den heftigen Drang bekämpft, sich zu ihr zu legen und in ihrer Hitze zu versinken?
»Ich habe ihr kein Leid zugefügt!«, entgegnete er in einem warnenden Tonfall.
Viper zuckte die Achseln. »Nun, zu Shays Verteidigung muss ich sagen, dass du mich bei meinem letzten Besuch recht grausam foltern ließest und die feste Absicht hegtest, Shay zu opfern. Womöglich ist sie dadurch etwas voreingenommen …«
Styx weigerte sich, eine Entschuldigung auszusprechen. Er hatte nur so gehandelt, weil es seine Pflicht war, die Vampire auf diese Weise vor dem Ruin zu bewahren. Und schließlich war er gezwungen gewesen, seinen eigenen Sinn für Loyalität zu verraten, um Viper zu helfen.
»Ich stellte mich aber auch einem tödlichen Angriff gegen dich in den Weg«, erinnerte Styx Viper kühl.
Viper seufzte auf. »Weshalb beharren immer wieder Leute darauf, zu behaupten, sie hätten mir das Leben gerettet?«
»Zweifelsohne, weil es der Wahrheit entspricht.«
»Nun gut.« Der jüngere Vampir hob die Hände. »Vielleicht - und ich betone, vielleicht - hast du einen hässlichen Schlag hingenommen, der für mich bestimmt war, aber das macht dich nicht zu Martha Stewart.«
Styx blinzelte verwirrt. »Zu wem?«
»Große Götter, du bist wirklich nicht mehr auf dem Laufenden! Und ich möchte dich daran erinnern, dass du wenig Erfahrung damit hast, mit Menschen umzugehen. Insbesondere mit Menschenfrauen.«
Styx bemerkte, dass er die Zähne zusammenbiss. Wie gut die Absichten auch immer sein mochten - niemandem war es gestattet, sich in seine Beziehung zu Darcy Smith einzumischen!
»Das Mädchen hat von mir nichts zu befürchten.« Seine Augen verengten sich. »Und wenn doch, könnte der Gargyle mich kaum davon abhalten, ihr etwas anzutun.«
»Ich glaube, dass Shay hoffte, Levet könne eine Beruhigung bedeuten. Es kann für die Frau nicht leicht sein, von einem Vampir entführt worden zu sein.« Viper warf ihm einen durchdringenden Blick zu. »Insbesondere von einem Vampir, der die vergangenen fünf Jahrhunderte beinahe vollkommen isoliert lebte. Deine Fähigkeiten, mit Menschen umzugehen, sind ein wenig eingerostet, alter Freund.«
»Und sie denkt, Levet wäre ein Trost?«, verlangte Styx zu wissen. »Es ist doch wahrscheinlicher, dass der Gargyle die arme Frau in den Wahnsinn treiben wird und es meine Aufgabe sein wird, Maßnahmen zu ergreifen, um sie vor dem Durchdrehen zu bewahren!«
Viper stieß sich mit harter Miene von seinem Schreibtisch ab. »Shay mag die kleine Bestie recht gern, und ich würde es sehr schlecht aufnehmen, falls dieser etwas zustoßen sollte.«
Gefahr lag in der Luft.
»Drohst du mir etwa?«
Viper ignorierte die gefährliche Schärfe in Styx’ Stimme. »Ich gebe dir einen freundschaftlichen Rat.« Mit einer fließenden Bewegung wandte sich Viper einem eingebauten Kühlschrank zu und nahm zwei Blutbeutel heraus. Nachdem er die Beutel in einem Mikrowellenherd erhitzt hatte, goss er das Blut in kristallene Kelche und reichte Styx einen davon. »Nun, wenn du schon einmal hier bist, weshalb erzählst du mir nicht ein wenig von dieser Frau? Hast du herausgefunden, aus welchem Grunde sie für die Werwölfe von so großer Bedeutung ist?«
Styx leerte den Kelch und stellte ihn dann beiseite. Es war bereits Stunden her, dass er zuletzt Nahrung zu sich genommen hatte. Er würde mehr darauf achten müssen, wenn er einen Menschen unter seinem Dach beherbergen wollte. Seine Selbstbeherrschung war hervorragend, doch Darcy bedeutete in mehr als nur einer Hinsicht eine Versuchung für ihn. »Ich habe nicht mehr als die Tatsache herausgefunden, dass sie keine Frau ist«, gestand er.
Viper gab einen erstickten Laut der Überraschung von sich, während er hastig seinen Kelch abstellte. »Keine Frau? Jetzt erzähle mir bloß nicht, dass sie eigentlich ein Er ist.«
Es dauerte eine ganze Weile, bis Styx Vipers Worte verstand. »Nein, natürlich nicht. Sie ist … entschieden weiblich, aber nicht vollständig menschlich.«
»Was ist sie denn?«
Styx schüttelte ungeduldig den Kopf. Es war ärgerlich, dass er zugeben musste, nicht imstande zu sein, das Geheimnis um Darcys Blut zu lüften. Immerhin war er ein Vampir und Blut war seine Spezialität. »Ich weiß es nicht. Sie riecht wie ein Mensch und benimmt sich auch so, aber sie besitzt dämonische Eigenschaften.«
Viper sah ihn neugierig an. »Was für Eigenschaften?«
»Ihr Körper heilt viel zu schnell für eine Sterbliche, und seit der Pubertät ist sie nicht mehr gealtert. Außerdem sagt sie, sie sei schneller und stärker als die meisten Menschen.«
»Das klingt nach Dämonenblut.« Viper runzelte die Stirn. »Aber sie muss doch wissen, was sie ist!«
»Sie behauptet, keine Erinnerung an ihre Eltern oder den Rest ihrer Familie zu besitzen.«
»Glaubst du ihr?«
»Ja«, antwortete Styx entschieden. »Sie war ernstlich beunruhigt über ihre ungewöhnlichen Kräfte.«
Viper schritt auf dem seltenen Perserteppich hin und her und dachte über diese unerwartete Wendung nach. Wie Styx trug er schwarze Kleidung: ein Hemd aus feinster Seide und eine Hose aus prachtvollem Samt. Der silberhaarige Vampir hatte es schon immer genossen, seine Lebenseinstellung über die Auswahl seiner Kleidung auszudrücken. Styx hatte sich für einen dicken schwarzen Pullover und eine Lederhose mit Stiefeln entschieden. Für ihn hingegen handelte es sich nicht um eine Modeaussage, sondern nur um Kleidung, mit der er seinen Körper verhüllte und die ihn nicht behinderte, falls er gezwungen sein sollte zu kämpfen. Eitel war er nur, was die Bronzeringe betraf, die seinen langen Zopf zusammenhielten.
Viper drehte sich um und hob die Hände. »Mischlinge sind nicht so ungewöhnlich! Shay ist selbst ein Mischling. Aber die meisten Mischlinge verfügen zumindest über einige Kenntnisse ihrer Abstammung. Meinst du, das Mischblut der Frau ist der Grund, weshalb die Werwölfe Interesse an ihr zeigen?«
Das war auch Styx’ erster Gedanke gewesen. »Das ist unmöglich zu sagen. Nicht, bevor wir mehr wissen.«
»Und wie ist sie so?«
»Was meinst du?«
Viper verzog langsam die Lippen zu einem Lächeln. »Ist sie so schön, wie es das Foto versprochen hat?«
Nun war es an Styx, den Raum mit seinen Schritten zu durchmessen. Die reine Erwähnung von Darcys Namen reichte aus, um ihm ein Gefühl der Rastlosigkeit zu geben. Noch schlimmer war allerdings die Tatsache, dass das Bild ihres herzförmigen Gesichts nur allzu leicht heraufzubeschwören war - als ob es in seinem Geist lauerte und nur auf eine Gelegenheit wartete, ihn zu verfolgen. »Was für eine Rolle spielt das?«, murmelte er. »Sie ist meine Gefangene.«
Viper lachte leise und mit offensichtlichem Vergnügen. »Ich nehme an, das soll ›ja‹ heißen.«
Styx drehte sich um. Seine Miene war hart. »Ja, sie ist … erstaunlich schön. Wie ein Engel.«
Vipers Belustigung ließ nicht nach. »Du scheinst aber nicht so zufrieden zu sein, wie du es eigentlich solltest, mein Freund.«
»Sie ist … unberechenbar«, gab Styx widerstrebend zu.
»Wenn in ihren Adern auch nur ein Tropfen menschlichen Bluts fließt, ist sie zwangsläufig unberechenbar!«, erwiderte Viper.
»Das macht es schwierig, zu wissen, wie man sie behandeln muss.«
Viper trat einige Schritte vor, um Styx die Schulter zu tätscheln. »Wenn du vergessen hast, wie man mit einer schönen Frau umgeht, Styx, dann befürchte ich, dass für dich keine Hoffnung mehr besteht.«
Styx widerstand dem Drang, den jüngeren Vampir durch den Raum zu schleudern. Er verlor nie die Kontrolle über seine Gefühle. Niemals. Er konnte nur annehmen, dass seine große Verantwortung mehr Tribut von ihm forderte, als ihm bewusst gewesen war. Das war zumindest eine annehmbare Entschuldigung.
»Ich halte sie nicht zu meinem Vergnügen gefangen.«
»Das bedeutet nicht, dass du ihre Anwesenheit nicht genießen kannst. Du musst nicht länger das Leben eines Mönchs führen. Weshalb solltest du die Situation nicht ausnutzen?«
Styx’ gesamter Körper wurde hart, wenn er sich nur vorstellte, der rohen Begierde nachzugeben. Bei den Göttern, er wünschte sich nichts sehnlicher, als die Situation auszunutzen … Warmes weibliches Fleisch … Frisches, unschuldiges Blut …
»Sie befindet sich nur unter meinem Dach, damit ich mit Salvatore verhandeln kann!«, erwiderte er scharf und mehr, um sich selbst an diese Tatsache zu erinnern als seinen Freund. »Sehr bald wird sie verschwunden sein.«
Viper studierte ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Was, wenn die Werwölfe die Absicht haben, ihr Schaden zuzufügen? Wirst du sie ihnen dann immer noch übergeben?«
Da war sie schon wieder, diese Frage. Diese lächerliche, lästige Frage. »Gefiele es dir besser, wenn ich einen Krieg mit den Werwölfen wegen einer einzigen Frau riskierte?«, entgegnete er mit eisiger Stimme.
Viper lachte auf. »Styx, ich war willens die gesamte Vampirrasse aufs Spiel zu setzen, um Shay zu retten.«
Das entsprach durchaus der Wahrheit. Styx hätte beinahe sowohl Viper als auch Shay getötet.
»Aber sie war deine Gefährtin! Du liebtest sie. Ich glaube dennoch, dass einige Opfer zu groß sind.« Styx ignorierte die eigenartige Enge in seiner Brust. Er wollte nicht wissen, was diese zu bedeuten hatte. »Diese Frau ist für uns unwichtig.«
Viper sah ärgerlicherweise so aus, als sei er von Styx’ Worten nicht überzeugt. »Diese Entscheidung musst du treffen, Styx. Du bist unser Anführer.«
Styx verzog das Gesicht. »Und das ist eine weitaus überschätzte Position, wie ich dir versichern kann!«
Viper drückte seine Schulter. »Du darfst dich nicht zu einer übereilten Entscheidung drängen lassen, mein Freund. Die Werwölfe sind lästig, doch wir können sie in Schach halten, während du herausfindest, was sie von der Frau wollen. Vorher hat es keinen Sinn mit Salvatore zu verhandeln.«
Styx nickte langsam. Das ergab einen Sinn. Wenn er herausfinden konnte, wozu Salvatore Darcy brauchte, war er möglicherweise in der Lage, Verhandlungen ganz zu vermeiden. Wenn dieser Werwolf sie nur inständig genug begehrte, würden die Werwölfe sich allen Forderungen beugen, die Styx an sie haben mochte. »Ein weiser Rat.«
»Ich habe meine guten Momente.«
»Ja, so kurz und flüchtig sie auch sein mögen.«
Viper machte unvermittelt einen Schritt nach hinten, die Augen weit aufgerissen. »War das ein Scherz?«
»Ich habe ebenfalls meine guten Momente«, meinte Styx und steuerte auf die Tür zu.
An der Tür hielt er an, um seinem Freund einen warnenden Blick zuzuwerfen. »Ich werde den Gargylen nur so lange dulden, wie er Darcy keinen Verdruss bereitet. Wenn sie auch nur die Stirn runzelt, wird er sich auf der Straße wiederfinden, wenn nicht sogar Schlimmeres!«
Nachdem er diese Drohung ausgestoßen hatte, verließ Styx das Büro, aber nicht, ohne zuvor das seltsame Lächeln zur Kenntnis genommen zu haben, das sich auf Vipers Gesicht ausgebreitet hatte.