KAPITEL 12
Es war fast Mitternacht, als Darcy aufwachte und sich merkwürdig desorientiert fühlte. Nein, es war mehr als desorientiert, das wurde ihr klar, während sie duschte und sich Jeans und Sweatshirt anzog. In ihrem Kopf herrschte eine Benommenheit, als habe jemand ihn mit Watte vollgestopft.
Das war seltsam, wenn man bedachte, dass sie keinen Kater haben konnte. Sie trank keinen Alkohol (ziemlich ironisch angesichts der Tatsache, dass sie Barkeeperin war). Und sie hatte auch nicht das Gefühl, sich eine Erkältung eingefangen zu haben. Konnte es sein, dass das Blut, das sie Styx gespendet hatte, anfing, seinen Tribut zu fordern?
Beunruhigt durch die leichten Kopfschmerzen und das nagende Gefühl, dass irgendetwas nicht ganz in Ordnung war, ging Darcy die Treppe hinunter. Zweifellos waren eine gute Mahlzeit und etwas frische Luft alles, was sie brauchte.
Und vielleicht ein Vampirkuss oder zwei. Dieser Gedanke reichte, um ihr Blut zu erwärmen und ihr ein schwaches Lächeln auf die Lippen zu zaubern.
Da glitt eine vertraute schweigende Gestalt aus den Schatten am Fuß der Treppe.
»Guten Abend, DeAngelo.«
Der Dämon machte eine kleine Verbeugung, die Darcy jedes Mal wieder überraschte. Obwohl Vampire sich an die gewaltigen Veränderungen, die sie im Lauf der Jahrhunderte wohl erlebten, anzupassen schienen, behielten sie auch ein paar der altertümlichen Manieren bei, die es heutzutage nur noch selten gab.
»Lady Darcy.«
Lady. Sie fuhr sich mit der Hand reumütig durch ihr kurzes Stachelhaar. Nicht sehr passend. »Haben Sie Levet oder Styx gesehen?«
Der Dämon richtete sich wieder auf und betrachtete sie aus den Tiefen seiner Kapuze. »Ich glaube, sie fuhren zu Viper.«
Darcy empfand einen Stich der Enttäuschung, ignorierte ihn aber. Offenbar war sie inzwischen wirklich völlig gaga.
»Okay.« Sie zwang sich zu einem leichten Lächeln. »Ist das Abendessen fertig?«
»Es wurde vorbereitet und wartet in der Küche auf Euch.«
»Super.«
Es folgte wieder eine elegante Verbeugung. »Falls Ihr noch etwas anderes benötigen solltet, braucht Ihr es mir nur zu sagen.«
Darcy ging um den Vampir herum in die Küche. Die Raben machten ihr keine Angst, aber sie machten sie gelegentlich leicht nervös. Sie war nicht daran gewöhnt, so viele Leute um sich herum zu haben, egal, ob Menschen oder Dämonen. Manchmal fühlte sie sich wie ein sonderbares Versuchsobjekt, das von einer Horde Wissenschaftler genau beobachtet wurde. Sogar, wenn sie sie nicht sehen konnte, konnte sie fühlen, wie ihre Blicke sie verfolgten.
Natürlich gibt es auch ein paar Vorteile, dachte sie, als sie die Küche betrat. Sie entdeckte einen Gemüseauflauf, der im Ofen auf sie wartete, und eine große Schüssel mit frischem Obst. Nachdem sie ihren Teller gefüllt hatte, setzte sie sich an den Tisch und freute sich darauf, das schmackhafte Essen zu genießen. Allerdings hatte sie es sich kaum auf dem Stuhl bequem gemacht, als sie von einem Schwindelgefühl überwältigt wurde und fast hinfiel. Was zum Henker war denn das?
Sie hob die Hände und presste sie an ihre Schläfen. Zusammen mit dem Schwindelgefühl war da ein sehr seltsames Gefühl von Déjà-vu in ihrem Kopf. Es fühlte sich an, als ob eine Erinnerung sich anstrengte, an die Oberfläche zu kommen. Darcy versuchte, wegen des unbehaglichen Gefühls, das sie überkam, nicht in Panik zu geraten. Sie holte tief Luft und bemühte sich, irgendeinen Sinn in die Bilder zu bringen, die in ihrem Kopf auftauchten.
Da war etwas … ja, es war Levet. Der Gargyle stand in der Küche und hielt einen Umschlag in der Hand. Und sie griff danach … Was war in dem Umschlag? Bilder. Bilder von ihr. Und von einer anderen Person.
Sie hatte rasende Kopfschmerzen. Und ganz plötzlich sprang sie mit einer heftigen Bewegung auf. »Dieser Hurensohn!«, zischte sie zitternd vor Wut.
 
Styx wusste sofort, dass etwas nicht in Ordnung war, als er auf dem abgelegenen Anwesen auftauchte. Er konnte die vibrierende Anspannung seiner Raben förmlich spüren, sobald er durch das hohe Eisentor fuhr. Nachdem er den Jaguar mit quietschenden Reifen vor der Tür der Villa geparkt hatte, schoss er aus dem Auto und stürmte ins Haus.
Das Erste, was ihm auffiel, war unverkennbarer Rauchgestank. Es hatte gebrannt, und zwar erst kürzlich. Das war in den meisten Häusern von Chicago im Winter vielleicht kein erschreckender Geruch. Menschen verbrannten recht oft Holzscheite, um die Kälte aus dem Norden abzuwehren. Doch ein Vampir ließ es selten zu, dass irgendwo in seiner Nähe ein offenes Feuer brannte. Und insbesondere nicht in seinem Versteck.
Ohne langsamer zu werden, durchquerte Styx den dunklen Eingangsbereich und erreichte das Wohnzimmer, wo er DeAngelo und zwei weitere Raben vorfand, die sich leise unterhielten. Als er eintrat, wandten sie sich um, um ihn mit besorgter Miene anzublicken. Sein Herz zog sich mit plötzlichem Unbehagen zusammen.
»Was ist geschehen?«
»Meister.« DeAngelo vollführte eine tiefe Verbeugung. »Ich fürchte, wir haben versagt.«
Das Unbehagen verwandelte sich in unerträgliche, fürchterliche Angst. »Darcy? Ist ihr etwas zugestoßen?«
»Nein, Mylord, aber sie … entkam«, gestand der andere Vampir mit deutlicher Scham.
Einen Moment lang empfand Styx nichts außer überwältigender Erleichterung. Darcy hatte keinen Schaden genommen! Er hätte alles ertragen können, nur das nicht.
Styx ignorierte die Raben, die ihn eingehend betrachteten. Unglaublich viel Mühe war notwendig, um seinen normalerweise kühlen und logischen Verstand zu ordnen.
Schließlich gelang es ihm, einige zusammenhängende Gedanken zu fassen.
Der erste bestand in der unangenehmen Erkenntnis, dass für Darcy irgendeine dringende Notwendigkeit bestanden haben musste zu fliehen. Er glaubte keinen Augenblick lang, dass sie einfach erwacht und zu der Entscheidung gelangt war, seinen »bösartigen« Klauen entkommen zu wollen. Immerhin war sie bereits seit Tagen bei ihm gewesen und hatte nie Anstrengungen unternommen zu entkommen.
Seine Bemühungen, ihr die Erinnerungen zu nehmen, schienen nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Dieser Gedanke löste ein Gefühl der Furcht in seiner Magengrube aus.
Verdammt, er hätte die Tatsache berücksichtigen sollen, dass sie nicht vollständig menschlich war! Schließlich gab es unzählige Dämonen, die imstande waren, dem Bann eines Vampirs zu widerstehen. Wenn es ihr gelungen war, sich zu erinnern, dann war sie nicht einfach nur verschwunden, sondern es war mehr als wahrscheinlich, dass sie Salvatore aufspürte.
»Wie?«, verlangte er abrupt zu wissen. Seine scharfe Stimme ließ die wartenden Vampire zusammenfahren.
»Sie zündete in der Küche ein Feuer an, und während wir abgelenkt waren, nutzte sie die Tunnel, um sich ihren Weg aus dem Haus zu suchen«, gestand DeAngelo.
Das erklärte den Rauch.
»Klug von ihr«, gab Styx widerstrebend zu. »Es gelang ihr, die einzige sichere Methode herauszufinden, ein Haus voller Vampire abzulenken.«
DeAngelo ließ verärgert seine Fangzähne aufblitzen. »Es war weniger klug, dass wir uns dadurch täuschen ließen. Ich habe keine Entschuldigung dafür.«
Styx tat die düsteren Worte mit einer Handbewegung ab. Alles, woran er denken konnte, war, dass man Darcy folgen und sie dorthin zurückbringen musste, wohin sie gehörte.
»Wie lange ist sie schon fort?«
»Weniger als zwei Stunden.«
»Zwei Stunden?«
»Der Brand wurde kurz nach Mitternacht gelegt, aber wir bemerkten erst vor wenigen Augenblicken, dass Lady Darcy verschwunden ist.«
Eine kalte Furcht umklammerte sein Herz. Zwei Stunden? Das war zu lang. »Verdammt! Sie könnte inzwischen überall sein!«
»Werdet Ihr Euch auf die Suche nach ihr machen?«
Styx fragte sich für einen kurzen Moment, ob sein Stellvertreter den Verstand verloren hatte. Nicht einmal sämtliche Dämonen der Hölle hätten ihn davon abhalten können, Darcy Smith aufzuspüren!
Natürlich wirst du achtgeben müssen, wisperte eine warnende Stimme in seinem Hinterkopf. Er bezweifelte keine Minute, dass das Anwesen ständig von den Werwölfen beobachtet wurde. Doch wenn es Darcy gelungen war, zu verschwinden, ohne von ihnen entdeckt zu werden, wollte er sie ganz gewiss nicht auf diese Tatsache aufmerksam machen.
Mit etwas Glück würde er möglicherweise in der Lage sein, die nervtötende Frau aufzuspüren und zurückzuholen, bevor sie eine Methode entdeckte, mit Salvatore in Kontakt zu treten.
Styx unterdrückte den Drang, enttäuscht aufzuheulen. Er war ein Vampir, der auf kühle Logik und perfekt ausgeführte Pläne angewiesen war. Er vertraute sein Schicksal nicht dem wankelmütigen Glück an! Zumindest hatte er das vor heute Nacht nie getan. Die Götter mochten sich seiner erbarmen.
Das Taxi setzte Darcy an einer verwahrlosten Lagerhalle in einem heruntergekommenen Industriegebiet ab. Es war nicht gerade die hübscheste Gegend. Eigentlich war sie düster, schmutzig und viel zu abgelegen. Aber angesichts des tickenden Taxameters hatte sie nicht besonders viele Möglichkeiten gehabt. Ihr weniges Geld würde sie nicht weit bringen.
Trotzdem war die Lagerhalle südlich von Marengo kein schlechter Ort, um darauf zu warten, dass Gina mit ihren Habseligkeiten eintrudelte. Dies war wohl kaum ein Ort, an dem jemand nach ihr suchen würde, und da die Halle vor einem Vierteljahr fast völlig ausgebrannt war, hatte Darcy die schwache Hoffnung, dass die Horde Vampire, die ihr ohne Zweifel auf den Fersen war, ihre Spur durch den anhaltenden Geruch nicht finden würde. Das war vielleicht nicht gerade der allerbeste aller Pläne, aber es war ja nun auch nicht so, als habe sie ein Dutzend bessere und müsse sich nur einen davon aussuchen.
Sie hatte gewusst, dass sie eine Chance, und zwar nur eine einzige, haben würde, vor Styx zu flüchten. Es war keine Zeit für einen komplizierten und todsicheren Plan gewesen. Sie hatte einen Brand gelegt, ein Gebet gesprochen und war so schnell, wie sie nur konnte, durch die Tunnel verschwunden. Allein die Tatsache, dass sie es geschafft hatte, ein Taxi anzuhalten und so weit zu fahren, war absolut erstaunlich.
Darcy umschlang ihren Oberkörper mit den Armen, um die eisige Kälte zu vertreiben, stampfte mit den Füßen auf und spähte in die tiefschwarze Dunkelheit.
Scheinbar nach einer Ewigkeit hörte sie das unverkennbare Geräusch von Ginas Schrottkarre. Sie rannte zu dem Seitentor, das sie ihrer Freundin als Treffpunkt genannt hatte. Innerhalb kürzester Zeit kam Gina ebenfalls auf die Tür zugeeilt.
»Darcy? O mein Gott, du bist es wirklich!«
Darcy sah sich nervös auf dem leeren Platz um und zog Gina dann in die Lagerhalle. »Natürlich bin ich es. Wen hast du denn erwartet?«
Gina zuckte die Achseln. »Ich dachte, du wärst tot!«
Darcy blinzelte überrascht. »Warum, um alles auf der Welt, dachtest du, dass ich tot wäre?«
Die schlanke Frau stellte die schwere Tasche, die sie trug, auf dem Boden ab. »Du bist ohne ein Wort von der Arbeit verschwunden, du bist nicht ans Handy gegangen, du warst nicht in deiner Wohnung, und der Laden, für den du Pizza auslieferst, hat gesagt, dass du zu keiner von deinen Schichten aufgetaucht wärst. Was sollte ich denn denken?«
»Oh.« Darcy hatte sich nie überlegt, dass jemand denken könne, sie sei gestorben. Himmel. Was war mit ihren Jobs? Mit ihrer Wohnung? Wenn sie wieder auf der Straße landen würde, würde sie diesen verdammten Vampir wirklich pfählen! »Hast du die Polizei gerufen?«
Gina schien überrascht über die Frage zu sein. »Nein.«
»Obwohl du gedacht hast, ich wäre tot?«
»Tot ist tot.« Gina hob hilflos die Hände. »Ist ja nicht so, als ob die Bullen dich zurückholen könnten oder so.«
»Da ist wohl was dran«, gab Darcy reuevoll zu. Sie konnte ihrer Freundin keinen wirklichen Vorwurf machen. Gina tat so einiges, um über die Runden zu kommen, und nicht alles davon war legal. »Hast du es geschafft, die Kohle für mich zu besorgen?«
»Ja, die war in deinem Spind versteckt, wie du gesagt hast.« Gina kniete sich neben die Ledertasche und zog den Reißverschluss auf. »Weißt du, ich wäre nie darauf gekommen, sie in einer Tamponschachtel zu verstecken.«
Darcy kicherte, als Gina ihr den 50-Dollar-Schein gab, den sie immer an unterschiedlichen Stellen versteckte. »Sogar der entschlossenste Dieb scheint allergisch gegen weibliche Hygieneprodukte zu sein.« Sie steckte das Geld in ihre Hosentasche. »Was ist mit der Jacke?«
»Ich habe sie mitgebracht, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass du dieses hässliche Ding trägst.« Gina zog die ausgefranste Armeejacke heraus, die einem der Rausschmeißer gehörte. Sie verzog das Gesicht, als sie sie Darcy gab. »Die riecht wie Hund von hinten. Igitt!«
»Das ist definitiv ein unverwechselbarer Geruch«, stimmte Darcy ihr zu, während sie sich widerstrebend dazu zwang, die schwere Jacke anzuziehen. Sie stank nach Zigarettenqualm, Bier und Dingen, über die sie nicht nachdenken wollte. Ein perfektes Mittel, um ihren eigenen Geruch zu überdecken. Und Gestank hin oder her - sie war jedenfalls warm.
»Ich habe dir auch was zu essen mitgebracht.« Gina wühlte in der Tasche und brachte eine Schachtel mit Müsliriegeln zum Vorschein.
»Danke.«
»Oh … das hätte ich fast vergessen. Erinnerst du dich an den hinreißenden Gangster, der in der Nacht in die Bar kam, als du verschwunden bist?«
Darcy verzog den Mund. Ob sie sich daran erinnerte? Das war in farbenprächtigen Details bis in alle Ewigkeit in ihr Gehirn eingebrannt!
»Der ist ziemlich schwer zu vergessen.«
»Klar.« Gina seufzte tief. »Was für ein Sahneschnittchen.«
»Was ist mit ihm?«
»Er kam vor ein oder zwei Nächten wieder in die Bar und hat das hier für dich dagelassen«, erklärte Gina, während sie aufstand und Darcy den kleinen Gegenstand in die Hand drückte.
»Er hat ein Handy dagelassen?«
»Ja, er meinte, wenn du zurückkommst, würdest du ihn sicher gern damit anrufen.« Ein leichter Anflug von Neid schlich sich in Ginas Blick. »Ganz schön romantisch, wenn du mich fragst.«
Darcys Magen zog sich zusammen. Trotz der Tatsache, dass sie Styx mit der festen Absicht verlassen hatte, den Werwolf zu suchen, hatte sie Salvatores seltsame, besitzergreifende Art und die zahllosen Bilder nicht vergessen, die Levet in seinem Versteck gefunden hatte. Was für ein Mann rannte herum und machte Fotos von fremden Frauen? Ein Irrer, das war wohl die einzig richtige Antwort.
»Nur, wenn man an Männern von der Sorte ›psychotischer Stalker‹ interessiert ist«, murmelte sie.
»Hey, wenn du ihn nicht willst, nehme ich ihn dir gern ab!«, empörte sich Gina.
»Vertrau mir, Gina, du willst mit diesem Typen nichts zu tun haben.«
»Natürlich nicht!« Gina grollte leise. »Was sollte ich auch mit einem umwerfenden Bild von einem Mann, der wundersamerweise nicht schwul ist?!«
Verdammt. Das Letzte, was Darcy wollte, war, dass ihre Freundin es nun auch mit den skrupellosen Dämonen zu tun bekam, die gerade in ihr Leben eingedrungen waren. Leider gab es keine Möglichkeit, Gina wirklich vor den bestehenden Gefahren zu warnen. Nicht, ohne dass Gina annehmen würde, dass sie völlig irrsinnig war.
»Würdest du mir glauben, dass er ein Wolf im Armani-Anzug ist?«
Gina runzelte die Stirn. »Was soll das denn heißen?«
»Halt dich von ihm fern. Er ist … gefährlich.«
»O mein Gott!« Gina schlug sich eine Hand vor den Mund. »Er ist ein Drogenboss, oder?«
Darcy kam zu dem Schluss, dass diese Lüge so gut war wie jede andere. »Etwas in der Art.«
»Typisch.« Gina gab einen angewiderten Laut von sich. »Es ist genau so, wie meine Großmutter immer sagt.«
»Was sagt sie denn?«
»Wenn etwas zu gut zu sein scheint, um wahr zu sein …«
Darcy gab ein freudloses Lachen von sich. »Da rennst du bei mir offene Türen ein, Süße!«, murmelte sie. Ihre Gedanken kehrten zu Styx und der rücksichtslosen Manipulation ihrer Erinnerungen zurück - eine schmerzhafte Angelegenheit. Ihre Finger schlossen sich fest um das Mobiltelefon in ihrer Hand. »Ich muss gehen.«
»Wohin denn?«, fragte Gina.
»Ich bin mir nicht sicher.« Darcy zwang sich zu einem steifen Lächeln. »Danke, Gina, und bitte versprich mir, dass du vorsichtig bist.«
»Ich?« Die andere Frau warf einen anzüglichen Blick auf das extrem baufällige Gebäude. »Ich bin nicht diejenige, die in einer hässlichen Lagerhalle Verstecken spielt.«
»Bitte versprich es mir einfach, okay?«, sagte Darcy bestimmt. Sie würde es sich selbst nie verzeihen, wenn Gina etwas passierte.
»Klar, was auch immer. Ich bin vorsichtig.« Damit drehte sie sich um und verschwand durch die Tür. Sehr bald hörte Darcy, wie ihr Wagen gestartet wurde und dröhnend vom Parkplatz fuhr.
Sie war wieder allein. Mit einem tiefen Atemzug starrte sie auf das Handy, und ein dicker Kloß bildete sich in ihrem Hals. Sie klappte das Gerät auf und warf einen Blick auf die einzige Nummer, die in der Telefonliste gespeichert war.
Sie hatte das Mittel, das sie brauchte, um sich mit Salvatore in Verbindung zu setzen. Alles, was sie jetzt noch brauchte, war der Mut, es auch tatsächlich zu tun.
 
Salvatore befand sich in seinem Büro und befasste sich mit dem großen Stapel von Berichten, die kürzlich aus Italien eingetroffen waren.
Es würde ohne Zweifel die gesamte Dämonenwelt schockieren, wenn sie erfuhr, dass Salvatore über einen Stab der talentiertesten Wissenschaftler und Ärzte auf der ganzen Welt verfügte. Die anderen Dämonen taten Werwölfe gern als wilde Hunde ohne Intelligenz und auf niedrigem Entwicklungsstand ab. Wie sonst hätten sie es rechtfertigen können, die Werwölfe in Gefangenschaft zu halten und zu unterdrücken?
Salvatore war recht zufrieden damit, sie vorerst noch im Dunkeln zu lassen. Eines Tages würden sie erfahren, wie falsch ihre Annahmen waren, aber nicht, bevor auch der letzte Teil seines Plans erfolgreich abgeschlossen war. Und dafür benötigte er Darcy Smith.
Das Bild ihrer feinen Züge hatte sich kaum in seinem Kopf gebildet, als geradezu schicksalhaft sein Mobiltelefon die drückende Stille unterbrach.
Salvatore war ziemlich verärgert über diese Störung. Automatisch warf er einen Blick auf das Display, um festzustellen, wer ihn zu dieser Unzeit störte. Sein Herz blieb stehen, als er die Nummer seines zweiten Mobiltelefons erkannte. Er klappte sein Handy auf und drückte es an sein Ohr, während er aus dem Raum eilte und Fess ein Handzeichen gab, der vor der Tür Wache gehalten hatte.
Am anderen Ende war nur Schweigen zu hören, obgleich sein ungewöhnlich gutes Gehör mit Leichtigkeit Darcys Atem wahrnahm, der stoßweise ging. »Ich kann dich spüren. Sprich mit mir, Darcy!«
»Ich … will ein Treffen«, brachte sie schließlich heraus.
Salvatore sprang mit großen Sätzen die Treppe hinunter, während sein gesamter Körper vor Erregung wie elektrisiert war. Er konnte die besorgte Wachsamkeit in Darcys Stimme fühlen, aber da gab es auch noch etwas anderes. Einen Anflug von Auflehnung. Wie groß Darcys Furcht auch immer sein mochte - sie war entschlossen, ihm entgegenzutreten. Das konnte nur bedeuten, dass der Gargyle ihr das Bild gezeigt hatte, das Salvatore ihm untergeschoben hatte.
»Das möchte ich ebenfalls, cara, obwohl du mir vergeben musst, wenn ich es vorziehe, dass unsere Begegnung an einem anderen Ort stattfindet als in einem Vampirversteck.« Salvatore hatte das Ende der Treppe erreicht und durchquerte die fast vollständig eingestürzte Vorhalle.
»Du bist herzlich eingeladen, mir in meiner bescheidenen Behausung Gesellschaft zu leisten. Es mag nicht elegant sein, aber ich kann dir versprechen, dass du ein überaus gern gesehener Gast sein wirst.«
»Nein. Ich will, dass wir uns irgendwo in der Öffentlichkeit treffen. Irgendwo, wo ich mich sicher fühle.«
Er war nicht beunruhigt über ihren scharfen Ton. Sie war eine intelligente Frau. Es war nur natürlich, dass sie misstrauisch war. Nachdem er das Gebäude verlassen hatte, lief Salvatore geschmeidig zu dem mit laufendem Motor wartenden Hummer und glitt auf den Beifahrersitz. Fess war nicht weniger schnell, als er den Platz hinter dem Steuer einnahm und den Wagen startete.
»Wie oft muss ich dir noch versichern, dass ich dir niemals etwas antun würde, cara?«, fragte Salvatore und schaltete das GPS ein. Er war höchst zufrieden, als das Ortungsgerät, das er in Darcys Mobiltelefon installiert hatte, zum Leben erwachte. Sie befand sich ein ganzes Stück entfernt in einer verlassenen Lagerhalle im Westen der Stadt, aber es gab eine deutliche Distanz zwischen ihr und dem Schutzbereich der Vampire. »Du bist für mich das Wichtigste auf der ganzen Welt.«
Er spürte ihre Ungläubigkeit. Und die schwache Furcht, die sie gepackt hatte. Sie fühlte sich verletzlich, und nur die geringste Beunruhigung würde sie in die Flucht schlagen.
»Treffen wir uns nun an einem öffentlichen Ort oder nicht?«, verlangte sie zu wissen.
»Ich treffe mich mit dir, wo auch immer es dir beliebt«, versicherte er ihr sanft.
»Und ich will, dass Sie mir versprechen, allein zu kommen.«
Salvatore wurde gegen die Tür auf der Beifahrerseite geschleudert, als Fess in einem haarsträubenden Tempo durch die leeren Straßen raste.
»Cara, du musst vernünftig sein. Soweit ich weiß, ist dies eine Falle, die mir von deinem Vampir gestellt wird. Ich bin doch nicht wahnsinnig.«
»Ich auch nicht. Auf gar keinen Fall werde ich mich von einem Rudel Werwölfe umringen lassen.«
»Dann müssen wir einen Kompromiss finden. Ich bin willens, alles zu tun, was nötig ist …«
Ohne Vorwarnung wurden seine beschwichtigenden Worte durch ein leises Schnauben von Darcy unterbrochen. »Sie Hundesohn!«
Salvatore runzelte die Stirn. »Das bin ich tatsächlich, aber weshalb bist du so ärgerlich?«
»Sie sind schon hier, oder? Sie haben mich geortet!«
Sein Blut gefror ihm in den Adern. Das bedeutete bei einem Werwolf einiges, denn sein Blut stand normalerweise eher kurz vor dem Siedepunkt. »Cara, bist du noch dran?«
»Sie sind mir in die Stadt gefolgt oder haben mir irgendwas ins Handy eingebaut.Verdammt, Styx hatte recht! Man kann Ihnen nicht trauen!«
»Darcy, hör mir zu!« Seine Stimme war jetzt heiser vor Eindringlichkeit. »Wer auch immer sich dort bei dir in der Lagerhalle befindet, es handelt sich jedenfalls nicht um mich oder jemanden aus meinem Rudel.«
»Ach ja? Woher wissen Sie dann, dass ich in einer Lagerhalle bin, Salvatore?«, fragte sie. »Geben Sie es zu, Sie haben mich verfolgt.«
Salvatore knurrte leise. Zum ersten Mal in seiner Existenz kämpfte er dagegen an, sich gegen seinen Willen zu verwandeln. Wenn Darcy etwas zustieß …
»Cazzo! Si, das Mobiltelefon wird von meinem Rudel überwacht, aber wir sind noch mehrere Blocks entfernt«, gestand er, wobei er insgeheim zu beurteilen versuchte, wie lange es dauern würde, die Lagerhalle zu erreichen. »Ich weiß nicht, wer sich bei dir in dem Gebäude befindet, aber du bist in Gefahr.«
»Warum sollte ich Ihnen glauben?« Darcy sog hörbar die Luft ein, als in der Ferne ein Heulen ertönte. »Mist.«
Salvatore erkannte das Heulen. Es konnte nur von einem Werwolf stammen. »Hör mir zu, cara! Du musst dort verschwinden, und zwar sofort!«
Ihr Atem war rau durch das Telefon zu hören. »Das fängt allmählich wirklich an, sich wie ein schlechter Horrorfilm anzufühlen.«
Salvatore forderte Fess mit einem Wink auf, noch schneller zu fahren. »Wie bitte?«
»Sie wissen schon, wenn die Polizei anruft, um dem Babysitter mitzuteilen, dass die Drohanrufe aus dem Haus selbst kommen.«
Salvatore schüttelte den Kopf und fragte sich, ob ihre Angst sie in den Wahnsinn getrieben hatte. »Ich kenne diesen Film nicht, aber …« Er verschluckte den Rest des Satzes, als urplötzlich eine atmosphärische Störung sein sensibles Gehör in Mitleidenschaft zog. »Darcy?«
Das Knistern erstarb, als die Verbindung unterbrochen wurde. Salvatore warf das Handy beiseite und starrte die Wolfstöle am Steuer erbost an. »Bring mich innerhalb der nächsten Viertelstunde zu dieser Lagerhalle, sonst verspeise ich dein Herz zum Frühstück!«