KAPITEL 8
Styx knurrte tief in der
Kehle. Die Schmerzen und die Schwäche quälten ihn noch immer, aber
sie waren vergessen, als sich die köstliche Hitze von Darcys Körper
über den seinen legte. Seine Hände strichen ungeduldig über ihre
seidige Haut, während er sich an ihrem Kiefer entlangknabberte.
Sein Hunger brüllte in seinem Inneren, doch er zwang sich, jeden
süßen Kuss, jeden kleinen Biss seiner Zähne und jede Liebkosung
seiner Hände zu genießen.
Ihr weiches Herz hatte sie heute Nacht in seine
Arme geführt. Wer wusste, ob er je wieder eine solche Gelegenheit
erleben würde?
Er zeichnete die Ader an ihrem Hals mit seiner
Zunge nach. Genießen! Seine Hände zogen ihr ungeduldig ihren
schweren Morgenmantel aus und warfen ihn auf den Fußboden. Und - er
zog an Darcys Beinen, bis sie rittlings auf seiner sehnsuchtsvollen
Erektion saß - genießen!
Ihr stockte der Atem, als er seine Härte gegen sie
presste. Styx hielt inne und bereitete sich darauf vor, dass sie
sich zurückziehen würde. Ihr Körper war weich und begierig, aber er
kannte die Menschen gut genug, um zu wissen, dass sie sich oft
selbst das verweigerten, was sie am innigsten ersehnten.
Es folgte ein Moment der Anspannung, der sich für
Styx wie eine Ewigkeit anfühlte. Dann vergrub Darcy ihr Gesicht in
seinem Haar und bewegte ihre Hüften - eine unwiderstehliche
Einladung.
»Darcy.« Es gelang ihm, sich die Fetzen seines
Hemdes vom Leib zu reißen, um ihre Hitze auf seinem Körper zu
spüren, bevor er den Kopf hob und reibungslos mit seinen Fangzähnen
durch ihr weiches Fleisch glitt.
Sie keuchte auf, verblüfft über die Lust, die
dadurch in ihr hervorgerufen wurde, und Styx trank zart und
vorsichtig Schluck um Schluck von ihrem kostbaren Blut. Der
Lebenssaft strömte durch seinen Körper, ließ seine Wunden heilen
und weckte Gefühle in ihm, die ihn vor Begehren erbeben
ließen.
Es war ein Begehren, das weit über die reine
Nahrungsaufnahme hinausging. Über die Heilung. Selbst über Sex. Es
war ein Begehren, das von einem Ort tief in seinem Innern stammte,
von dem Styx vergessen hatte, dass es ihn überhaupt gab.
Er stöhnte unter Darcys Fingern, die durch sein
Haar glitten, und ließ seine Hände über die Wölbung ihres Hinterns
bis hin zu der weichen Haut innen an ihren Oberschenkeln
wandern.
Darcys Haut war warm und so glatt wie Seide. Seine
Fingerspitzen strichen über ihre Haut bis zu ihren Kniekehlen und
dann wieder zurück zwischen ihre Beine.
»O Gott«, stöhnte sie, als er einen Finger in ihre
Nässe tauchte.
Styx zog seine Fangzähne ein, leckte über die
kleinen Wunden, bis sie sich geschlossen hatten, und ließ seine
Lippen an ihrem Hals entlang nach unten und über ihre Schulter
wandern. Bei den Göttern, sie schmeckte nach
Unschuld. Es war die Art von Unschuld, die aus Seele und Herz
stammte. Das war die Art von erotischer Versuchung, die einen
Vampir in den Wahnsinn treiben konnte.
»Mein Engel, ich will in dir sein. Ich will spüren,
wie du mich umschließt«, sagte er mit rauer Stimme.
»Ja!« Ihr Gesicht presste sich gegen seinen Hals,
und ihr heißer Atem ließ blitzartig ein wonnevolles Gefühl in ihm
entstehen. »Ja, das will ich auch.«
Eigentlich hatte er beabsichtigt, etwas
Romantisches und Charmantes zu antworten, aber es gelang ihm nicht
mehr als ein leises Knurren, als sie seinem Hals einen scharfen
Biss verpasste. Verzweifeltes Verlangen durchströmte seinen Körper,
und er ließ seinen Finger in ihre Nässe gleiten, während er die
andere Hand dazu nutzte, hastig seine Hose auszuziehen.
In diesem Augenblick war er nicht der geschickte
vampirische Liebhaber, der mit unnahbarer Distanziertheit Genuss
bot. Er war nur ein Mann, der verzweifelt danach strebte, in eine
Frau einzudringen, die ihn vor Verlangen wahnsinnig machte.
»Mein Engel, ich kann nicht länger warten«,
flüsterte er und küsste sich an ihrem Schlüsselbein entlang bis hin
zu der Wölbung ihrer Brust.
Ihre Finger rissen an seinem Haar, doch der leichte
Schmerz fachte Styx’ fieberhafte Leidenschaft nur noch mehr
an.
»Dann lass es doch, das Warten!«, befahl sie
heiser.
Er nahm ihre Brustwarze mit dem Mund gefangen und
presste seine Fangzähne sanft gegen ihre Haut, während er Darcy auf
seine Erektion hob und tief in ihre Hitze eindrang.
Darcy keuchte überrascht auf. Sie warf den Kopf in
den
Nacken, und ihre Fingernägel gruben sich in seine Schultern.
Styx hielt inne, um ihr einen Moment zu geben, sich
an die neue Empfindung zu gewöhnen. Und sich selbst einen Moment,
um seine Selbstbeherrschung wiederzufinden.
Nichts hatte sich je so gut angefühlt, wie in ihrem
Körper zu sein, und ihre feuchte Enge übte Druck auf ihn aus, bis
er befürchtete, nicht mehr als einmal zustoßen zu können.
Styx wartete ab, bis Darcy ihre Hüften von selbst
zu bewegen begann, dann übernahm er ihren langsamen Rhythmus und
drang immer tiefer in sie ein. Seine Augen schlossen sich, als der
Genuss seinen Körper überflutete. Sie zu riechen, sie zu berühren,
ihre Hitze zu spüren, all das hüllte ihn in eine dunkle
Glückseligkeit ein.
»Styx …«, flüsterte sie, und ihr Atem ging
keuchend.
Er trank noch mehr von ihrem Blut und umklammerte
ihre Hüften mit den Händen, als er wieder und wieder in sie
eindrang. Kein Laut war zu hören außer der Vereinigung ihres
Fleisches und Darcys leisem, lustvollem Aufstöhnen. Die Raben
hielten wohl draußen Wache, und der Gargyle richtete zweifelsohne
irgendwo ein Durcheinander an. In diesem Zimmer jedoch lag die
Außenwelt in weiter Ferne, und es gab nichts außer dieser Frau, die
sich allmählich in einen viel zu notwendigen Bestandteil seines
Lebens verwandelte.
Styx öffnete die Augen, um zu sehen, wie Darcy sich
über ihm bewegte, und beschleunigte das Tempo. Er konnte ihren
Höhepunkt spüren, der kurz bevorstand. Nur einen Augenblick lang
wurde er von der reinen Schönheit ihres Gesichts abgelenkt, das in
der Leidenschaft
gefangen war. Die leicht geröteten Züge. Die Augen, so dunkel und
halb geschlossen. Die Lippen, die vor Leidenschaft geöffnet waren.
Er wünschte sich, dass sich dieser Anblick für alle Zeiten in sein
Gedächtnis einbrannte.
Darcy schrie leicht auf, als der Orgasmus sie
überwältigte, und als sich die Muskeln in ihrem Unterleib um seine
Erektion zusammenzogen, erreichte auch er seinen Höhepunkt.
Die Erlösung traf ihn mit schockierender Macht. Mit
einem Ächzen hob er die Hüften vom Bett und drang so tief in sie
ein, wie er nur konnte.
»Verdammte Hölle, mein Engel«, keuchte er.
»Wow.« Sie ließ sich mit einem tiefen Seufzer auf
seine Brust fallen. »Ist dein Körper geheilt?«
Styx schmunzelte, als er einen Blick auf die Stelle
warf, an der der Pfeil seinen Brustkorb durchbohrt hatte. Er hatte
die Verletzung völlig vergessen. »Ich bin so gut wie neu«,
antwortete er.
»So gut wie neu?« Darcy stützte sich mit den Armen
auf, um ihre eigene Diagnose zu stellen. Styx stöhnte auf, denn
ihre Bewegung sorgte dafür, dass er erneut in ihr hart wurde. Sie
schien sich der Gefahr nicht bewusst zu sein, sondern starrte mit
offensichtlichem Interesse auf seine Brust. »Großer Gott, da ist ja
kaum noch was zu sehen!«
»Dein Blut ist weitaus mächtiger als das der
meisten Menschen«, erklärte er heiser.
Sie schien nicht glücklich darüber, daran erinnert
zu werden, dass sie nicht vollkommen menschlich war. »Da hast du ja
ein Wahnsinnstattoo«, sagte sie, offenbar fest entschlossen, das
Thema zu wechseln.
Styx warf einen Blick nach unten auf den goldenen
Drachen mit den karmesinroten Flügeln, der auf seiner Haut zu sehen
war. Er besaß ihn nun schon so viele Jahre, dass er sich nur selten
daran erinnerte, das Dämonenmal überhaupt zu tragen.
»Es ist keine Tätowierung.«
Sie wölbte ungläubig die Brauen. »Du willst mir
aber nicht erzählen, dass es ein Muttermal ist.«
»Nein. Es ist das Mal von Cú Chulainn.«
Sie sah ihn verständnislos an. »Und was ist das
genau?«
Styx schwieg einen Moment. Er stellte fest, dass es
ihm widerstrebte, über die gewalttätige Entscheidungsschlacht zu
sprechen. Nicht aus Sorge, womöglich Geheimnisse zu verraten,
sondern ganz einfach aufgrund von Darcys natürlicher
Unschuld.
»Es ist das Mal eines Clanchefs«, gab er
schließlich zu. »Es wird verliehen, wenn man die Schlacht von
Durotriges überstanden hat.«
Darcy zog ihre hübsche Nase kraus. »Ich mag gar
nicht weiter fragen!«
»Es handelt sich dabei um eine Methode, unsere
Anführer zu wählen. Ich versichere dir, dass dadurch, wenngleich
blutig und häufig tödlich, offene Kriege vermieden werden.«
Darcy war durch seine Behauptung nicht beeindruckt.
Natürlich hatte sie keine Vorstellung von den endlosen Jahren
barbarischer Kampfhandlungen, die sie hatten ertragen müssen. Oder
von dem brutalen Gemetzel glückloser Dämonen, die in dem
Schlachtengetümmel gefangen waren.
Styx jedoch erinnerte sich an das alles nur zu
lebhaft.
Das war der einzige Grund, weshalb er zugestimmt hatte, sich in
die Position des Anasso drängen zu lassen.
»Habt ihr je daran gedacht, einfach einen neuen
Anführer zu wählen?«
Seine Finger umklammerten ihre Hüften, als sie sich
bewegte und damit reine Hitze in seinem gesamten Körper aufflammen
ließ. »Wir sind noch nicht so zivilisiert, mein Engel«, erwiderte
er mit rauer Stimme. »Davon abgesehen, benötigen wir etwas
Vergnügen.«
In Darcys Blick war ein Anflug von Tadel zu
erkennen. »Es gibt deutlich weniger gewalttätige Methoden, Spaß zu
haben.«
»Ich stimme dir vollkommen zu, mein Engel.« Mit
einer kalkulierten Bewegung schob er seine Hüften nach oben und
lächelte süffisant, als sie leise aufkeuchte. »Möchtest du, dass
ich sie dir demonstriere?«
»Ich finde, du hast mir gerade genug
demonstriert!«, ermahnte sie ihn. Ihr Körper schien dem allerdings
nicht zuzustimmen.
Tatsächlich reagierte sie umgehend mit Erregung,
als er langsam begann, in einem gleichmäßigen Tempo
zuzustoßen.
»Es ist niemals genug«, flüsterte er. »Ich werde
niemals genug von dir haben, mein Engel.«
»Styx …«
Was auch immer sie sagen wollte, es verlor sich im
Nichts, als er sie abrupt auf den Rücken drehte und sich auf sie
legte.
Irgendwann würde der Morgen dämmern, und er würde
schlafen müssen, um wieder zu Kräften zu kommen.
Und er hatte die Absicht, bis dahin diese rare Zeit
allein mit seiner wunderschönen Gefangenen voll auszukosten.
Erst Stunden später kehrte Darcy in ihre Räumlichkeiten zurück und
stieg in eine Badewanne mit heißem Wasser, um ihren erschöpften
Körper einzuweichen. Ihr tat alles weh, aber es war die süßeste Art
von Schmerz, die es gab. Süß und ziemlich furchterregend.
Darcy schloss die Augen, während sie sich in der
riesigen Wanne treiben ließ, und seufzte leicht auf. Es war nicht
so, dass sie Angst vor Styx gehabt hätte, auch wenn er sie ganz
schön beunruhigen konnte, wenn er wollte. Es waren eher ihre
eigenen Reaktionen, die in ihr ein unbehagliches Gefühl auslösten.
Toller Sex war eine Sache - etwas, was nie
als selbstverständlich hingenommen oder mit einem Schulterzucken
abgetan werden sollte. Aber die vergangenen Stunden mit Styx waren
weit über Sex hinausgegangen.
In seine Arme gekuschelt, hatte sie sich auf eine
Art wertgeschätzt gefühlt, wie sie es noch nie vorher erlebt hatte.
Als sei sie mehr als nur ein warmer Körper und eine praktische
Blutspenderin gewesen. Als seien sie beide über das reine Fleisch
hinaus miteinander verbunden gewesen.
Als … als sei sie nicht mehr ganz so allein auf der
Welt gewesen.
Beunruhigt durch ihre Gefühle, schrubbte sich Darcy
energisch sauber, bevor sie die Wanne verließ und dankbar ihre
eigenen Jeans und ein bequemes Sweatshirt anzog.
Es war eine Erleichterung, ihre eigene Kleidung zu
haben. Ein Gefühl der Vertrautheit in der fremden Umgebung.
Nachdem sie sich die Zähne geputzt hatte und mit
einem Kamm durch ihre Haare gefahren war, ging sie wieder nach
unten.
Die Sonne war gerade untergegangen, als Darcy in
die
Küche kam, aber nirgendwo regte sich etwas. Zweifellos huschten
die Raben durch die Tunnel, um dafür zu sorgen, dass nichts die
Chance bekam, sich an ihren Meister heranzuschleichen, und Levet
durchforstete wohl gerade den Wald auf der Suche nach
Wildtieren.
Zum Glück hatte die Haushälterin ihr das Abendessen
hingestellt. Sie war eine wirklich begabte Köchin, die es geschafft
hatte, ein Tofugericht im Wok zuzubereiten, das Darcy geradezu auf
der Zunge zerging. Wenn ich erst genug Geld habe, um meinen eigenen
Naturkostladen zu eröffnen, kann ich diese Frau vielleicht von
Viper weglocken, dachte sie. Ein paar Fertiggerichte, die so
schmeckten wie dieses hier, würden ihr Kundinnen und Kunden aus der
gesamten Stadt einbringen.
Nachdem sie ihr Abendessen verputzt hatte, spülte
Darcy das Geschirr und wanderte dann ziellos umher, bis sie zum
Wintergarten kam. Obwohl sie die meiste Zeit ihres Lebens allein
gelebt hatte, kam es ihr so vor, als ob die ungeheure Größe des
Hauses ihr Gefühl der Isolation noch verstärkte.
Oder vielleicht gewöhnte sie sich nur einfach zu
sehr an Styx’ Gesellschaft? Ein gefährlicher Gedanke.
Sie schüttelte entschlossen die aufkeimende Panik
ab, betrat den Wintergarten und machte sich daran, sich um die
Pflanzen zu kümmern, die sich allmählich erholten. Sie brauchte
keinen attraktiven, lästigen Vampir, um ihrem Leben eine Bedeutung
zu geben. Wenn sie in den vergangen dreißig Jahren auch vielleicht
nichts anderes gelernt hatte, dann doch wenigstens das, dass sie
sich auf sich selbst verlassen musste, um Erfüllung zu
finden.
Sie summte leise vor sich hin, während sie die
Pflanzen mit Wasser besprühte und behutsam einige verwelkende
Blätter abpflückte. Gerade dachte sie darüber nach, ob es wohl
nötig war, ihren stark wuchernden Farn zurückzuschneiden, als ganz
plötzlich ein Geräusch hinter ihr ertönte, das sie dazu brachte,
herumzuwirbeln. Ihre Überraschung wurde noch größer, als sie die
schlanke Frau mit dem langen schwarzen Haar, der seltsam
bronzefarbenen Haut und den goldenen Augen sah, die auf sie
zukam.
Die Fremde war umwerfend schön, aber obwohl Darcys
Blick ungeschult war, hatte sie das Gefühl, dass sie etwas anderes
als ein Mensch sein musste. Kein Vampir. Aber auch kein
Mensch.
Die Frau blieb direkt vor Darcy stehen und begann
allmählich zu lächeln. Augenblicklich war jede Unsicherheit, die
Darcy wegen ihres weniger-als-menschlichen Status empfunden hatte,
vergessen. In diesem Lächeln lag eine außerordentliche
Freundlichkeit.
»Störe ich Sie?«, fragte die Frau sanft.
»Überhaupt nicht.« Darcy neigte den Kopf zur Seite.
»Sind Sie eine Freundin von Styx?«
»Nicht so ganz. Ich bin Shay, und Sie müssen Darcy
sein.«
»Shay.« Es dauerte einen Moment, bis Darcys Augen
sich weiteten. »Vipers … Gefährtin?«
Die Frau lachte leise über ihren zögernden Ton.
»Ja, trotz all meiner Sünden.«
Darcy war sich nicht sicher, warum sie das so
unvorbereitet traf. Shay war mit Sicherheit hinreißend genug, um
die Aufmerksamkeit des eleganten Vampirs auf sich zu ziehen. Aber
an dieser Frau war etwas Bodenständiges und Warmherziges. An Viper
… na ja, nicht so sehr. Bei dem Gedanken an den silberhaarigen
Vampir schlug sich Darcy die Hand vor den Mund. »Oh, Sie sollten
nicht hier sein!«
Shay hob die Augenbrauen. »Ich sollte nicht hier
sein?«
»Ich weiß, dass das Ihr Haus ist, aber ich glaube,
dieser Wintergarten sollte eigentlich eine Überraschung
sein.«
Die Frau lachte, während sie sich in dem schönen
Raum umsah. »Viper ist nicht annähernd so gerissen, wie er glaubt.
Ich weiß seit Wochen, dass er das hier geplant hat.« Sie wandte
ihre Aufmerksamkeit wieder Darcy zu, zwinkerte ihr schelmisch zu
und lächelte sie an. »Aber ich erzähle ihm nichts, wenn Sie es auch
nicht tun. Männer können so sensibel sein, wenn sie denken, sie
seien clever.«
Darcy konnte nicht anders, als das Lächeln zu
erwidern. »Ich sage kein Wort.«
Shay machte es sich auf einer gepolsterten Bank
bequem. »Ich hoffe, Sie fühlen sich hier wohl. Nun ja, so wohl wie
möglich, wenn man bedenkt, dass Sie gegen Ihren Willen hier
festgehalten werden.« Sie zog an dem langen Zopf, der ihr über die
Schulter gefallen war. »Eines Tages werde ich Styx einen Pflock ins
Herz treiben, ob er nun der verdammte Anasso ist oder nicht.«
»Der Anasso?«, fragte Darcy.
»Der Herr über alle Vampire.« Shay rollte mit den
Augen. »Und ob er sich dessen bewusst ist!«
»Er hat eine gewisse Arroganz an sich«, gab Darcy
zu.
»Eine gewisse Arroganz? Ha!
Er könnte ein Buch über kaltblütigen Hochmut schreiben.«
Darcy dachte nach. Zugegeben, Styx hatte sie als
Geisel genommen. Und er konnte auch reserviert und unnahbar sein.
Aber sie wusste auch, dass er wundervolle Eigenschaften besaß, die
er vor den meisten anderen versteckt hielt.
»Er nimmt seine Verantwortung sehr ernst.
Vielleicht
manchmal zu ernst«, sagte sie leise. »Aber er kann auch sehr nett
und sanft sein, wenn man ihn kennt.«
Shay gab ein ersticktes Husten von sich, aber da
sie Darcys Abneigung dagegen, schlecht von Styx zu reden, zu spüren
schien, zwang sie sich zu einem schwachen Lächeln. »Ich muss mich
wohl auf Ihr Wort verlassen.«
»Wenn Sie hier sind, um ihn zu besuchen - ich
fürchte, dass er noch nicht aufgestanden ist.«
»Eigentlich bin ich hier, um Sie zu
besuchen.«
»Mich?«
»Viper hat mir alles über Sie erzählt, und da
musste ich einfach herkommen, um Sie selbst zu treffen«, erklärte
Shay.
Darcy erschauderte, als sie sich an ihre kurze,
aber angespannte Auseinandersetzung mit dem Vampir erinnerte. »Ich
kann mir vorstellen, was er gesagt hat. Er wirkte nicht gerade so,
als würde er mich übermäßig gern mögen.«
»Eigentlich war er recht beeindruckt.«
»Wirklich? Er schien überzeugt zu sein, dass ich
Styx sofort ermorden würde, sobald er mir den Rücken
zudrehte.«
Shay hob reumütig die Hände. »Er ist einfach
besorgt um seinen Anasso. Die Vampire haben alle einen ausgeprägten
Beschützerinstinkt, was ihn betrifft.«
»Das habe ich gemerkt«, gab Darcy trocken
zurück.
»Ja, das glaube ich.« Shay lachte leicht, erhob
sich und ging auf die Pflanzen zu, die Darcy auf die
Holzregalbretter gestellt hatte. An ihr war eine ruhelose Energie
zu spüren, die um ihre schlanke Gestalt zu knistern schien.
»Gehören die Pflanzen Ihnen?«
»Ja.« Darcy stellte sich neben sie. »Ich hoffe, es
macht Ihnen nichts aus, dass ich Ihren Wintergarten übernommen
habe, aber ich war beunruhigt, weil sie allein in meiner Wohnung
waren.«
»Natürlich macht es mir nichts aus.« Die Frau
streckte die Hand aus, um leicht ein Usambaraveilchen zu berühren.
»Offensichtlich haben Sie einen grünen Daumen.«
»Ich liebe Pflanzen.«
»Ich ebenfalls, aber aus irgendeinem Grund endet es
bei mir immer damit, dass ich alles töte, was ich berühre.« Shay
drehte sich um, um Darcy mit ihren merkwürdigen goldenen Augen
anzusehen. »Vielleicht kann ich Sie einstellen, wenn der
Wintergarten fertiggestellt ist. Ich werde jemanden brauchen, der
mich davon abhält, an meinen Pflanzen Massenmord zu begehen.«
Darcy lächelte. »Ich würde nicht Nein sagen. Ich
suche immer nach neuen Jobs.«
»Viper sagte, Sie seien Barkeeperin?«
»Unter anderem«, gestand Darcy bereitwillig. »Ich
habe nie die Highschool beendet, also nehme ich das, was ich
bekommen kann.«
»Sie sind ganz allein auf der Welt?«, fragte Shay
sanft.
»Ja.«
»Das war ich auch, viele, viele Jahre lang. Es ist
…« Die goldenen Augen verdunkelten sich durch einen Schmerz, der
gerade erst zu heilen begonnen hatte.
»Einsam?«, fragte Darcy mit einem traurigen
Lächeln.
»Einsam und beängstigend.« Shay schüttelte den
Kopf, wie um ihre düsteren Gedanken zu verscheuchen. Dann streckte
sie ziemlich unerwartet die Hand aus, um Darcys zu ergreifen.
»Macht es Ihnen etwas aus?«
»Was genau?«, wollte Darcy wissen.
»Viper hat mir erzählt, dass Sie denken, Sie hätten
möglicherweise Dämonenblut in Ihren Adern. Ich bin
zur Hälfte Shalott, wodurch ich die meisten Arten von
übernatürlichen Eigenschaften erkenne. Vielleicht bin ich imstande,
Ihnen etwas über Ihre Herkunft zu verraten.«
Darcy zögerte eine ganze Weile. Sie glaubte nicht,
dass diese Frau ihr wirklich helfen konnte, die Geheimnisse ihrer
Vergangenheit zu entdecken. Nicht einmal, wenn sie eine Dämonin
war.
Aber es schien irgendwie unhöflich zu sein, ihr
nicht zu erlauben, es zu versuchen. »Was werden Sie tun?«, fragte
sie schließlich.
Shay kräuselte ihre Nase. »Es tut mir leid, aber
ich muss an Ihnen riechen.«
Was ist bloß mit diesen Leuten los?, seufzte Darcy
innerlich.
»Okay«, stimmte sie vorsichtig zu.
Die Dämonin hob Darcys Hand an ihre Nase und
schnüffelte intensiv an ihrer Haut. Und schnüffelte noch einmal und
noch einmal und wieder.
»Eigenartig.« Shay ließ Darcys Hand sinken und trat
mit verwirrtem Gesichtsausdruck ein Stück zurück. »Ich könnte
schwören …«
»Was?«
»Da gibt es einen winzigen Anflug von Werwolf«,
gestand Shay.
Darcy schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Um
Gottes willen, ich habe zweimal geduscht und ein Bad genommen, seit
ich in Salvatores Nähe war! Muss ich mich etwa in Reinigungsmittel
auskochen?«
»Sie waren mit einem Werwolf zusammen?«
»Nur einen ganz kurzen Moment, und er hat mich kaum
angefasst.«
Shay kaute auf ihrer Unterlippe herum und dachte
über Darcys Worte nach. »Das könnte es sein.«
»Sie klingen nicht so, als wären Sie sich sehr
sicher.«
»Ich bin mir nicht sicher, und das ist sehr
sonderbar.« Die Frau seufzte tief. »Es tut mir leid, ich hatte
gehofft, Ihnen behilflich sein zu können.«
Darcy streckte instinktiv die Hand aus, um Shays
Hand zu berühren. »Es war sehr nett von Ihnen, herzukommen und es
zu versuchen. Ich weiß das zu schätzen.«
»Ich musste einfach herkommen.« Shays Augen
verdunkelten sich. »Ich kenne das, Darcy. Ich weiß wirklich sehr
gut, wie es sich anfühlt, anders zu sein, sich von anderen
absondern zu müssen, aus Angst, sie könnten die Wahrheit
herausfinden, sich immer zu fragen, ob man sich je sicher fühlen
wird.«
Darcy lächelte sanft. Sie spürte eine unerwartete
Verbindung zu dieser Frau. Eine Verbundenheit, die ihr das Herz
wärmte.
»Sie wissen es.« Sie drückte Shays Finger leicht.
»Aber Sie sind jetzt glücklich.«
Shay blinzelte, als sei sie überrascht über Darcys
Wahrnehmungsvermögen. »Ja.«
»Ich auch. Glücklich, meine ich«, versicherte Darcy
der Dämonin. »Es hat eine Weile gedauert, aber ich habe entdeckt,
dass das Leben sehr kostbar ist, sogar, wenn es schwierig ist. Ich
weiß jeden Tag zu schätzen, der mir geschenkt wird.«
Tiefes Schweigen erfüllte den Wintergarten, bevor
freudige Verblüffung Shays düsteren Gesichtsausdruck vertrieb.
»Viper hatte recht. Sie sind wirklich sehr beeindruckend.«
Darcy tat die albernen Worte mit einer Handbewegung
ab. »Die meisten Leute halten mich für einen Freak, aber das ist
mir egal.«
»Die meisten Leute sind sowieso Idioten«,
entgegnete Shay einfach. »Und da ich selbst ein echter Freak bin,
denke ich, dass wir sehr gut miteinander auskommen werden.«
Darcy war derselben Meinung. Zum ersten Mal in
ihrem ganzen Leben war sie umgeben von Leuten, vor denen sie ihr
wahres Ich nicht verstecken musste. Sie musste nicht lügen, etwas
vortäuschen oder sich permanent darauf konzentrieren, anderen
Leuten Normalität vorzuspielen. Es war friedlich, stellte sie
überrascht fest - ein seltsames Gefühl, wenn man bedachte, dass sie
von einem Vampir gefangen gehalten und von einem Rudel Werwölfe
gejagt wurde.
Ach was! Das war nur ein weiteres seltsames
Abenteuer in einem ganzen Leben voller Merkwürdigkeiten.