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»Wo ist sie?«, kreischt Wendy. »Hier kommt die Bauchwegsliplieferung!«

»Wir sind hier oben«, rufen Mum und ich gleichzeitig.

»In meinem alten Zimmer«, füge ich hinzu.

»Rosemary Flowers, war das Ihr Verehrer, der mich reingelassen hat?«, fragt Wendy, als sie in das Zimmer kommt. Dann bleibt sie abrupt stehen. »Oh!«, sagt sie wieder, lässt ihre Selfridges-Tüte auf den Boden fallen und sackt auf das Bett. »Oh!«, sagt sie wieder.

Es hat ihr die Sprache verschlagen, weil ich das Totenkleid trage.

»Wo kommt das Kleid her?«, flüstert sie.

»Das ist Gracies Kleid«, antwortet Mum ahnungslos. »Ich habe es vor Jahren für sie genäht. Ich fand schon immer, sie sollte sich bei ENGLAND SUCHT DEN SUPERSTAR bewerben, und ich habe immer wieder versucht, sie zu überreden, aber sie hat sich hartnäckig geweigert. Ich hatte bereits die Hoffnung aufgegeben, sie jemals in diesem Kleid zu sehen, wenn ich ehrlich bin. Das Kleid und ich mussten sehr lange warten.«

All die Tabletten, die wir weggeworfen haben, und dabei war das Kleid letzten Endes für mich. Vielleicht hätte ich das ahnen müssen. Es hat nämlich denselben Schnitt wie das Kleid, das ich in Rom trug, nur dass es aus schwarzem Samt ist. Mum fand Schwarz passender für eine junge Frau.

»Ich hatte schon immer den Eindruck, dass dieses Kleid für Ihre Hüften zu breit ist, Rosemary.«

»Und, was meinst du?«, fragt Mum vergnügt. »Findest du nicht auch, dass sie aussieht wie eine bildhübsche junge Frau, die mit ihrem Riesentalent alle von den Socken hauen wird, wenn sie heute Abend auf der Bühne steht?«

»Genau so sieht sie aus, Rosemary.«

Ich starre in den Spiegel. Eins weiß ich: Ich sehe nicht aus wie Gracie Flowers. Gracie Flowers trägt Leggings, ausgetretene Ballerinas und Pferdeschwanz. Die Frau im Spiegel steckt in einem maßgeschneiderten schwarzen Abendkleid und schwarzen High Heels, und ihre Haare sind aufwendig hochgesteckt.

»Und du, Wendy, kümmerst dich um ihr Make-up?«

»Im Ernst, Rosemary, Sie sind eine Meisterin. Sie haben mir alles beigebracht, was ich weiß.«

Mum kann ein Lächeln nicht unterdrücken.

»Gut, du fängst mit den Smokey Eyes an, und ich gehe mal runter und sehe nach John.«

»Klopf klopf!«, ruft John vor der Tür. »Sind die Damen auch anständig?«

»Ich wollte gerade zu dir runterkommen«, sagt Mum und öffnet die Tür mit einem strahlenden Lächeln.

Ich strahle nicht, weil neben John senior sein widerlicher Sprössling steht, Posh Boy. Ich werfe ihm einen finsteren Blick zu.

»Grace«, sagt John senior, kommt zu mir herüber und nimmt meine Hand. »Sie sehen hinreißend aus.«

»Danke.«

»Gracie Flowers, du siehst scharf aus«, sagt Posh Boy.

Ich bringe ihn mit einem gut platzierten Mittelfinger zum Schweigen.

»Grace«, sagt meine Mutter tadelnd.

»Gut, wir haben ein paar Neuigkeiten«, verkündet John senior. »Die erste ist, dass ich bis jetzt herumtelefoniert habe und es mir gelungen ist, vier Karten für ein gewisses England-sucht-den-Superstar-Finale heute Abend zu bekommen.«

»O mein Gott, wie viel mussten Sie denn dafür springen lassen?«, fragt Wendy.

»O mein Gott trifft es ziemlich gut, Wendy. Aber ich denke, das Geld ist gut investiert. Okay, John hier ist heute Abend verhindert, und da Rosemary und ich nur zwei Karten brauchen, haben wir uns gefragt, ob Sie, Wendy, und Ihr hilfsbereiter junger Anwalt uns vielleicht begleiten möchten.«

»JA!« Wendy springt auf. »JA! JA! Danke, vielen Dank!«

Sie schlingt die Arme um John senior, der sich wie ein Schneekönig freut, um die Wahrheit zu sagen.

Als Wendy ihn loslässt, nimmt er zärtlich die Hand meiner Mutter in seine. »Da ist noch etwas, was wir euch sagen möchten und was der Grund ist, warum ich meinen Sohn heute Morgen hierher gebeten habe. Ich habe gestern Abend um Rosemarys Hand angehalten, und sie hat mich zum glücklichsten Mann der Welt gemacht, indem sie Ja gesagt hat.«

»Ah«, kreischt Wendy. »Herzlichen Glückwunsch!«

»Gute Arbeit«, sagt Posh Boy und schüttelt seinem Vater die Hand, bevor er meine Mutter auf die Wange küsst.

Ich gehe aus dem Zimmer in den Flur. Ich kriege das noch nicht verarbeitet. Wendy folgt mir.

»Was ist?«, fragt sie leise.

»Meine Mutter hat eine Schraube locker. Sie kann nicht heiraten!«, zische ich.

»Sprechen Sie nicht so von Ihrer Mutter.«

Es ist John senior, mein zukünftiger Stiefvater, und er meckert jetzt schon mit mir. Er kommt heraus in den Flur und zieht die Tür hinter sich zu.

»Sie kennen sie doch kaum!«, wende ich ein.

»Grace, ich kenne Ihre Mutter nun seit ein paar Monaten. Seit meinem ersten Besuch hier, als ich ihre Bekanntschaft machte, habe ich viel Zeit mit ihr verbracht und sie besser kennengelernt. Ja, sie ist zerbrechlich. Das ist mir durchaus bewusst. Aber ich für meinen Teil habe auch enorme Fortschritte gesehen. Enorme. Ich möchte ihr helfen. Wir gehen beide sehenden Auges in diese Ehe, Grace.«

Einerseits möchte ich ihm widersprechen, aber er hat Recht. Mum geht es wirklich viel besser. Als sie mich nach meiner Fehlgeburt im Krankenhaus besuchte, war sie die Starke, und auch wenn der Kredit für sie unangenehme Folgen hatte, traf sie wenigstens eine bewusste Entscheidung, etwas, was sie seit Jahren nicht getan hat. Ich nicke ihm zu.

»Tut mir leid.«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Das muss ein ziemlicher Schock sein.«

»Ja.«

Er kommt mit ausgebreiteten Armen auf mich zu – oje, ich weiß nicht, ob ich dafür schon bereit bin – und umschlingt mich. Und überraschenderweise, weil ich damit ganz bestimmt nicht gerechnet habe, gefällt es mir. Seine Umarmung ist nicht zu bärenartig oder zu plump. Sie ist vorsichtig und freundlich und verleiht mir das Gefühl, beschützt zu werden.

»Grace«, sagt er.

Er hält mich fest, und etwas an seinem weichen Unterton, mit dem er meinen Namen ausspricht, erinnert mich daran, dass seine erste Frau, Posh Boys Mutter, auch Grace hieß. Ich hoffe, sie lächelt heute zu uns herab.

Nachdem wir uns voneinander gelöst haben, öffnet er mir die Tür zu meinem alten Schlafzimmer. Mum hebt erwartungsvoll den Kopf, und ich sehe ihr an, wie sehr sie sich meine Zustimmung wünscht, wie viel es ihr bedeutet. Ich lächle, und es ist nicht gezwungen. Tatsächlich fällt mir das Lächeln ziemlich leicht, weil ich weiß, dass dieser große, reiche Mann mit den schwieligen Händen meine Mutter verehren wird, und das ist alles, was ich mir wünsche.

Das Wort »Champagner« fällt, und wir gehen alle nach unten.

»Mein ganzes Leben lang habe ich mir einen Bruder gewünscht, und jetzt kriege ich ausgerechnet dich«, fauche ich Posh Boy zu.

»Ich habe meine Stiefschwester flachgelegt.« Er lächelt. »Das finde ich ziemlich cool.«