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Nachdem ich samstags nach der Arbeit bei Sainsbury’s war, fahre ich immer direkt zu meinem Vater.

Mein Dad liegt auf dem Kensal Green Cemetery begraben, gegenüber von Sainsbury’s. Der Friedhof wurde vor über hundertfünfzig Jahren errichtet, weil die Viktorianer damals wie die Fliegen starben und der Platz für Gräber knapp wurde. Es ist eine wunderschöne letzte Ruhestätte. Die Viktorianer legten Wert auf große, alte Statuen und prächtige Grabsteine, um die Toten zu ehren und sie in den Himmel zu verabschieden. Ich wünschte, wir hätten für Dad etwas Kunstvolleres ausgesucht als den einfachen Granitstein, der auf seinem Grab steht, aber ich erinnere mich, dass meine Mutter und ich damals nicht gerade in kreativer Stimmung waren. Immerhin haben wir die richtigen Worte für die Inschrift gewählt: Er sprang so hoch und landete ganz sanft. Das ist eine Textzeile aus Dads Lieblingssong. Sein Grab befindet sich in einer zauberhaften Ecke des Friedhofs, weit abgelegen unter einer Weißbirke, seinem Lieblingsbaum. Genau wie ich genoss er es früher, hinten in unserem Garten auf der Hollywoodschaukel zu sitzen und dem Rascheln der Weißbirke zu lauschen.

»Sie flüstert mir schmutzige Sachen ins Ohr«, sagte er früher immer.

»Luder«, nannte meine Mutter die Weißbirke. Damals hatte sie noch Sinn für Humor.

Mein Dad starb vor zehn Jahren. Das ist eine der Tatsachen, die überhaupt keinen Sinn machen, da es sich immer noch so anfühlt, als wäre es erst gestern gewesen. Ich war an jenem Tag sehr früh aufgestanden, um für meine Abschlussprüfung zu lernen. Bei zugezogenen Vorhängen saß ich an meinem Schreibtisch im Lampenschein, als mein Dad leise an meine Tür klopfte.

»Wie fühlst du dich, amazing Grace?«

»Ich werde durchfallen!«, jammerte ich. Ich war schon richtig hysterisch vor lauter Prüfungsangst.

»Gracie Flowers, mein kleines Mädchen«, sagte Dad.

Er betrat das Zimmer, setzte sich auf mein Bett und sang mir etwas vor. Er sang ganz leise, und seine Stimme beruhigte mich. Selbst heute noch, wenn ich im Stress bin, schließe ich manchmal die Augen und höre ihn singen. Ich habe auch sein Bild noch deutlich vor mir. Er trug ein hellblaues Hemd und die Levi’s-Jeans, die er immer trug, wenn er nicht tanzte. Er sah gut aus, mein Dad. Ich weiß nicht genau, ob man das von seinem eigenen Vater sagen kann, aber er war wirklich ein schöner Mann. Er hatte grau melierte Haare und stets ein Funkeln in den Augen. Er war behaarter als die meisten Männer in der Tänzerszene. Mum sagte, das wirke maskuliner, aber er beschwerte sich immer darüber, dass er sich zweimal am Tag rasieren musste.

Meine Mutter vergötterte meinen Vater. Jeder vergötterte meinen Vater. Er hatte an jenem Tag einen Termin in Soho mit ein paar Fernsehleuten, die sich mit ihm über eine Tanzshow zur besten Sendezeit unterhalten wollten. Er war aufgeregt. Mein Dad glaubte fest daran, dass die Welt ein viel netterer Ort wäre, wenn wir alle singen und tanzen würden. Ich war an jenem Morgen so sehr mit mir selbst beschäftigt, dass ich ihm nicht einmal Glück wünschte.

»Ich liebe dich, Gracie Flowers«, sagte er, als er aufhörte zu singen, und gab mir einen Kuss auf den Kopf.

»Ich dich auch«, erwiderte ich.

Zum Glück habe ich das gesagt, weil meine Mum es nämlich nicht getan hat. Sie redete überhaupt nicht mit ihm, als er an jenem Morgen das Haus verließ. Meine Eltern hatten sich am Abend zuvor gestritten. Ich weiß nicht mehr genau, worum es ging, aber ich glaube, meine Mutter war sauer, weil sie zu dem Termin nicht miteingeladen worden war. Sie fürchtete, dass mein Vater in der Show eine jüngere und glamourösere Partnerin bekommen sollte. Meine Eltern hatten immerhin fast zwanzig Jahre zusammen getanzt.

Später in der Prüfung las ich mir die Fragen durch, wie man uns empfohlen hatte, und wollte gerade mit der ersten Aufgabe beginnen, als eine Lehrerin in den Prüfungsraum schlich und mit der Aufsicht flüsterte. Ehe ich michs versah, tippte mir die Lehrerin auf die Schulter und führte mich aus dem Raum, um mir zu eröffnen, dass mein Vater einen Unfall gehabt hatte. Eine andere Lehrerin fuhr mich zum Krankenhaus, aber es war zu spät. Ich sah meine Mutter hinter einer Glastür im Gespräch mit einem Arzt. Dann hörte ich sie laut aufschluchzen. Und es war der schlimmste Laut, den ich jemals gehört habe.

Er war vor einen Bus gelaufen. Es hört sich fast komisch an. Er überquerte gerade die Regent Street, als ein Fan nach ihm rief. Er blieb stehen, winkte und machte ein paar Tanzschritte, bevor er direkt vor einen Bus lief. Dämlicher Idiot.

Trotzdem ruht er an einem zauberhaften Ort. Die Luder-Weißbirke flüstert ihm ins Ohr, und ich komme einmal in der Woche vorbei auf ein Schwätzchen und einen Song. Meine Mutter kommt ihn nie besuchen. Seit der Beerdigung war sie kein einziges Mal mehr hier. Seit der Beerdigung war sie im Grunde nirgends mehr.

Bei meinen ersten Besuchen kauerte ich mich immer auf den Boden im Bewusstsein, dass er nur wenige Meter unter mir lag, und weinte. Dann fing ich an, mit ihm zu reden. Ich erzählte ihm alles über Danny Saunders, der mir zur Seite stand. Ich erklärte Dad, dass ich mich nicht für die Musikhochschule bewerben könne, etwas, worüber wir öfter gesprochen hatten. Ich begründete dies damit, dass ich Mum nicht allein lassen konnte. Ich berichtete ihm detailliert von dem Gesangswettbewerb, an dem ich kurz nach seiner Beerdigung teilgenommen hatte, und dass ich mir die Seele aus dem Leib gebrüllt hatte, während Ruth Roberts vor der Jury sang, und dass man mich gebeten hatte, in Zukunft von einer Teilnahme abzusehen, dass ich aber ohnehin keine Lust mehr hatte. Irgendwann gingen mir die Themen aus, weil mein Leben scheinbar aufgehört hatte, sich in irgendeine Richtung zu bewegen. Also fing ich an, meinen Ghettoblaster auf den Friedhof zu schleppen und Dad Musik vorzuspielen. Irgendwann gab der Ghettoblaster seinen Geist auf, und ich verlegte mich aufs Singen.

Eines Tages, als ich ihn besuchte, entdeckte ich ein neues Grab ein Stück weiter. Ich betrachtete die frische Erde und die frischen Blumen. Es gibt nichts Traurigeres als frische Erde auf einem Grab. Man denkt dabei unwillkürlich an die Hinterbliebenen und ihren Verlust. An jenem Tag sang ich für Dad Mr. Bojangles. Tatsächlich sang ich es nicht nur, ich machte sogar ein paar Tanzschritte dazu. Als ich fertig war, hörte ich jemanden klatschen und »Bravo!« rufen. Ich blickte mich um und entdeckte ein Paar, einen älteren Herrn und eine ältere Dame, beide in Gummistiefeln und Wachsjacken. Der Mann trug eine Thermoskanne und die Frau einen Narzissenstrauß von Sainsbury’s. Das weiß ich, weil ich genau so einen Strauß schon einmal für Dads Grab gekauft habe.

»Bravo«, sagte der Mann noch einmal.

Ich wurde rot. Ich fühlte mich, als wäre ich nackt erwischt worden. Ich hatte bisher noch nie jemanden auf dem Friedhof getroffen. Niemand sonst kam in die Ecke mit der Weißbirke.

Die Frau legte die Blumen auf das frische Grab. Sie war vielleicht Mitte sechzig, aber sie war immer noch eine sehr schöne Frau. Sie sah aus wie eine Ballerina im Ruhestand.

»Du hast vielleicht ein Glück, Mum«, sagte sie lächelnd zu dem Grab. Dann wandte sie sich an mich. »Sie kennen nicht zufällig Heaven, I’m in heaven, oder doch?«

Der Mann in den Gummistiefeln und der Wachsjacke lachte laut. Ich habe noch nie jemanden so lachen hören. Mit diesem Lachen hätte er buchstäblich Tote auferwecken können. Ich dachte, gleich sind wir mitten in einer Szene aus Michael Jacksons Thriller-Video.

»Das würde ihr sicher gefallen!«, brüllte er, und die schöne Frau stimmte in sein Lachen ein.

Natürlich kannte ich den Song. Fred Astaire, der Tanzheld meines Vaters, singt ihn in einem alten Schwarz-Weiß-Film. Also sang ich, und die beiden tanzten wie Fred und Ginger. Es war seltsam und wundervoll, und anschließend stellte sich das Paar vor. Leonard und Joan, Bruder und Schwester. Leonard schraubte seine Thermoskanne auf und teilte mit mir seinen Kaffee mit einem Schuss Whisky.

»Camille Flowers«, sagte Joan und blickte auf das Grab meines Vaters. »Ein wundervoller Tänzer. Es war so traurig, als er gestorben ist.« Und sie nahm mich in den Arm.

Gott, ich kann mich noch genau an diese Umarmung erinnern. Ich schloss die Augen und verschmolz darin. Es machte mir bewusst, dass meine Mutter mich seit Jahren nicht mehr in den Arm genommen hatte.

Wir verabredeten uns für die nächste Woche und dann für die übernächste, und mittlerweile sehen wir uns jeden Samstag – seit sieben Jahren. Leonard bringt immer seine Thermoskanne mit und ich die Doughnuts.

Heute denke ich allerdings nicht an unsere Geschichte, als ich in die Ecke mit der Weißbirke gehe. Ich denke an John St. John Dingsbums, der mir den Job weggeschnappt hat.

Joan und Leonard sitzen bereits auf ihrem Platz, dem Gedenkstein für Alfred George Roberts, einen Textilhändler, der 1893 starb. Es heißt, es war die Syphilis, die ihn dahinraffte, aber das wissen wir nicht sicher.

»Happy birthday to you …«, fangen sie an zu singen. Wir haben einige Geburtstage zusammen gefeiert im Laufe der Jahre.

»O Schätzchen …«, sagt Joan, als sie mein deprimiertes Gesicht sieht. »Ist es nicht nach deinen Vorstellungen gelaufen?«

»Nein! So ein arroganter Schönling hat den Job gekriegt. Irgend so ein blöder Typ, der noch nicht einmal aus unseren eigenen Reihen kommt.«

»Das ist der blanke Hohn! Soll ich ihn mir einmal vorknöpfen?«, fragt Leonard, während er sich einen Doughnut aus der Tüte nimmt.

»Heute nur einen, Len. Dein Blutzucker war vorhin ziemlich hoch«, ermahnt Joan ihn.

»Spielverderberin! Nun, Grace, da wir gerade bei unerfreulichen Themen sind … Was sagst du zu diesem Brief?«

»Zu welchem Brief?«

»Da ist ein Schreiben gekommen. Hast du keins erhalten? Von einer Firma … Joan, wie heißt sie noch gleich? Vorhin im Wagen wusste ich es noch.«

»Irgendetwas mit Bau.«

»Ja, ja, irgendetwas mit Bau. Aber was genau? SJS Bau? Hieß sie so?«

»Ich glaube, so heißt sie, Len.«

»Nun, Grace, jedenfalls möchte dieses Bauunternehmen das Land kaufen, auf dem wir gerade stehen. Die wollen hier eine Zugangsstraße für irgendein großes Projekt, das gerade in Planung ist, bauen.«

»Die können doch nicht so arrogant sein und allen Ernstes glauben, dass sie einfach so mitten durch einen Friedhof eine Straße bauen können!«, sage ich.

»Doch, sind sie. Der Stadtrat hat das Projekt wohl abgesegnet, weil nur eine Handvoll Gräber betroffen sind. Das von unserer Mutter, von deinem Vater, von Alfred und noch zwei weiteren, glaube ich. Die Angehörigen der Verstorbenen haben allerdings das letzte Wort.«

»Gott sei Dank. Bestimmt haben die meine Mutter angeschrieben. Denen werde ich eine passende Antwort schicken. Die können sich ihre Zugangsstraße sonst wohin schieben.«

»Das ist unser Mädchen. Okay, Feeling good?«, fragt Leonard.

Ich gehe hinüber zu Dad.

»Hi, Dad«, sage ich leise. »Kein guter Tag für den Fünfjahresplan. Sorry.«

Ich mache eine kurze Pause, dann fange ich an zu singen. Und wie an jedem meiner Geburtstage werde ich zurückversetzt in unser Badezimmer. Ich sitze auf dem Toilettendeckel, und Dad spielt mir zum ersten Mal Nina Simone vor.