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»Okey dokey. Können wir los?«
»Sie schon wieder! Sie wollen mich aber nicht wieder beschatten, oder?«
Er tut das ständig. Immer wenn ich einen Besichtigungstermin habe, steht er auf, zieht seine Jacke an und sagt okey dokey.
»Sie brauchen nicht zu jeder Besichtigung mitzukommen!«
»Grace, die letzte Besichtigung mit dieser Familie war ein Flop, wie wir das in unserer Branche nennen. Aus diesem Grund komme ich lieber mit. Ich meine, schließlich bin ich Ihr Mentor.«
Er mein Mentor. Zähle ganz langsam bis 6897, Grace.
»Sorry, John, wie viele Abschlüsse haben Sie gemacht, seit Sie bei uns angefangen haben? Moment, lassen Sie mich nachzählen.« Ich halte inne und blicke für eine Nanosekunde an die Decke. »Das ging schnell. Null.«
»Ich erwarte ein Kaufangebot für ein …«, beginnt er.
»Ich habe an einem Montag hier als Immobilienmaklerin angefangen. Freitagmorgen hatte ich meinen ersten Vertrag unter Dach und Fach. Und ich war damals noch nicht Maklerin des Jahres. Ich war Empfangsdame.«
»Na, ja, aber ich habe … ich bin noch in der Anfangszeit. Ich bin hier, um die Grundlagen zu erlernen und mich einzuarbeiten.«
»Kommen Sie und hören Sie auf, die Ruhe mit Ihrer Stimme zu verpesten. Wir haben einen Termin«, sage ich und gehe in Richtung Tür.
»In meinem ganzen Leben ist mir noch nie so eine kleine Person mit so großen Eiern begegnet«, murmelt er hinter mir.
Ich hasse und verabscheue Posh Boy zwar, aber trotzdem beglückt mich sein Kommentar. Seht ihr, wie viel positives Große-Eier-Feedback ich bekomme?
»Sie sind sogar gigantisch groß, John«, rufe ich nach hinten und watschle breitbeinig durch die Tür.
Draußen stoße ich fast mit einer Frau und einem Kind zusammen. Das Kind beweist ein hervorragendes Reaktionsvermögen für jemanden in diesem zarten Alter, indem es einfach zwischen meinen Beinen durchgeht. Glücklicherweise trage ich Leggings, sonst hätte es Schaden nehmen können. Ich lache, und als John herauskommt, lacht er auch. John und ich stehen auf der Chamberlayne Road und lachen gemeinsam. Aber freuen wir uns nicht zu sehr darüber. Ich halte ihn nach wie vor für einen Blödmann. Plötzlich nimmt er mich in den Schwitzkasten und wuschelt mir durch die Haare.
»Ich weiß, in Wirklichkeit lieben Sie mich, Flowers. Wo steht Ihr Wagen?«
Ich winde mich aus seinem Griff und boxe ihn in den Bauch. Er fühlt sich sehr hart an. Ich wette, er hat die Muskeln angespannt.
»Da drüben«, sage ich und zeige auf Nina.
»Ach du lieber Gott.«
»Nina ist sehr sensibel.«
»Nina. Sie haben dieses Ding Nina getauft.«
»Ja, Nina, der Nissan Micra.«
»Warum Nina?«
»Nach Nina Simone, warum sonst?«
»Wer ist das?«
»Wer das ist?«, frage ich und bleibe abrupt stehen.
»Hören Sie auf, die Stille mit Ihrer Stimme zu verpesten. Wir haben einen Termin.«
»Wer das ist?«, wiederhole ich.
»Können wir nicht meinen Wagen nehmen?«
»Nein, verdammt, können wir nicht. Niemand glaubt einem Mann unter dreißig, der einen Porsche fährt, auch nur ein Wort. Ich tue Ihnen bloß einen Gefallen. Okay, die Beifahrertür geht nicht auf. Sie müssen auf meiner Seite einsteigen und rüberkrabbeln.«
»Ach du lieber Gott«, murmelt er wieder, während er sich zusammenklappt, um in den Wagen zu steigen.
Mein Blick fällt auf seinen Hintern. Nicht schlecht … für einen Blödmann.
Mein Handy summt, als ich im Wagen sitze. Danny? Nein. Es ist Bob der Baumeister.
»Hey, Schwester. Mein letzter Termin ist geplatzt. Ich werde zu deiner Besichtigung kommen. Dann kann ich mit den Leuten persönlich über den Garten sprechen.«
Das sind gute Neuigkeiten, der Umstand, dass Danny nichts von sich hören lässt, ist jedoch seltsam. Irgendwas ist da oberfaul. Es ist Mittwoch, und Danny ist immer noch nicht zurück. Am Montagabend hat er mir kurz gesimst, dass er noch ein paar Tage länger in Wales bleibt. Das ist wirklich eigenartig.
»Alles in Ordnung?«, fragt Posh Boy.
»Ja«, antworte ich und starte den Anlasser.
Heute zeigen wir meiner Lieblingsfamilie eine von Bobs neuen, superschicken Wohnungen. Die Kinder sind offenbar ziemlich gespannt darauf, dank der Tatsache, dass es einen Whirlpool gibt.
»Hübsch.« Posh Boy pfeift bewundernd, als wir vor dem Haus halten.
Die Familie hat sich bereits draußen versammelt, und ich winke.
»Ja, Bob leistet immer gute Arbeit«, erwidere ich, bevor ich aus dem Wagen steige und Posh Boy sich selbst überlasse.
»Hallo zusammen, wie geht es Ihnen?«
»Uns geht es gut«, antwortet Mrs. Hammond lächelnd.
»Okay, die Wohnung steht leer. Ich habe den Schlüssel. Sie sollte in tadellosem Zustand sein. Tut mir leid wegen letztem Mal.«
»Schon gut.«
Ich schließe uns auf. Der Geruch von frischer Farbe und Gips sticht mir sofort in die Nase. Normalerweise mag ich diesen Geruch nicht, aber heute seltsamerweise schon.
»O ja«, sagt Mrs. Hammond, als ich sie in das Wohnzimmer führe.
Weiße Wände erwarten uns, ein geschmackvoller Kamin und große Schiebefenster. Mr. Hammond stellt sich mitten in den Raum und stößt einen kurzen Laut aus, der in der Leere leise widerhallt, dann beginnt er, vor sich hin zu summen. Emma kommt zu ihm gelaufen und stimmt ein. Der Song kommt mir bekannt vor. Plötzlich erkenne ich ihn. Er stammt aus Evita! Genau, sie singen ein Duett aus Evita. Oh, ich liebe diese Familie. Sie singt und lacht zusammen. Ich beobachte Vater und Tochter, und es könnten mein Dad und ich sein, als ich fünfzehn war und er noch am Leben.
Ich applaudiere, als der Song zu Ende ist, dann gehen wir weiter in die hochmoderne Wohnküche mit der Terrassentür, die hinaus in den Garten führt.
»Okay, der Garten ist nicht ganz so groß. Er wird noch mit Rollrasen ausgelegt, aber falls Sie Blumenbeete haben möchten, lässt sich darüber reden. Unser Fachmann wird jeden Moment zu uns stoßen, dann können Sie das mit ihm persönlich besprechen, wenn Sie möchten.«
Mrs. Hammond steht da mit einem verträumten Blick in den Augen. Es läuft sehr gut. So sollte es eigentlich immer sein. Ich führe meine Familie zurück in die Diele.
»Okay, der nächste Raum ist wirklich etwas Besonderes«, sage ich in gedämpftem, ehrfürchtigem Ton. »Hinter dieser Tür befindet sich das Bad mit Whirlpool. Ach ja, und mit Kabelanschluss. Sind alle bereit?«
Ich lasse meine Hand ein paar Sekunden auf dem Türknauf ruhen, um die Spannung zu erhöhen, weil das Bad wirklich unglaublich ist. Bob liebt es, nach Feierabend in den Whirlpool zu steigen, weshalb diese zu seinem Markenzeichen geworden sind.
»Ja.« Der Sohn kichert.
»Seid ihr auch ganz sicher bereit?«
»JA!«
»Absolut sicher, dass ihr bereit seid, den größten Whirlpool der Welt zu sehen?«
»Hallo zusammen.« Es ist Bob, der in die Diele kommt. »Hat meine Schwester sich gut um Sie gekümmert?«
»Ist das Ihr Bruder?«, fragt das Mädchen.
»Er ist mein Wahlbruder«, antworte ich.
»Und, was denken Sie?«, fragt Bob die Eltern.
»Es ist eine wunderschöne Wohnung.«
»Ja, die Räume sind gut geworden. Das Bad ist mein Lieblingsraum. Ich bin nämlich ein Whirlpoolfan«, erklärt Bob mit einem Lächeln.
»Ta-daaa!«, sage ich und öffne die Tür.
Ich sehe nicht hinein, sondern beobachte ihre Gesichter. Die Münder klappen auf, aber nicht vor Entzücken, wie ich erwartet habe, sondern vor Entsetzen. Bob taumelt einen Schritt zurück und sieht aus, als würde er gleich in Ohnmacht fallen. Ich werfe einen Blick in das Bad.
»O MEIN GOTT!«, kreische ich. Was die Frau, die nackt mit einem Männerkopf zwischen den Beinen auf dem Whirlpoolrand sitzt, veranlasst, auch zu kreischen.
Die Frau versucht, ihre Blöße mit den Händen zu bedecken, während der Mann unter Wasser taucht.
»O mein Gott!« Ich schließe rasch die Tür. »O mein Gott, es tut mir so leid.«
Bob ist verschwunden. Niemand sagt einen Ton. Das hier erobert direkt den Spitzenplatz in meinem Ranking der beschissensten Besichtigungen.
»Ich denke, wir gehen jetzt besser«, sagt Mr. Hammond, und die Familie trottet schweigend im Gänsemarsch aus der Wohnung.
»Es tut mir so leid. Es tut mir so leid. Es tut mir so leid«, rufe ich der Familie nach.
Ich hänge in der Wiederholungsschleife fest. Gott. Das ist eine Katastrophe. Ich bin im Begriff, meine Lieblingsfamilie zu verlieren. Ich bin schuld, dass die Kinder fürs Leben gezeichnet sind. Aber das ist nicht einmal das Schlimmste. Das absolut Schlimmste ist, dass die Frau im Whirlpool Bobs Freundin Stella war. Bob gehört zu den anständigen Männern – das hat er nicht verdient. Bedrückt gehe ich zurück zu meinem Auto und stelle fest, dass Posh Boy bereits darin sitzt.
»Alles okay?«, fragt er.
»Nein, ich stehe unter Schock.«
»Ja, das war nicht schön. Aber nicht so schlimm wie das, was ich mal erlebt habe. Ein Eigentümer hat in meiner Gegenwart einen Herzinfarkt erlitten.«
»Nein!«
»Doch. Das ist bis heute mein schrecklichster Besichtigungstermin. Und Ihrer?«
»Nun, abgesehen von heute das Mal, als ich auf der Toilette einen nackten alten Mann antraf, der gerade ein Ei legte.«
»Ja, ich kann verstehen, dass das unangenehm war.«
»Aber ich glaube, das heute hat es noch übertroffen. Oh, mein Handy.« Es ist Dan. Endlich. »Ich muss mal kurz rangehen, bevor wir losfahren.«
Ich steige aus dem Wagen und schließe die Tür.
»Hey, du Waliser!«
Danny erwidert nichts.
»Dan.«
Er sagt immer noch nichts.
»Dan?«
Ich höre ihn schniefen.
»Dan, bist du krank?«
»Nein, oh …«
Er weint. Danny weint! Mein Danny weint nie. Er entwickelt Computerspiele, um Gottes willen. Das einzige Mal, dass ich ihn weinen gesehen habe, war, als er eine winzige Träne verdrücken musste bei einer besonders emotionalen Folge von Einsatz in 4 Wänden.
»Danny«, flüstere ich. »Was ist da oben bei euch los?«
»Nichts.« Er schnieft wieder. »Tut mir leid, du bist bestimmt bei der Arbeit. Ich lege jetzt besser auf.«
Er hört sich an, als wäre er aus irgendeinem Grund am Boden zerstört. Die Verbindung wird unterbrochen, also rufe ich zurück, aber er hebt nicht ab. Ich gehe zurück zum Wagen und zu John Dingsbums.
»Alles in Ordnung?«
»Nein. Ich … äh … Das kommt jetzt sehr plötzlich … aber ich muss dringend nach Wales.«
»Okay.«
»Mein Freund ist gerade dort, und irgendwas ist passiert. Er hat am Telefon geweint. Bestimmt hat es was mit seinen Eltern zu tun. Vielleicht sind sie krank. Also, ernsthaft krank.«
»Gehen Sie. Wendy kann Ihre Termine absagen. Das gibt uns anderen eine Chance, zu Ihnen aufzuholen. Passen Sie auf, und fahren Sie vorsichtig.«
»Danke, John. Ein dickes Danke, und Entschuldigung für das hier. Ich bringe Sie zurück ins Büro und fahre dann direkt weiter.«
Ich starte den Wagen, als zwei Gestalten aus dem Haus kommen, in dem wir gerade waren. Eine davon ist Stella, und die andere, wie ich nun erkennen kann, ist Bobs rechte Hand Pawel, der polnische Baumeister.