19
Der zweitbeste Tag meines Lebens war der, an dem ich meinen ersten Verkaufsabschluss bei MAKE A MOVE gemacht habe. Um die Mittagszeit war ich schon beschwipst vom Sekt. Ich war hibbelig und aufgekratzt und habe ohne Unterlass geplappert. Aber nicht nur ich war glücklich, alle Beteiligten waren begeistert. Schleimi natürlich, weil sich die Immobilienpreise zu jener Zeit in schwindelerregenden Höhen bewegten und er ein ordentliches Sümmchen einstrich für meine Bemühungen. Aber es waren die Gesichter der Menschen, die ihre Wohnungen verkauften, und die der Menschen, die diese erwarben, die für mich die größte Belohnung waren.
Bei meinem ersten Verkaufserfolg handelte es sich um eine Wohnung mit drei Schlafzimmern und Garten in der Nähe der Ladbroke Grove. Die Eigentümer waren zwei Akademiker Anfang sechzig, deren Kinder in der Wohnung aufgewachsen waren und die aber nun beschlossen hatten, sich in Chichester zur Ruhe zu setzen, um Krabbensandwiches und Spaziergänge am Meer zu genießen. Die beiden verkauften an ein süßes junges, frisch verheiratetes Paar, das es nicht abwarten konnte, eine Familie zu gründen. Es klingt albern, aber ich hatte bei diesem Geschäft das Gefühl, so muss es sein. Es ging nicht um das Geld, es ging um ein Zuhause, das von Eigentümer an Eigentümer übergeben wurde. Es ging um Liebe und Lachen und Erinnerungen und Hoffnungen für die Zukunft.
Komischerweise ist diese Wohnung seit Kurzem wieder auf dem Markt, und ich glaube, dass sie gut zu meiner netten Familie passen würde. Das süße junge Paar, das dort eingezogen war, hat sich tatsächlich fleißig vermehrt. Drei Kinder, Zwillinge und ein Neugeborenes, wären ein Albtraum für mich. Allerdings kann ich es der jungen Mutter nicht verdenken, schließlich ist ihr Mann zum Anbeten schön. Ich hatte damals auch den Auftrag, sein Apartment zu verkaufen, und als ich zur Besichtigung vorbeikam, öffnete er mir die Tür mit nacktem Oberkörper. Es war so aufregend, dass ich direkt einen Termin für dieselbe Uhrzeit in der Woche darauf mit ihm vereinbarte und Wendy als potenzielle Kaufinteressentin ausgab, damit auch sie ihn anschmachten konnte.
Dieses Mal habe ich die Wohnung nicht vorab besichtigt. Ich habe mich zwar um einen Termin bemüht, um aktuelle Fotos zu machen, aber Claire, die junge Mutter, ist verständlicherweise zu beschäftigt. Dies ist also die erste Besichtigung, und ich hoffe auf ein Kaufangebot. Als Makler kann einem nichts Besseres passieren, als direkt nach der ersten Besichtigung ein Kaufangebot zu bekommen. Das würde Posh Boy zudem zeigen, wie groß meine Eier sind. Vor allem, da er mitkommen möchte. Er hat beschlossen, mich zu beschatten.
»Grace, ich möchte bei dieser Besichtigung dabei sein«, sagte er, als meine Familie kam.
»Ich zeige Ihnen, wie man’s macht«, erwiderte ich.
»Okey dokey«, antwortete er, und ich überlegte ernsthaft, seine Krawatte am Schreibtisch festzutackern.
Es ist eine blöde Idee, dass er mich und diese Familie begleiten will, weil das bedeutet, dass wir zu viele sind, um in einen Wagen zu passen. Familie Hammond und ich stehen also in der Einfahrt herum und warten darauf, dass er für seinen Angeberschlitten einen Parkplatz findet.
»Freut mich, dass Sie es geschafft haben«, sage ich, als er endlich auftaucht. »Ich hoffe, Sie stehen nicht wieder im Halteverbot.«
Er wirft mir einen verärgerten Blick zu, den ich sehr erfreut zur Kenntnis nehme.
»Oh, passen Sie auf, da ist ein Hundehaufen«, sage ich, absichtlich zu spät. »Oje. Sie werden sich wohl die Schuhe abputzen müssen, bevor Sie das Haus der Kundin betreten. Wir wollen ja nicht, dass Sie Hundekacke in die hübsche Wohnung tragen.«
Posh Boy entdeckt ein kleines Grasbüschel und beginnt, seine Schuhsohlen daran abzuwischen.
»Kommen Sie bitte zu mir«, sage ich zu meiner Lieblingsfamilie. »Ich möchte Sie auf den Stellplatz vor dem Haus aufmerksam machen. Er gehört zur Wohnung. Und da wir uns hier in West London befinden, lassen Sie uns alle einen Moment innehalten, um diesen Satz auszukosten. Sie werden Ihren eigenen Stellplatz haben. Ich meine, an Markttagen werden Sie sicher mal fremde Fahrzeuge verscheuchen müssen, und an Karneval werden die Leute darauf grillen, aber sonst ist es Ihr eigener Parkplatz, und Sie sind nicht darauf angewiesen, vierzig Minuten lang um den Block zu kurven, bevor Sie feststellen, dass die nächste Parkmöglichkeit in Archway ist.«
»Was für ein schönes Haus«, sagt Mrs. Hammond, während sie die große weiße Stuckfassade bewundert.
»Ja, es erinnert mich an Jane-Austen-Verfilmungen. Eine junge Dame kommt nach London, um einen Ehemann zu finden. Man sieht die Ladys in diesen Filmen oft aus solchen Häusern herauskommen, nicht? Das ist wirklich eine unglaubliche Wohngegend hier.«
»Ist das ein Yoga-Studio auf der anderen Straßenseite?«, fragt das Mädchen.
»Ja. Ich glaube, es soll sehr gut sein. Sie bieten dort Hot Yoga an.«
»Cool.«
»Die Wohnung hat einen separaten Eingang gleich hier nebenan. Sind wir komplett, John?«, rufe ich. »Haben Sie Ihre Schuhe sauber bekommen?«
»Ja«, antwortet er ausdruckslos.
»Hervorragend.«
Wir stehen wie Sternsinger vor der Haustür, und ich drücke auf die Klingel. Dann passiert lange Zeit gar nichts.
»Sie weiß doch, dass wir kommen, oder?«, fragt Posh Boy ungeduldig.
»Nein. Ich dachte, wir versuchen es einfach mal auf gut Glück«, flöte ich, als wäre er dämlich.
»Vielleicht haben Sie sich in der Uhrzeit geirrt.«
Seht ihr! Seht ihr, wie nervig der Typ ist?
Ich höre Geräusche hinter der Tür. Gott sei Dank. Es wäre wirklich peinlich, wenn uns keiner aufmachen würde. Ich spitze die Ohren. Ich glaube, ich höre jemanden schniefen und wimmern. Oje, ich hoffe, Claire hat sich nicht erkältet. Ich habe keine Lust, mich anzustecken und meine geschwollene Nase auch noch schnäuzen zu müssen. Autsch.
Schließlich wird die Tür einen kleinen Spalt geöffnet.
»Hallo?«, sage ich.
Es folgt nicht sofort eine Antwort, nur ein weiteres Schniefen. Schließlich erscheint Claire in dem Spalt, aber sie sieht furchtbar aus. Sie hat nichts mehr von dem ehemals unbekümmerten Model von vor fünf Jahren mit dem schönen Mann, das ich in Erinnerung hatte. Tatsächlich hat sie große Ähnlichkeit mit dem Baby, das sie an der Schulter trägt. Beide haben rote, verschwollene Gesichter und verheulte Augen. Ich mit meinem zerschundenen Gesicht und Claire mit ihren Tränen … Wir sind nicht gerade ein gutes Aushängeschild für diese Gegend.
»O Claire, meine Liebe. Sollen wir lieber an einem anderen Tag wiederkommen?«
Sie schüttelt den Kopf und tritt einen Schritt zurück, um uns hereinzulassen.
»Das ist die Familie Hammond«, sage ich und zeige lächelnd auf die vier. »Und das ist John, unser Praktikant«, füge ich hinzu, ohne ihn anzusehen.
Wir stehen in der Diele. Sämtliche Türen, die davon abgehen, sind geschlossen. »Sind Sie sicher, dass ich die Leute herumführen soll?«, raune ich Claire zu.
Claire nickt, sagt aber kein Wort. Zumindest glaube ich nicht, dass der schluchzende, hicksende Laut, der ihr entweicht, ein Wort ist.
Posh Boy sieht mich an, als wäre ich die unsensibelste Maklerin, die er jemals gesehen hat, und vielleicht bin ich das auch. Claire klang in der Tat ein wenig abgespannt am Telefon, aber ich hatte angenommen, das sei normal für eine Mutter von drei kleinen Kindern.
Tja, nun sind wir hier. Ich öffne die Tür, die ins Wohnzimmer führt, wie ich weiß. Seltsam, dass ich mir die Grundrisse aller Immobilien, die ich vermittelt habe, merken kann.
»Das ist ein wunderschöner Raum«, sage ich selbstsicher und gehe hinein.
Aber sofort bleibe ich wie angewurzelt stehen. Der Anblick, der sich mir bietet, ist unbeschreiblich. Der einst wunderschöne Raum gleicht einem Saustall. Und ich habe wirklich eine hohe Schmerzgrenze. Wenn ich also einen Raum als »Saustall« bezeichne, muss es wirklich schlimm sein. Die Vorhänge vor der Verandatür zum Garten sind zugezogen, sodass es praktisch dunkel ist. Auf einer fleckigen Couch sitzt ein kleines Mädchen und schaut im Fernsehen Das perfekte Dinner, während es nebenbei Käse-Locken futtert. Ich kann nicht fassen, wie sehr sich das Zimmer verändert hat. Früher war dies hier ein großer, geräumiger Wohnbereich mit einer Essecke, einer Couchecke und einer offenen Küche, nun dient der Esstisch als Wickelunterlage, und überall liegen Handtücher und Kinderklamotten. Zwei Töpfchen stehen mitten im Zimmer, bizarrerweise umringt von sechs Essstühlen. Fragt nicht. Es sieht schlimm aus, und es stinkt nach Babykacka und Feuchttüchern.
»Ich denke, wir sollten sie für heute in Ruhe lassen«, sagt Mrs. Hammond.
»Ja«, stimme ich ihr zu.
Das ist allein meine Schuld. Ich hätte nie eine Immobilie zeigen dürfen, die ich fünf Jahre lang nicht gesehen habe. In dieser Zeit kann alles Mögliche passieren – wie man hier sieht.
»Sollen wir vielleicht einen ganz kurzen Blick in den Garten werfen?«, schlage ich vor in der Hoffnung, wenigstens ein bisschen guten Eindruck von der Immobilie zu retten.
Ich hatte schon Interessenten, die für eine Wohnung nur geboten haben, weil sie sich in den Garten verliebt hatten, so groß ist die Verzweiflung der Leute, einen halben Quadratmeter Rasen in London ihr Eigen nennen zu können.
»Okay«, flüstert Mrs. Hammond.
Wir bahnen uns einen Weg durch den Hindernisparcours zu der Verandatür, und ich scanne im Vorbeigehen den Bücherschrank, wie ich das immer tue, nach einem Exemplar von Der Fünfjahresplan in der Hoffnung, einen Gleichgesinnten zu treffen. Bis jetzt war das noch nie der Fall, und heute ist keine Ausnahme. Ich fange Mrs. Hammond auf, die beinahe in einer kleinen Pipipfütze ausrutscht, dann versuche ich, den Vorhang aufzuziehen, was aber nicht geht. Er hat sich in irgendetwas auf der anderen Seite verfangen. Ich ziehe ein bisschen fester und höre im nächsten Moment eine Kinderstimme »Nein!« rufen.
»Hallo, Kleiner, du da hinter dem Vorhang. Meinst du, wir könnten kurz einen Blick in euren hübschen Garten werfen?«
»Nein!«, wiederholt er.
»Bitte«, sage ich und zerre wieder an dem Vorhang.
Es raschelt hinter dem Stoff, bis der Kopf eines kleinen Jungen zum Vorschein kommt. Zwei Dinge fallen sofort an dem Kind auf. Das eine ist der grüne Rotz, der ihm aus der Nase läuft, das andere ist groß und weiß und an seinem Kopf befestigt.
»Was hast du denn da auf dem Kopf?«, fragt Posh Boy mit einer Stimme für unter Dreijährige.
Wir starren alle darauf. Es sieht aus wie ein schlampiger Verband, aber dann, gerade als ich sagen will »Oh, hast du dir auch den Kopf angeschlagen, so wie ich?«, dämmert mir, dass das gar kein Verband ist, sondern eine Binde. Zum Glück ist sie sauber.
Dies hier hätte einen Platz in den Top Ten meiner beschissensten Besichtigungen verdient.
Wir trotten zurück in die Diele.
»Wir gehen jetzt wieder. Ich rufe Sie nachher an«, sage ich in sanftem Ton zu Claire auf dem Weg nach draußen.
Sie nickt, und ich bringe die Hammonds zu ihrem Wagen, bevor ich zurück zu Claire laufe, die in der Tür steht und ins Leere starrt.
»Alles in Ordnung, Claire?«, frage ich leise.
»Nein«, antwortet sie mit erstickter Stimme. »Er hat mich verlassen, für seine Masseurin. Ich muss unbedingt die Wohnung verkaufen, ich muss hier so schnell es geht raus.« Sie klingt verzweifelt.
Ich starre diese schöne, gebrochene Frau an, und am liebsten würde ich sie an mich drücken, aber sie hat immer noch das Baby an der Schulter.
»Das tut mir sehr leid«, sage ich leise.
Und das stimmt. Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen. Ich male mir aus, wie ich mich fühlen würde, wenn Dan mich verließe. Ich wäre verloren. Und das auch ohne eine Horde Kleinkinder, die auf mich angewiesen sind.
Claire sagt nichts, sondern beginnt einfach zu weinen. Dann fängt das Baby auch an. Sie schenkt mir ein trauriges, entschuldigendes Lächeln und schließt die Tür.
Posh Boy steht noch in der Einfahrt und überprüft seine Schuhsohlen. Er hebt den Kopf, als ich vorbeigehe.
»Tja, das war wohl ganz großer Mist«, sagt er, und es hört sich fast begeistert an.
Was kann ich sagen? Nichts. Das war großer Mist, und ich wünschte, er wäre nicht dabei gewesen und hätte alles mitbekommen.