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Ich weiß nicht, ob er ein Herz hat, aber ich habe definitiv eins, und ich spüre es klopfen. Es ist, als würde ein zorniger Mann darin sitzen, der versucht herauszukommen. Ich habe das noch nie erlebt. Mein Herz schlägt buchstäblich um sich in der Brust. Mir bleiben nur noch siebenundfünfzig Minuten, und in der Schlange vor dem Geldautomaten stehen immer noch drei Leute vor mir. Am liebsten würde ich ihnen erklären, dass ich von zwei Kriminellen unter Druck gesetzt wurde, innerhalb einer knappen Frist vier Riesen aufzutreiben, aber man würde mich nur für eine der vielen Irren Londons halten, missbilligend den Kopf schütteln und mir sagen, dass ich mich hinten anstellen soll. Diese Steinewerfer können nicht legal sein. Ich meine, wir sind hier nicht in einem Film mit Ray Winstone. Ich werde mit ihrem Auftraggeber reden müssen, für wen die zwei auch immer arbeiten. Mum und ich haben einen Anspruch auf Entschädigung. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie so viel Angst.
Endlich bin ich dran. Meine Hände zittern, als ich meine Geheimzahl eingebe, »anderer Betrag« wähle und »£4000« tippe. Es dauert einen Moment, dann kommt: »Zurzeit ist leider nur ein Auszahlungsbetrag von maximal £300 verfügbar.«
Ich starre auf den Bildschirm. Ich wiederhole das ganze Prozedere. Das muss ein Computerfehler sein. Es ist mein Geld, warum kann ich es nicht abheben? Wieder kein Glück, und laut meiner Armbanduhr ist es jetzt elf nach acht. Ich hebe dreihundert Pfund ab. Unter normalen Umständen ist das viel Geld, aber heute sind das nicht einmal zehn Prozent dessen, was ich brauche. Ich entferne mich von dem Geldautomaten und wähle Wendys Nummer.
»Hi, Süße«, trällert sie.
»Wendy. Ich stecke in der Scheiße. Mum hat großen Ärger. Sie hatte vorhin Besuch von zwei Schlägertypen. Richtige Schwergewichte, die Fenster einschmeißen und so. Ich muss denen bis um neun vier Riesen übergeben, oder sie demolieren das Haus.«
»Was?«
»Tut mir leid, du kriegst das Geld gleich morgen wieder, aber im Moment brauche ich alles, was du hast. Ich habe keine Zeit, dir das näher zu erklären. Du musst mir einfach vertrauen.«
»Ja, ja, klar. Shit. Okay. Ich werde alles zusammenkratzen, was ich habe, und wir treffen uns dann gleich bei deiner Mum. Ist das okay?«
»Ja. Danke. Ich werde es auch noch bei Bob und Schleimi versuchen, aber sieh zu, dass du so viel wie möglich auftreibst. Bis gleich.«
Ich wähle Schleimis Handynummer.
»Gracie Flowers, mi amiga, ist alles in Ordnung?«
»Schl… Ken, wo bist du?«
»In Stansted, Darling. Wir sind auf dem Weg nach Spanien.« Er muss gegen den Lärm einer Turbine anschreien. »Du solltest unbedingt mal mitkommen, du würdest …«
NEIN!
»Danke«, sage ich rasch. »Schönen Urlaub.«
Ich lege auf. Herz, beruhige dich. Es kann nicht gesund sein, so zu rasen. Mein Herz fühlt sich an, als würde es jeden Moment explodieren. Ich wähle die Nummer von Bob dem Baumeister. Ich weiß nicht, warum ich mich überhaupt mit Schleimi aufgehalten habe. Bob ist immer greifbar.
»Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Signalton.«
NEIN!
»Piep.«
»Bob, hier ist Gracie. Ruf mich bitte sofort zurück. Ich habe ein verzwicktes Problem. Bitte, melde dich.«
Ich lege auf. Verzwicktes Problem? Ich klinge allmählich wie Posh Boy. Posh Boy! Kann ich? Soll ich? Ja, Grace. Du hast nicht viele Alternativen.
Ich wähle seine Nummer. Es klingelt einmal, es klingelt zweimal.
»Bitte, Posh Boy. Bitte, bitte. Ich tue auch alles.«
Es klingelt ein drittes Mal, dann schaltet sich die Mailbox ein. Ich hinterlasse keine Nachricht. Ich bin zu beschäftigt damit, zu Nina zurückzurennen. Ich werde bei Bob dem Baumeister vorbeifahren. Er arbeitet immer bis spät in die Nacht, also ist er bestimmt in seiner Halle. Die Uhr in meinem Wagen zeigt kurz vor halb neun. Die Straßen haben Frostschäden, und ich breche alle meine heiligen Fahrregeln, sodass ich nur sieben Minuten später vor Bobs Einfahrt halte, aber auf dem Gelände brennt kein Licht, und es steht dort auch kein Land Rover. Ich klopfe vorsichtshalber an das Tor, nichts rührt sich. Ich habe sieben Minuten verschenkt! Herz, bitte, bitte, hör auf. Ich knalle die Wagentür zu und starte wieder den Anlasser. Blöde Idee, Gracie. Saublöde Idee. DENK NACH!
»Irgendjemand, irgendwo, hilf mir, bitte«, flüstere ich.
Und dann kommt mir ein Geistesblitz. Ich weiß, wo ich Hilfe bekomme. Ich hätte mich als Erstes dorthin wenden sollen. Das Carbuncle. Ich schaffe die Strecke in wenigen Minuten. Ich parke in der zweiten Reihe und schließe den Wagen nicht einmal ab, bevor ich in den Pub stürze.
»Anton. Wo ist Anton?«, frage ich keuchend den jungen Mann, der heute bedient.
»Hab ihn nicht gesehen.« Er zuckt mit den Achseln.
»Was?«, japse ich.
»Er ist nicht da.«
»Was?«
»Er ist aus.«
»Und Freddie? Was ist mit Freddie?«
»Ich glaube nicht, dass er schon zurück ist.«
Meine Uhr sagt, dass es zwanzig vor neun ist. Niemand hat sich bei mir gemeldet. Mein Gehirn sagt nichts. Ich dachte immer, ich wäre um Ideen nicht verlegen, aber nun fällt mir wirklich nichts mehr ein, wie ich die Summe auftreiben kann. Ich habe lediglich noch hundertzwanzig Pfund Notreserve in meiner Küchenschublade. Schnell laufe ich hinüber in meine Wohnung, um sie zu holen, und sitze um Viertel vor neun wieder im Wagen.
Ich werde um ein paar weitere Stunden Aufschub bitten müssen bis morgen früh, wenn die Bank wieder aufmacht. Es wird mir nichts anderes übrig bleiben, als zu betteln.
Ich schließe Mums Haustür auf, ohne Mildred zu begrüßen. Aus der Küche dringen Stimmen, also gehe ich darauf zu. Sie gehören Wendy und Freddie. Sie sitzen mit Mum am Küchentisch. Ich kann ihr nicht in die Augen sehen. Ich habe sie enttäuscht.
»Ich … ich … ich konnte das Geld nicht auftreiben«, sage ich.
»Grace, hier sind viertausend«, erwidert Freddie und steht auf. »Von Dad.«
Er gibt mir einen dicken, weichen Umschlag voller Geldscheine, und wie aufs Stichwort wird der schwere viktorianische Türklopfer aus Messing dreimal gegen die Haustür geschlagen.
»Ich komme mit«, sagt Freddie.
»Danke«, murmle ich.
Wir machen uns auf zur Eingangstür, wobei wir den Glasscherben und dem Ziegelstein ausweichen müssen.
»Hast du was für uns?«, fragt der Steinewerfer.
»Hier sind viertausend«, antworte ich und strecke ihm den Umschlag entgegen.
»Warum nicht gleich so?« Er lächelt.
»Sagen Sie«, sagt Freddie. »Für wen arbeiten Sie?«
»Für wen arbeiten wir nicht?«, kommt knurrend zurück.
»Nun, Sie verstoßen gegen das Gesetz mit Ihren Methoden, Schulden einzutreiben.«
»Gegen das Gesetz.« Der Steinewerfer lacht. »Die Lady da drin hat einen Kredit aufgenommen. Sie kennt die Bedingungen. Bis nächste Woche«, sagt er lächelnd, bevor er sich umdreht.
Ich sehe ihm nach. Ich fühle mich der Ohnmacht nahe, mein Kopf hämmert, und mein Bauch tut weh.