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Die Woche war absolut grauenhaft. Ich dachte, ich würde jetzt einfach dieses Dingsda durchziehen und es würde leicht sein, aber das ist es nicht. Ich habe seit Tagen nicht geschlafen. Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich vor mir das Bild aus der Broschüre, die die Gottesfrau mir gegeben hat. Und das ist noch nicht alles. Das Allerseltsamste ist, dass ich mich im Moment nicht allein fühle. Nachts liege ich wach und stelle mir vor, dass ich, beziehungsweise wir, also das Baby und ich, ein kleines Team sind. Mit diesem Gefühl habe ich nicht gerechnet. Morgen Vormittag um elf ist der Termin in der Klinik, und danach werde ich wieder allein sein. Ich fühle mich miserabel. Ich will es nicht tun. Ich will es ums Verrecken nicht. Aber ich weiß, dass ich muss. Oder doch nicht?

Wie kommt es, dass man immer dann, wenn man total mies drauf ist, zwingend auf einer Abendveranstaltung erscheinen und so tun muss, als wäre alles in bester Ordnung?

Bob ist plötzlich wieder aufgetaucht, und ich bin zu einer seiner Einweihungspartys eingeladen. Immer wenn er die Sanierung eines Objekts abgeschlossen hat, richtet er in der Musterwohnung eine Feier für alle wichtigen Leute aus, die ihm dabei geholfen haben – Grundstücksplaner, Architekten, Stadträte, Geschäftsleute, Vertreter der Lokalzeitung und so weiter. Ich bin immer dabei und mische mich unter die Leute, um mich vorzustellen und meine Visitenkarten zu verteilen. Normalerweise gehe ich gern zu diesen Partys, obwohl sie mir anfangs etwas Übung abverlangt haben. Bei meiner ersten Einweihungsfeier hat es mich bei der Vorstellung, dass die Leute über den nagelneuen Teppich latschen würden, so sehr gegraust, dass ich mich in die Tür gestellt und jeden Gast aufgefordert habe, mir seine Schuhsohlen zu zeigen, bevor er von mir ein »Herein«, ein »Bitte abputzen« oder sogar ein »Bitte ausziehen« bekam.

Dies ist die vornehmste Einweihungsfeier, die Bob jemals gegeben hat, und die Wohnung ist ein Traum. Die Häppchen kommen von einem Caterer, aber leider gehören sie zu der Sorte, die fantastisch aussieht und scheußlich schmeckt. Nach meiner Runde durch den Raum bediene ich mich von dem kleinen Rest der edlen schottischen Eier auf einem Tablett. Der Bissen, den ich direkt in eine Serviette spucke, ist heute das Erste, was ich zu mir genommen habe. Außerdem gibt es eine mobile Cocktailbar mit Kellner, der ich gleich einen Besuch abstatten werde. Posh Boy ist auch hier. Ich sehe ihn immer wieder Hände von Männern in Anzügen schütteln und anderen auf die Schulter klopfen. Der denkt wohl, er wäre auf dem G20-Gipfel.

Bob sieht genauso elend aus, wie ich mich fühle. Er kommt auf mich zu. Am liebsten würde ich mich jetzt mit einer Friends-DVD-Box und heißer Hühnerbrühe zu ihm ins Bett kuscheln.

»Hi, Bob, wie geht’s?«

Er versucht zu lächeln. »Oh, Grace. Nicht gut.«

»Das tut mir leid, Bob.«

»Schottische Eier? Du hast doch nichts dagegen, wenn ich mir eins nehme?«

»Das würde ich nicht tun«, sage ich.

»Bah!«, macht er nach dem ersten Bissen.

»Ich hab dich gewarnt.«

Ich gebe ihm eine Serviette.

»Tut mir leid, dass ich mich nicht mehr gemeldet habe. Ich hab versucht, einen neuen Vorarbeiter zu finden. Deshalb halte ich mich im Moment mit Neuerwerbungen zurück. Außerdem wollte ich dich nicht mit meinem Mist belasten.«

»Bob, du kannst mich ruhig damit belasten. Teil deinen Mist mit mir, Bruder.«

»Danke, Schwester.«

»Also, was war los?«

»Grace, es war der Horror. Zwischen den beiden läuft schon seit Monaten was, und ich war die ganze Zeit völlig ahnungslos.«

»Wie ist der momentane Stand?«

»Na ja, sie ist weg, und ihn habe ich gefeuert. Möglich, dass die beiden jetzt zusammen sind.«

»Das tut mir leid.«

»Ach, es ist am besten so. Sie war nicht die Frau, für die ich sie gehalten habe. Du kennst mich, für mich war sie ein Engel. Aber …« Er lässt die Schultern hängen.

Ich massiere seinen Rücken und sage: »Es kann nur besser werden.«

»Ja, ich weiß. Bevor sie weg ist, hat sie jedoch was zu mir gesagt, das ich nicht mehr aus dem Kopf kriege, Grace.«

»Möchtest du darüber reden?«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Vor einem Jahr war sie schwanger. Das Kind war von mir – zumindest behauptet sie das –, aber sie war nicht glücklich damit, also ließ sie es wegmachen.«

»Oh, Bob.«

»Weißt du, Grace, ich muss ständig daran denken. Du kennst mich. Ich habe mir immer Kinder gewünscht. Und dann gibt es ein Kind, mein Kind – sorry, unser Kind –, und sie treibt es ab. Es ist dumm, doch das geht mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Ich war am Samstag im Stadion. Die verkaufen da diese Strampler, und ich stand davor und musste mir die Augen reiben. Tut mir leid, Grace, ich bin im Moment keine gute Gesellschaft.«

Ich sage nichts, sondern streichle einfach weiter seinen Rücken.

»Ich muss ständig daran denken, wie viel Liebe ich dem Kind hätte geben können«, sagt er, und seine Stimme bricht.

Ich kann ihm keinen Trost anbieten.

»So viel Liebe.«

Ich nicke. Das ist alles, was ich tun kann. Ich stehe neben Bob und nicke und denke an den zweiten Herzschlag in mir, der morgen nicht mehr da sein wird.

»Kann ich dich nachher zum Essen einladen?«, fragt er.

»Oh.« Ich zögere. Ich liebe Bob, aber so gern ich ihm auch Trost spenden möchte, ich kann heute Abend kein mitfühlendes Ohr für ihn haben. Ich kann mir das mit dem Baby, das er geliebt hätte, nicht anhören. »Tut mir wirklich leid, aber ich kann nicht.«

Trotzdem sollte ich etwas zu mir nehmen. Ich habe seit Tagen nicht mehr richtig gegessen. Gott, ich habe nicht gegessen, ich habe nicht geschlafen, ich habe mich total vernachlässigt. Ich weiß, warum. Das liegt daran, dass ich mich selbst hasse für das, was ich morgen tun werde.