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Immer wenn ich einen schlechten Tag habe, bin ich mit meiner Mutter verabredet. Das ist eins der sinnlosen Gesetze, denen mein Leben gewissenhaft folgt. Heute ist so ein typisches Beispiel. Nicht nur, dass mir mein Verhütungsmittel verweigert wurde und ich stundenlang eine Straße entlangkriechen musste, auf der über eine Länge von hundert Kilometern eine Spur aus keinem anderen ersichtlichen Grund gesperrt war als dem, Hunderte orangefarbene Absperrhütchen zu lüften, muss ich nun auch noch das Sonntagsessen bei meiner Mutter durchstehen. Der Braten ist nicht das Problem. Meine Mutter kann ziemlich gut kochen. Sie investiert immer eine Ewigkeit in die Essensvorbereitungen, wenn Danny und ich zu ihr kommen – sie macht das ganze Programm inklusive Yorkshire-Pudding und fünf Gemüsebeilagen. Das tut sie in erster Linie, weil sie Danny abgöttisch liebt. Das Festmenü ist nur für ihn. Sie zwingt ihm Riesenportionen auf, als wäre er eine Suffragette im Hungerstreik, während sie selbst fast gar nichts isst, vor lauter Angst, sie könnte auch nur ein halbes Pfund zunehmen. Zudem versucht sie während der ganzen Zeit am Tisch, mich vom Essen abzuhalten. Ich ignoriere sie immer, aber es ist wirklich schwer, sein Essen zu genießen, wenn man dabei ständig beobachtet und in vorwurfsvollem Ton mit Kommentaren kritisiert wird wie »Sind das fünf Röstkartoffeln auf deinem Teller?« und »Meerrettich hat jede Menge versteckte Kalorien, weißt du das eigentlich?« und »Du willst doch sicher keinen Nachschlag, oder?«
»O Danny, müssen wir wirklich?«, sage ich in Mums Einfahrt, als ich die Zündung ausschalte.
»Ja. Komm schon. Ich hab Kohldampf, und wir sind spät dran«, erwidert er und streckt die Beine durch.
Ich schnalle mich nicht einmal ab. Ich lasse mich einfach nach vorn fallen und lege den Kopf auf das Lenkrad.
»Ich will nach Hause in mein Bett«, jammere ich.
»Kannst du ja bald.«
»Augenblick, wo habe ich eigentlich die Briefe?«, sage ich.
Ich löse meinen Gurt und greife hinüber zum Handschuhfach. Ich klappe es auf und hole die schrecklichen Briefe heraus, die ich am Tag zuvor in Dads Arbeitszimmer gefunden habe. Dann lege ich sie in meinen Schoß und gähne.
»Hübsche Mandeln«, sagt Danny, sein Standardspruch, wenn ich gähne.
»Hübscher Penis«, entgegne ich, meine Standardantwort. Ich werde nie eine Dame sein.
»Was hast du da?«
»Einen Braten in der Röhre«, sage ich mit schlechtem amerikanischem Akzent.
»Mach mir keine Angst, Babe.«
»Oh! Oh! Es hat mich getreten!«, witzle ich.
»Lass das.«
Ich will kein Baby, aber Danny braucht bei der Vorstellung, dass ich von ihm ein Kind bekomme, gar nicht so entsetzt zu gucken.
»Schon gut. Ich werde mir die Pille danach – beziehungsweise die Pille nach zwei Tagen, wie sie nun heißen muss – besorgen, wenn wir uns nachher auf den Rückweg machen. Auf der Harrow Road gibt es eine Apotheke, die hat bis spätabends auf und hoffentlich keine moralischen Bedenken.«
Ich öffne den ersten Umschlag. Es ist eine Kreditkartenabrechnung.
»Dann kannst du mich vorher am Pub absetzen, Babe«, sagt Danny.
Ich habe es vernommen, gebe aber keine Antwort, weil ich von dem Kontoauszug in meiner Hand zu sehr abgelenkt bin.
»Oh.«
»Was ist?«
»O mein Gott!«
»Grace, was hast du da?«
»Meine Mutter hat ihre Kreditkarte um elftausend Pfund überzogen – und sie hat die letzten zwei Raten nicht bezahlt.«
Elftausend Pfund! Das ist ein Auto. Oder eine neue Küche und ein Bad. Oder eine Kaution für ein Einzimmerapartment ohne Garten in Cricklewood. Wie will sie das zurückzahlen? Ich habe Jahre gebraucht, um zehn Riesen zu sparen, und ich gehe arbeiten! Die geschätzten Überziehungszinsen für letzten Monat betragen über hundert Pfund. Schulden, die immer größer und größer werden, wie ein gentechnisch verändertes Huhn.
Ich gebe ihm den Auszug.
»Oh«, stimmt er mir zu.
»Kommt ihr nicht herein?« Es ist Mum, die von der Veranda aus ruft.
»Rosemary«, sagt Danny und wirft die Abrechnung in meinen Schoß. »Du siehst hinreißend aus.«
In Gegenwart meiner Mutter verwandelt Danny sich immer in einen schleimigen Oberkellner, aber heute bin ich ihm dankbar dafür, weil mir das ein bisschen Zeit verschafft, um mich zu sammeln. Ich lege den Kontoauszug und die anderen ungeöffneten Briefe zurück ins Handschuhfach und klappe es wieder zu.
»Hey, Mum, hübsch siehst du aus«, sage ich und steige aus dem Wagen. Meine Mutter schenkt mir das glasige Lächeln, an das ich mich im Laufe der Jahre gewöhnt habe.
»Danny, ich habe mich gefragt, ob du für mich im Haus ein paar Glühbirnen auswechseln könntest. Du bist so schön groß«, flötet meine Mutter. Nicht im Sinne eines Instruments, sondern eines Flirts. »Und ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mal Zeit hättest vorbeizukommen, um den Rasen zu mähen.«
»Kein Problem, Rosemary.«
»Ich habe heute Morgen mit deinem Vater gesprochen, Grace.«
So schnell habe ich nicht damit gerechnet. Normalerweise wartet sie bis zum Dessert. Dass Mum mit meinem toten Vater spricht, ist ein relativ neues Phänomen. Das war noch nicht so, als ich zu Hause wohnte, zumindest hat sie es nie erwähnt. In der ersten Zeit nach Dads Tod, als wir alle ein bisschen durcheinander waren, wachte Mum nachts immer auf und behauptete, Dad habe am Fußende ihres Bettes gestanden und sie beobachtet. Aber das dauerte nur ein paar Monate. Sie träumte oft von ihm, und hin und wieder erzählte sie davon, aber immer im Stil von »Ich habe geträumt, dein Vater und ich waren in Cornwall«, worauf ich gewöhnlich erwiderte »Ich war noch nie in Cornwall« oder »Cornwall soll sehr schön sein«. Es hatte nicht den Anschein, als würden ihre Träume Anlass zur Sorge geben, bis zu jenem Tag vor ungefähr drei Monaten, als meine Mutter mich im Büro anrief. Wendy stellte den Anruf mit ihrem Hilfe!-Gesicht durch. Das zieht sie manchmal, wenn jemand sich am Telefon etwas eigenartig anhört. Also nahm ich den Hörer ab.
»Hallo, Mum«, sagte ich.
»Grace, ich habe mit deinem Vater gesprochen.«
Es hörte sich an, als hätte sie eine Ewigkeit versucht, bei ihm durchzukommen, weil ständig besetzt war. Ihre Mitteilung war so sachlich, dass ich zu keiner Reaktion fähig war.
»Er … er …« Plötzlich klang sie ganz aufgeregt und hatte Mühe, die Worte herauszubringen. »Grace, du sollst kein Violett tragen.«
»Wie bitte?«
»Das hat dein Vater gesagt. Ich habe heute Morgen seine Stimme gehört. Und er hat gesagt: ›Gracie, zieh nichts Violettes an. Ausgerechnet Violett!‹« Sie verstummte kurz und wurde dann emotional. »Hast du etwas Violettes an?«, flüsterte sie.
»Ja.«
Sie keuchte entsetzt auf.
»Dann solltest du besser sofort nach Hause fahren und dich umziehen.«
Also tat ich das, und die ganze Zeit machte ich mir Sorgen, dass meine Mutter den Faden nun endgültig verloren hatte.
Ich spüre, dass Danny sich versteift. Das überrascht mich nicht. Wahrscheinlich hat er Angst, ich könnte wieder in den Wagen steigen und er seinen Sonntagsbraten verpassen, der in der Tat sehr gut riecht.
»So?« Ich versuche, beiläufig zu klingen, was die meisten Menschen unter diesen Umständen wohl schwierig finden würden. »Was hat er denn gesagt?«
»Er macht sich Sorgen um dich, Grace.«
»Warum? Weil ich violette Sachen anziehe?«
Ich nehme wahr, dass sich der perfekt durchgebogene Rücken meiner Mutter verspannt. Das macht sie immer, um Konfrontationen abzublocken. Sie spannt diverse Muskeln im Körper an, meistens den Rücken und den Kiefer, aber manchmal sieht man auch, dass ihr Arm plötzlich steif wird oder ihre Hand sich zusammenballt. Letzteres kann beunruhigend wirken. Als Dan das erste Mal ihre geballte Faust sah, zog er den Kopf ein.
»Nein«, antwortet sie mit gepresster Stimme. »Setz dich ruhig schon an den Tisch, Danny. Vielleicht kannst du den Wein aufmachen.«
»Sicher, Rosemary«, erwidert er. »Oh, das sind aber hübsche Blumen. Hast du einen Verehrer?«
Ich werfe ihm rasch einen Blick zu. Er deutet auf eine große Vase mit frischen Blumen, die auf dem Tisch steht. Ich habe schon seit Jahren keine frischen Blumen mehr in diesem Haus gesehen.
»Wer hat dir …?«, beginne ich, aber meine Mutter fällt mir ins Wort.
»Er macht sich ernsthaft Sorgen um dich.«
»Und warum macht er sich Sorgen?«, frage ich, während ich Dan an den Tisch folge.
»Er findet, du solltest wieder mit dem Singen anfangen.«
Ich verdrehe die Augen. Was hat es damit auf sich, dass alle Welt sich an diesem Wochenende scheinbar verschworen hat, um mich zum Singen zu überreden? Ich war jahrelang recht glücklich damit, nicht zu singen.
»Warum?«
»Er findet, du hast zu viel Talent.«
»Oh, findet er das?«
»Und ich denke das auch.«
»Wie bitte?«
»Ich stimme ihm zu.«
»Klar tust du das.«
»Werd jetzt nicht spöttisch.«
»Und wann hat er das gesagt?«
»Heute Morgen.«
»Mum …«
»Grace …«
»Dad ist tot«, sage ich sanft und gehe zu ihr, um sie in den Arm zu nehmen, aber sie macht sich ganz steif, und ich komme mir blöd vor.
»Ich habe übrigens diesen Brief von der Friedhofsverwaltung bekommen.«
Meine Mutter spricht das Wort »Friedhofsverwaltung« so leise, dass es kaum zu verstehen ist. So macht sie das mit allen Begriffen, die irgendwie mit Dads Tod in Zusammenhang stehen.
»Oh! Super. Wo ist er?«
»Ich habe schon geantwortet.«
»Gut …«, sage ich, aber irgendetwas an der Art, wie sie mich ansieht, lässt mich kurz verstummen. »Was hast du denn geschrieben?«
Sie gibt keine Antwort. Sie geht einfach seelenruhig hinüber zu dem Messerblock und zieht das Tranchiermesser heraus. Sie zeigt damit auf mich, als sie spricht. Nicht bewusst, nicht in der Absicht, mich damit zu verletzen, aber trotzdem sieht es ziemlich makaber aus.
»Mum, was hast du geschrieben?«
»Ich habe geschrieben, dass sie die Grabstelle haben können«, sagt sie und macht sich daran, den Braten zu tranchieren.
Und so begann ein weiteres schreckliches Mahl bei meiner Mutter.