16

Anton hat weder Danny noch meinen Autoschlüssel mitgebracht. Seine Anwesenheit ist völlig überflüssig, aber ich bin trotzdem wahnsinnig froh, dass er hier ist. Er hat seinen Hund dabei, Keith Moon, und obwohl Keith der gutmütigste Hund auf diesem Planeten ist und keiner Fliege etwas zuleide tun kann, fühle ich mich in seiner Gegenwart gleich viel sicherer.

Hier ist ganz schön was los. Insgesamt drei Polizeiwagen sind im Einsatz. Einer ist bei mir geblieben, einer kurvt herum, um nach den Schweinen Ausschau zu halten, und der dritte ist unterwegs zum Pub, um den Ersatzschlüssel von Danny zu holen, den ich über Antons Handy verständigt habe. Danny klang ziemlich betrunken, also sagte ich ihm, er soll nicht kommen. Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist ein stinkbesoffener Danny, der Selbstgedrehte qualmt und mir immer wieder erklärt, dass er Bock auf einen Kebab habe. Ich kann nicht sauer auf ihn sein. Ich übernehme die volle Verantwortung für seinen Rausch, schließlich hatte er heute nicht viel zu tun, außer sein Weinglas zu leeren, während ich mit Mum herumdiskutierte.

Einer der Polizisten hat per Funk einen Notarzt gerufen, und so durfte ich in einem echten Krankenwagen sitzen, wo man mich verarztete. Ich kam mir vor wie in einer Krankenhausserie, obwohl der Reiz des Neuen schnell verflog, als man mir einen dicken Verband um den Kopf wickelte. Das ist aber noch nicht das Schlimmste. Mein Gesicht ist total zerschunden. Kinn- und Mundpartie sehen noch normal aus, aber alles andere darüber schillert in grässlichen Farben, die an eine Grufti-Braut erinnern. Wenigstens tut es im Moment nicht weh, weil die Sanitäter mir etwas gegen die Schmerzen gegeben haben.

Die restliche Zeit verbringe ich in Antons Jaguar mit Keith Moon auf meinem Schoß.

»Soll ich das Radio einschalten?«, fragt Anton und streckt die Hand nach dem Knopf aus. Nicht nach seinem Hosenknopf, sondern nach dem Knopf am Radio.

»Oh, macht es dir was aus, es auszulassen?«

»Magst du keine Musik?«

Ich kichere bei der Vorstellung, keine Musik zu mögen. »Ich liebe Musik. Ich mag nur kein Radio.«

»Warum nicht?«

»Ich mag diese Zufälligkeit nicht. Ich will vorher wissen, was ich höre«, erkläre ich ihm.

Ich bin nicht plemplem seit dem Tod meines Vaters, aber ich habe dieses kleine Persönlichkeitsmerkmal entwickelt. Ich glaube nicht, dass es schlimm ist, und es macht mich auch nicht zu einer Irren, aber ich höre eben einfach kein Radio. Und das schon seit vielen Jahren nicht mehr. Ich weiß, warum das so ist. Das hat damit zu tun, dass mein Vater mir Musik schenkte. Im wahrsten Sinne des Wortes. Während meiner Kindheit spielte er mir fast täglich einen neuen Song vor. Dies tat er mit Feingefühl, Enthusiasmus und immer mit einem ehrfürchtigen Lächeln. Ich liebte diese täglichen Geschenke. Wenn ich anderen Achtjährigen Nina Simone vorspielte, fanden sie die Musik schrecklich, und vielleicht hätte ich genauso empfunden, wenn mein Vater mich nicht in ihre Songs eingeführt hätte. Aber dann starb er, und die Musik fing an wehzutun. Es schien ständig irgendeinen Song zu geben, der irgendwo herkam und mir eine neue Erinnerung ins Gesicht schleuderte, sodass ich das Gefühl hatte, von Trauer übermannt zu werden. Während ich in einem Moment funktionierte und alles bestens war, fühlte es sich im nächsten an, als würde die Trauer mich ersticken. Ich brauchte nur an einem Geschäft vorbeizukommen und einen Song zu hören, den er mir früher vorgesungen hatte oder den wir gemeinsam gesungen hatten, schon wäre ich am liebsten in Tränen ausgebrochen oder hätte laut geschrien und mich verkrochen. Radiohören war am schlimmsten. Das war wie eine Traumalotterie. Warum sollte ich mir das antun? Seit damals habe ich nie wieder Radio gehört.

»Magst du Musik?«, frage ich Anton.

»Darauf kannst du Gift nehmen.«

»Das war wirklich eine dämliche Frage. Schließlich warst du jahrelang mit Bands auf Tour und veranstaltest neuerdings sogar Karaoke-Abende in deinem Pub.« Ich keuche erschrocken. »Oh, Anton, ich habe dich von deinem Karaoke weggeholt.«

Er schaudert. »Ein paar meiner Lieblingssongs wurden von den Besoffenen regelrecht massakriert.«

»Hast du auch gesungen?«

»Ja, habe ich.«

»Und was hast du gesungen?«

»Oh, ein Duett mit einer Bekannten.«

»Welches denn?«

»Einen Song von Simon & Garfunkel. Lange vor deiner Zeit.«

»Welchen?«

»The sound of silence«.

»Oh, ich liebe dieses Stück.«

»Ich habe die CD hier. Kein zufälliges Radioprogramm erforderlich«, erwidert Anton und schaltet die Anlage ein.

Er wählt The sound of silence. Ich höre die vertrauten Gitarrenakkorde und die sanften Stimmen von Simon & Garfunkel, und die Musik klingt warm und herzlich, als würde man mich in einer alten Heimat willkommen heißen. Dad liebte dieses Stück. Ich habe es ihm auf dem Friedhof nie vorgespielt. Wie konnte ich diesen Song vergessen? Dad hatte eine Simon-&-Garfunkel-Phase in dem Sommer, in dem er starb. Kurz vor seinem Unfall fuhr er mich zu einem Gesangswettbewerb nach Chester. Er hatte eine Live-Aufnahme von irgendeinem Konzert dabei, und wir sangen während der ganzen Fahrt. The Boxer, Scarborough Fair und auch ein Stück, das Bridge over troubled water heißt. O Gott, ich hoffe bloß, Anton spielt mir das nicht auch noch vor. Dad hat es so schön gesungen an jenem Tag im Wagen, und er spielte es noch einmal, als wir am Ziel angekommen waren, bevor ich anschließend hineinmusste, um mich anzumelden. Ich weiß noch, dass er sang »Your time has come to shine. All your dreams are on their way Und als ich ihm einen Kuss gab und aus dem Wagen stieg, lächelte er und sagte: »All deine Träume werden wahr, Grace. Zeig’s denen, Silver Girl.«

Es ist ein bisschen abartig, aber ich ertappe mich dabei, dass ich mir vorstelle, ich würde hier nicht mit Anton sitzen, sondern mit meinem Vater. Ich tue so, als wäre ich wieder fünfzehn und als wären wir unterwegs zu einem Gesangswettbewerb. Ja, ich weiß, das ist krank, aber ich habe vorhin schließlich einen Schlag auf den Kopf bekommen. Ich schließe die Augen.

Anton beginnt mitzusingen. Wow! Der kann vielleicht singen. Seine Stimme ähnelt der von Dad. Sie hat dieselbe Tonlage und dasselbe warme Timbre – sie zwingt einem die Musik nicht auf, sondern legt sie einem sanft ins Ohr.

Ich weiß, es ist verrückt, sich vorzumachen, ein Kneipenbesitzer wäre mein toter Vater, aber es tut auch unheimlich gut. Es ist eine wahre Wohltat.

Das nächste Stück ist Bridge over troubled water, und ich kann mich nicht überwinden, Anton zu bitten, die Musik auszuschalten. Stattdessen lasse ich die Augen zu. Anton singt die ersten Textzeilen: »When you’re weary, feeling small. When tears are in your eyes, I will dry them all

»Du bist dran«, sagt Anton leise während des Klavierrefrains vor der dritten Strophe, genau wie Dad es getan hätte.

»Du bist gemein, das ist der anstrengende Part«, erwiderte ich dann immer flüsternd, weil ich die schwierigen Parts singen musste.

Anton singt Songs genau wie Dad damals, und ich habe das Gefühl, als würde mein Vater zu mir sprechen. Er sagt gerade, dass alles wieder gut wird.

»You shine, Gracie Flowers«, sagt Anton am Ende des Songs.

Ich kann ihn nicht anschauen, weil es mir vorkommt – und mir ist bewusst, dass das völlig durchgeknallt klingt –, als hätte mein Dad gesagt, dass er stolz auf mich ist. Obwohl ich nicht glaube, dass Dad auf mich stolz sein würde. Nicht wirklich.

»Danke«, sage ich schniefend.

Dann öffnet die Polizistin die Beifahrertür, und ein kalter Luftzug holt mich abrupt wieder zurück in die Gegenwart.