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Wendy und ich sitzen im Carbuncle. Ich habe Wendy den Schock ihres Lebens verpasst, als ich sie vorhin anrief.

»Kommst du mit zum Karaoke?«, fragte ich gespannt.

Sie gab lange Zeit keine Antwort.

»Wendy?«

»Willst du mich auf die Schippe nehmen?«

»Nein.«

»Karaoke?«

»Genau. Im Carbuncle.«

»Was?«

»Sag einfach, du kommst mit.«

»Ich komme mit.«

Ich hörte an ihrer Stimme, dass sie nicht erwartete, dass ich das durchzog. Sie dachte wahrscheinlich, ich würde absagen und wir würden den Vorfall unter »geistige Unzurechnungsfähigkeit« abspeichern, ein bereits prall gefüllter Ordner, aber ich zog es durch.

Wendy sieht mich an, als könnte sie nicht richtig glauben, dass ich die bin, die ich zu sein behaupte.

»Aber«, sagt sie kopfschüttelnd, »wir sitzen nicht mal in der Nähe der Tür, um schnell rauszukommen.«

»Ich weiß.« Ich lächle süffisant.

»Aber …«

»Es ist gut so, Wendy. Alles ergibt plötzlich einen Sinn.«

»Wenn es etwas gibt, das keinen Sinn ergibt, Gracie Flowers, dann ist das dein Verhalten.«

»Denk doch mal nach. Ich bin nicht Bezirksleiterin geworden. Das war für mich zuerst eine Art Weltuntergang, doch jetzt, da ich ein Kind erwarte, ist es gut, dass es so gekommen ist. Ich war völlig fertig wegen der Arbeit und wegen der Trennung von Danny. Es kam mir vor wie eine Katastrophe, als hätte ich zehn Jahre meines Lebens vergeudet. Und trotzdem haben wir ein Kind gezeugt. Wie geil ist das denn? Und ausgerechnet mein One-Night-Stand mit Posh Boy hat dazu geführt, dass ich den Abtreibungstermin verpasst habe und mich der Tatsache stellen musste, dass ich das Kind will. Außerdem bringt es Mum und mich einander näher. Verstehst du?«

Meine Aufmerksamkeit schweift von Wendy ab, als Anton die kleine Bühne mit einem Mikrofon in der Hand betritt. Er sieht heute Abend aus wie Cary Grant.

»Welcome allerseits, guten Abend. Da sind wir wieder«, beginnt Anton. Er unterbricht sich kurz und hustet. Er macht einen leicht nervösen Eindruck, was sehr niedlich ist. »Willkommen«, fährt er fort, für den Fall, dass wir die Message nicht verstanden haben. »Okay, auf jedem Tisch liegen Songlisten aus, falls jemand keine haben sollte, an der Theke gibt es noch reichlich davon. Meine Lieblingssongs sind mit Sternchen versehen, aber Achtung – da es sich um meine Favoriten handelt und der Pub mir gehört, behalte ich mir das Recht vor, jedem von euch den Saft abzudrehen, sobald ich das Gefühl habe, ihr geht kriminell damit um. Hart, aber fair, finde ich. Ihr seid also gewarnt. Und solange ich eure ungeteilte Aufmerksamkeit habe, möchte ich euch außerdem um einen Gefallen bitten. Viele von euch wissen bereits, dass ich im Finale von ENGLAND SUCHT DEN SUPERSTAR antrete, ich bin jedoch immer noch auf der Suche nach einer neuen Gesangspartnerin. Von den Organisatoren habe ich das Okay für eine Ersatzsängerin. Wenn ihr also jemanden kennt oder selbst Interesse habt, sprecht mich bitte nachher an. Ich danke euch.«

Dann stimmt er sein erstes Lied an. Es ist What a wonderful world. Ich lehne mich lächelnd zurück, froh darüber, dass Babybohne es mithören kann. Es ist wichtig, früh mit ihrer beziehungsweise seiner musikalischen Erziehung zu beginnen.

Ich beobachte Anton. Wie kommt es, dass ich ihn mir jedes Mal, wenn ich ihn sehe, unbekleidet vorstelle? Nicht auf eine vulgäre Art, vielmehr male ich mir gern aus, wie wir zusammen in seinem großen Bett nackt unter der Decke kuscheln. In meiner Vorstellung sind wir gerade nackt und in Löffelchenstellung, und seine Hände ruhen sanft auf meinem Bauch und halten Babybohne, während er uns dieses Lied vorsingt.

»Wer ist der Nächste?«, ruft er, nachdem der Applaus verklungen ist.

Ich hebe die Hand. Antons Blick wandert durch den Saal und verharrt irritiert auf mir. Ich versuche, ihn mit einem Lächeln zu beruhigen.

»Gracie Flowers.«

Er spricht meinen Namen leise, als würde er mit sich selbst reden, aber er hat das Mikrofon vor dem Mund, sodass alle es hören.

Ich gehe zur Bühne vor. Dieses Mal bin ich nicht vor Angst wie gelähmt. Ich fühle mich leicht und selbstbewusst. Ich möchte für dieses Baby ein Lied singen. Ich möchte ihm Musik schenken, so wie mein Dad mir Musik geschenkt hat. Ich will nicht, dass das arme Kind meine Macken bekommt.

»Was möchtest du singen?«

Nun muss erwähnt werden, dass Anton alles andere als unbesorgt klingt. Um die Wahrheit zu sagen, klingt er geradezu panisch. Ich vermute, er hat Angst, dass ich wieder schreiend aus seiner Kneipe laufe.

»Summertime«.

Er zeigt eine Art Lächeln und nickt, als wollte er sagen »Klar, was sonst?«

»Ich habe die Sam-Cooke-Version als Playback.«

»Perfekt. Nicht, dass mir die von Gershwin nicht gefallen würde.«

»Gracie Flowers, du kennst dich wirklich aus mit den Klassikern.«

»Mein Dad hat mir das Lied vorgesungen, als ich noch im Mutterleib war«, erkläre ich.

Diesem Mann möchte ich alles erzählen. Jede Erinnerung, jeden verrückten Gedanken möchte ich ihm mitteilen. Lieber Gott, bete ich für ihn, mach, dass ihm das erspart bleibt.

Ich hüpfe auf die Bühne und nehme das Mikrofon. Ich hatte seit vielen Jahren kein Mikrofon mehr in der Hand. Es fühlt sich viel schwerer an als früher. Anton startet das Playback und tritt in den Hintergrund. Mein Atem geht jetzt schneller. Ich schließe die Augen. Ich will die Gesichter im Pub nicht sehen. Ich möchte meinem Baby dieses Lied vorsingen.

Nach der ersten Strophe öffne ich die Augen und lächle ins Publikum, bevor ich weitersinge. Als ich fertig bin, bricht lauter Jubel aus, der hauptsächlich von Wendy kommt, die gerade durchdreht. Ich lächle, verbeuge mich mit einem kurzen Kopfnicken und drehe mich zu Anton, um ihm das Mikrofon zurückzugeben.

»Weinst du etwa?«, frage ich erstaunt.

»Das war wunderschön.«

Ich lächle.

»Begleitest du mich bei ESDS, Gracie?«, fragt er.

»Okay«, antworte ich.

»Wirklich?«

»Wirklich.«

»Ich habe meine Gesangspartnerin fürs Finale gefunden!«, ruft Anton und zeigt dabei auf mich.

Das Publikum explodiert, und ich muss an meinen Dad denken. Ich hoffe, er schaut gerade zu.

Seht ihr? Seht ihr? Am Ende wird alles gut.