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»Danke, Dad«, sage ich leise. Ich war heute in der Stadt, um einen Strauß Pfingstrosen für sein Grab zu kaufen. Ich kann mich nicht erinnern, ob Dad Pfingstrosen mochte, aber ich mag sie. »Die sind von mir und BB. BB steht übrigens für Babybohne und nicht für Big Brother. Kannst du dich an die Sendung erinnern? Die läuft jetzt nicht mehr. Nein, BB ist dein Enkelkind. Es wird dich freuen zu hören, dass BB bis jetzt ein sehr artiges kleines Ding ist.« Ich lächle. »Mum ist fantastisch. Was auch immer du zu ihr gesagt hast, sie ist jetzt ganz anders. Viel, viel stärker. Liebevoll. Glücklich. Ich glaube, das Geld hat ihr wirklich geholfen, und auch der Umstand, dass sie alles allein geregelt hat. Außerdem eröffnet sie ihre eigene Schneiderei. Gut, nicht? Beziehungsweise wird es bestimmt gut, wenn sie endlich anfängt, Kleider zu nähen, statt ihre Zeit damit zu vertrödeln, einen Namen für ihr Geschäft zu finden. Und du bist nach wie vor hier unter der Weißbirke. Man hat dich nicht überteert. Und – das wird dir hoffentlich gefallen – ich werde an einem Gesangswettbewerb teilnehmen und im Fernsehen auftreten. Die Sendung heißt ENGLAND SUCHT DEN SUPERSTAR.«
Ich höre, dass Leonard und Joan näherkommen, also beuge ich mich dicht an den Grabstein und flüstere: »Hab dich lieb.« Dann stehe ich auf. »Hallo, ihr zwei«, sage ich und wirbele herum. »Ich habe ein paar …«
Ich wollte eigentlich »gute Neuigkeiten« sagen, aber ich gerate ins Stocken. Mit Leonard stimmt etwas nicht. Er hat nicht die richtige Gesichtsfarbe. Normalerweise schimmert seine Haut rosig, heute sieht sie dagegen regenverhangener-Himmel-grau aus.
»Hallo, Grace«, sagt Joan mit einem Lächeln, das sie, wie ich ihr ansehen kann, Mühe kostet.
»Fühlst du dich nicht gut, Len?«, frage ich und gehe zu ihm, um ihn zu stützen.
Er bewegt sich sehr langsam, und ich kann seinen schweren Atem hören. Er schnauft, als wäre er erschöpft, dabei ist er nur die kurze Strecke vom Parkplatz bis hierher gelaufen. Das ist völlig untypisch für ihn. Normalerweise legt er die Entfernung im Hüpfschritt zurück.
»Er hatte eine schlimme Woche, nicht wahr, Len?«, sagt Joan.
Len nickt, während wir ihn auf Alfred George setzen. Wir treten einen Schritt zurück und sehen ihn an.
»Wart ihr beim Arzt?«
»Wir sind zu einem Spezialisten ins Krankenhaus überwiesen worden. Lens Blutdruck ist viel zu hoch.«
»Nun, der Spezialist sollte das sicher beheben können, oder nicht?«
»Der Termin ist erst in zweieinhalb Wochen. So schlimm war es noch nie. Ich kann mich nicht erinnern, dass Mum jemals so lange auf einen Termin hat warten müssen. Elaine in Dorset hatte vor ein paar Jahren ähnliche Beschwerden und wurde direkt am nächsten Tag gründlich untersucht! London ist nicht mehr das, was es einmal war. Es ist einfach überbevölkert – außerhalb der Stadt wären wir besser bedient. Trotzdem, wir schaffen das schon, nicht wahr, Len? Er nimmt Medikamente, die den Blutdruck senken, aber die kleinste Anstrengung schlaucht ihn total.«
»Du Armer«, sage ich und gebe ihm einen Kuss auf die Wange.
»Seht ihr, ich habe es noch drauf.« Er zwinkert mir zu.
»Und ob. Okay, ich habe gute Neuigkeiten, und da ihr zwei zu den Menschen zählt, die mir auf der ganzen Welt am liebsten sind, sollt ihr es als eine der Ersten erfahren. Ich bin schwanger!«
»O Grace«, flüstert Joan. »Wirklich, Liebes?«
Ich nicke.
»Heiliger Bimbam. Du wirst eine reizende Mutter sein.«
»Und ich wünsche mir sehr, dass ihr zwei meine Taufpaten werdet.«
»Oh.«
Oje. Ich glaube, Len kommen gleich die Tränen. Mist, denke ich, mir auch. Sammeln. Konzentrieren.
»Also, welches Lied wünschst du dir heute?«
»Oh. Joan und ich haben uns vorhin im Wagen darüber unterhalten. Wir haben uns neulich diese Talentshow angeschaut, ENGLAND SUCHT DEN SUPERSTAR. Hast du sie auch gesehen, Grace?«
»Nein.«
»Nun, wir finden, du solltest dich unbedingt bewerben. Mit deiner Stimme, Grace, würdest du sie alle schlagen.«
»Lustig, dass …«, beginne ich.
Ich will eigentlich gerade von meiner Teilnahme bei ESDS erzählen, aber Joan fällt mir ins Wort.
»In der Sendung ist eine junge Frau aufgetreten, ein hübsches Ding. Sie sang Amazing Grace und hat das Finale erreicht. Sie war mit Abstand die Beste in der Runde, aber Len und ich waren uns einig, dass sie nicht mit unserer Grace zu vergleichen ist. Darum wollten wir dich heute bitten, dieses Lied zu singen.«
»Amazing Grace«, krächzt Len.
O nein, bitte nicht. Ich würde Leonard und Joan alles geben, alles auf der ganzen Welt, aber nicht das. Ich kann dieses Lied nicht singen. Ich kann mir dieses Lied nicht einmal anhören.
»Tut mir schrecklich leid, aber das kann ich nicht. Ich kenne den Text nicht«, sage ich rasch. »Wie wäre es mit einem von Leonards Lieblingsliedern? Eins von Fred Astaire.« Und bevor sie die Chance haben zu widersprechen, stimme ich Cheek to cheek an.