27
»Guten Morgen, Schleimi«, beginne ich ernst. »Gracie, du Idiot, du hast Schleimi gesagt! Los, konzentrier dich. Das ist ernst. Du hast versprochen, deiner Mutter zwanzig Riesen zu besorgen. Das hier ist der Anfang.«
Ich mustere mein Spiegelbild und versuche, einen coolen, gelassenen, gefassten Gesichtsausdruck wie eine Karrierefrau, die eine krankhaft adipöse Gehaltserhöhung verdient hat, hinzubekommen.
»Ken, hast du kurz Zeit für mich?«
Ich schüttle den Kopf. Das ist falsch. Zu schwach.
»Ken, kann ich mal kurz mit dir reden?« Ich schüttle wieder den Kopf. Das klingt zu schnoddrig.
»Ken, ich muss mit dir reden.«
Dieses Mal schüttle ich vehement den Kopf. Das klingt zu gebieterisch. Ich überlege kurz.
»Ken, ich würde gern etwas mit dir besprechen.« Nun kommen wir der Sache schon näher. »Ken, ich würde gern etwas mit dir besprechen«, wiederhole ich. »Das ist es! Das ist genial!«
Allerdings werde ich durch den Anblick meiner Brüste aus dem Konzept gebracht. Ich trage meine knitterfreie pinkfarbene Bluse, in der ich eigentlich recht brav aussehe, aber seltsamerweise sprengen meine Brüste auf einmal fast die Knöpfe. Ich bekomme sicher jeden Moment meine Tage, deshalb sind sie so groß und empfindlich. Wenn ich die Bluse wie immer zuknöpfe, klafft sie zwischen den oberen beiden Knöpfen auf, sodass man deutlich ein Stück Brust sehen kann. Ich bin mir unschlüssig, ob ich alle Knöpfe zumachen und die Schultern leicht nach vorn beugen soll, um den Druck zu verringern, oder ob ich den obersten Knopf einfach offen lassen und ein bisschen Dekolleté zeigen soll. Ist ein bisschen Dekolleté eine gute Idee bei Gehaltsverhandlungen? Keine Ahnung. In dem Guardian-Artikel über Verhandlungsstrategien, den Wendy mir gemailt hat, stand nichts über Brüste.
»Ken, ich würde gern etwas mit dir besprechen. Ich habe nachgedacht …« Seht ihr, das Problem dabei ist, dass ich Ken schon seit Jahren kenne und er darauf entgegnen wird »Oje, das hat bestimmt wehgetan. Setz doch bitte Wasser auf, Grace. Ich bin mal kurz an deinem Computer, um die Fußballergebnisse zu checken.« Ich muss es zügig durchziehen. Tief durchatmen. »Ken, ich würde gern etwas mit dir besprechen. Ich weiß, dass du diesen bescheuerten Schnösel eingestellt hast.« Grace! »Ich weiß, dass du diesen blöden Lackaffen eingestellt hast.« Grace! »John Soundso Dingsbums Ich-parke-meinen-Porsche-mitten-auf-der-Hauptverkehrsstraße.« Grace, reiß dich zusammen. Sammeln und konzentrieren. »Ken! Ich weiß ja, dass du John eingestellt hast und dass er Makler des Jahres ist, was, wenn du mich fragst, eine absolute Farce für unseren Berufsstand ist.« Grace! »Ich denke, du weißt, dass ich mir Hoffnungen auf den Job als Bezirksleiter gemacht habe. Ich bringe viel in dieses Unternehmen ein, in Zeit und Geld gemessen. Kein anderer bei MAKE A MOVE macht auch nur annähernd die Hälfte von dem, was ich in einem Monat hereinhole, wie du weißt. Und als Zeichen des guten Willens, damit ich dir erhalten bleibe und nicht das Gefühl bekomme, dass meine harte Arbeit woanders mehr geschätzt wird …«
Ken wird dann definitiv sagen: »Verdammt, Grace, komm endlich auf den Punkt. Sonst macht eins meiner Kinder noch Abitur, während du redest.«
»Um auf den Punkt zu kommen, Ken, ich hätte gern eine Gehaltserhöhung.«
Ich trete zurück. Selbst ich erschrecke kurz, als ich mich das sagen höre. Ken wird wahrscheinlich vom Stuhl fallen. Aber es ist nicht schlecht. Im Großen und Ganzen ist es nicht schlecht.
Ich höre mein Handy klingeln. Es ist meine Mutter. Schade, ich hatte gehofft, es wäre Danny. Er hat sich das ganze Wochenende nicht gemeldet. Ich habe ihm jede Menge SMS geschickt, dann angerufen und ihm eine Nachricht hinterlassen. Es kam nichts zurück, was sehr untypisch für Dan ist.
»Hey, Mum«, sage ich, den Hörer in der einen Hand, während ich mit der anderen versuche, meine Brüste zusammenzuquetschen. »Ich trage heute Pink.«
»Woher wusstest du, was ich sagen wollte?«
»Einfach so. Alles klar bei dir?«
»Hm.«
»Sicher?«
»Hm.«
»Okay. Ich muss jetzt los. Hab dich lieb.«
»Hm.«
Ich lege auf. Da ist er wieder, mein Fünfjahresplan. Leer.