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John war sehr zufrieden mit sich.
Du wirst begeistert sein!, simste er mir. Gracie Flowers, ich habe die perfekte Idee für uns: ein Karaoke-Abend! Wie wäre es um halb acht im Carbuncle? Nettes Kneipenrestaurant. Kennst du es?
»Ich dachte, mit deiner Stimme und meiner Elton-John-Imitation fegen wir sie alle von der Bühne«, rief er begeistert, als wir uns dort trafen.
Ich sagte nichts. Tatsächlich war es bis jetzt nicht so fürchterlich, wie es hätte werden können. So hat schon mal niemand Amazing Grace gesungen, und ich habe Anton kaum zu sehen bekommen. Johns Elton-John-Darbietung hat noch keine Chance gehabt, was daran liegt, dass er die meiste Zeit draußen ist, um zu telefonieren. So wie es sich anhört, hat er gerade einen Riesenzoff mit seinem Vater. Durch das Fenster kann ich sehen, wie er mit den Armen fuchtelt und vor dem Pub auf und ab geht, an den Rauchern vorbei. Jetzt betritt Anton die Bühne.
»Okay, heute Abend müsst ihr mit mir allein vorliebnehmen. Ich … äh … habe immer noch keine neue Partnerin gefunden für das ESDS-Finale.« Er blickt in meine Richtung. Ich war mir nicht sicher, ob er mitbekommen hat, dass ich hier bin, weil er mir noch nicht Hallo gesagt hat. Ich mache ein bedauerndes Gesicht. Sosehr ich diesen Mann auch liebe, ich könnte trotzdem nie, niemals und unter keinen Umständen an diesem Finale teilnehmen. »Ich möchte euch daher bitten, euch weiter für mich umzuhören. Falls ihr eine Sängerin kennt, die mich begleiten könnte, erklärt ihr bitte meine Not. Die Sache ist dringend, weil das Finale bereits nächste Woche stattfindet. Ich danke euch.«
Anton wirkt trauriger als sonst. Das sehe ich an seinen großen Augen, die normalerweise funkeln. Seine Augen sind mir sofort aufgefallen, als ich diesen Pub hier das erste Mal betrat. Ich fand, es waren die freundlichsten Augen, die ich jemals gesehen hatte. Sie schienen zu sagen »Schau in meine Seele, du wirst dort keinen Hass und keine Finsternis finden.« Und eine innere Stimme sagte mir »Ja, hier gehörst du hin.« Antons Augen waren wahrscheinlich der Grund, warum ich die lauteste Wohnung im Vereinigten Königreich gekauft habe.
Heute lächeln seine Lippen, aber seine Augen nicht. Am liebsten würde ich jetzt zu ihm hochgehen und seine Hand halten oder seinen Kopf an meine Brust legen und ihm über die Haare streicheln oder ihm ein Lied vorsingen, um ihn zum Lächeln zu bringen.
»Bitte, verzeiht mir, falls ich mal danebengreife, aber ich werde den nächsten Song auf der Gitarre spielen.«
Er schnappt sich seine Akustikgitarre, streift den Gurt über den Kopf und klemmt das Plektrum zwischen die Vorderzähne, während er auf einem Barhocker Platz nimmt. Dann nimmt er das Plektrum aus dem Mund und sieht zu mir.
»Das Stück heißt Annie’s Song«, sagt er und schlägt die ersten Töne an.
Als er anfängt zu singen, sieht er mich immer noch an. Unsere Blicke sind ineinander versunken. Ich kann nicht wegschauen, selbst wenn ich wollte. Ich kann mich nicht erinnern, in meinem ganzen Leben jemals etwas derart Schönes gehört zu haben.
Plötzlich taucht Posh Boy auf und setzt sich so hin, dass er mir die Sicht versperrt.
»Süße, tut mir leid«, japst er.
Ich kann nicht glauben, dass er in diesen Song hineinquatscht. Nun legt er den Arm um mich und nimmt mich in den Schwitzkasten, bevor sein Kopf vorschnellt und er mich küsst. Es ist nur ein kurzer Kuss, aber Posh Boy behält den Arm um mich und beginnt, meinen Oberarm zu streicheln. Seine Hand streift meine Brust. Ich versuche, ihn zu ignorieren, da gleich mein Lieblingspart in dem Stück kommt, und richte meine Aufmerksamkeit wieder auf Anton, doch der hat sich mit dem Text verzettelt. Er hat ein paar Aussetzer und wiederholt dann eine Textpassage vom Anfang. Am liebsten würde ich zu ihm raufgehen und ihn begleiten, und ich denke darüber nach, ob ich das einfach machen soll. Ich könnte aufstehen und auf die Bühne gehen und den Song zu Ende singen, aber das tue ich nicht, und Anton bricht ab. Er erntet trotzdem einen Riesenapplaus. Ich ertappe Freddie dabei, dass er sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischt, während er begeistert klatscht. Posh Boy ist nicht zu Tränen gerührt, er klatscht nicht einmal.
»Das war wohl nichts«, bemerkt er und beugt sich zu mir hin für einen weiteren Kuss.
»Doch, war es wohl«, entgegne ich leise. »Es war wunderschön.«
Ich weiche dem Kuss aus und halte nach Anton Ausschau, aber er hat bereits die Bühne verlassen, und ich kann ihn nicht mehr sehen.