69
»Hey, Mildred«, sage ich, während ich auf sie trete, aber dann verharre ich plötzlich und starre auf die Grabplatte. »Bist du geschrubbt worden?«
Ich betrete Mums Haus. Ich hatte vierundzwanzig Stunden für mich allein, aber ich fühle mich so leer, dass ich denke, es wäre vielleicht besser, Gesellschaft zu haben. Wendy hat sich angeboten, aber tatsächlich ist es mir lieber, hier bei meiner Mutter zu sein. Ich hoffe, es stört sie nicht.
»Mum! Mum!«, rufe ich und bleibe gleich darauf wieder stehen. »Nein! Was hast du denn mit den ganzen Sachen gemacht, die in der Diele standen?«
»Oh, hallo«, sagt meine Mutter, die jetzt aus der Küche kommt und die Tür hinter sich zuzieht.
»Was zum …?« Ich bin sprachlos. Ich breite die Arme aus und drehe mich langsam im Kreis. »Wo ist das ganze Zeug hin?«
»Ich habe ein bisschen aufgeräumt.«
»Ein bisschen! Das wäre selbst für eine Abbruchfirma ein Großauftrag gewesen.«
»Wie fühlst du dich, Schatz?« Sie kommt zu mir und streichelt meinen Arm.
»Traurig.«
Sie nickt, als wüsste sie Bescheid.
»Trinken wir einen Gin?«, frage ich, während ich vorausgehe zur Küche. »Ah!«, schreie ich laut, als ich die Tür öffne.
Der Fiesling von SJS Bau sitzt am Küchentisch. Er trägt ein gestärktes Hemd. Ich kneife die Augen zusammen angesichts der Szenerie. Ein Teller Gebäck steht auf dem Tisch. Es handelt sich um richtiges Gebäck vom Feinsten, dicke Kekse, die aussehen, als hätte jeder Einzelne davon deutlich über hundert Kalorien. Die einzigen Kekse, die ich in diesem Haus jemals gesehen habe, waren Vollkornkekse, die allenfalls zwanzig Kalorien pro Stück haben. Ich kann das gar nicht verarbeiten. Neben dem Teller mit Gebäck steht eine Teekanne. Ich wusste nicht einmal, dass wir so etwas besitzen. All das lässt vermuten, dass es sich hier um eine arrangierte Teestunde handelt.
Der Fiesling steht auf.
»Grace, freut mich.« Er streckt mir eine große, derbe Hand entgegen. »Ich bin John. Ich glaube, ich habe mich Ihnen noch gar nicht richtig vorgestellt.« Ich muss an Len denken, der im Krankenhaus liegt, und an Dads Grab und verweigere ihm kopfschüttelnd den Handschlag. Dann verlasse ich die Küche und gehe nach oben. Ich möchte mein altes Tagebuch haben. Ich möchte von einer Zeit lesen, in der ich glücklich war, weil ich das jetzt definitiv nicht bin. Ich hole es aus meinem Nachttisch und gehe damit nach unten. Auf dem Weg zur Haustür komme ich an der Küche vorbei, wo ich den Mann von SJS Bau gerade sagen höre: »Er hatte einen italienischen Akzent, sagen Sie? Wir haben also einen italienischen Schönredner mit teuren Schuhen und zwei Schlägertypen, aber mehr nicht.«
Ich bleibe einen Moment in der Diele stehen und überlege, ob ich gehen soll oder nicht. Ich beschließe, kurz den Kopf durch die Tür zu stecken und zu fragen, worüber sie sich gerade unterhalten.
»Entschuldigen Sie, Grace«, sagt der SJS-Mann und steht wieder auf, als er mich sieht. »Ich wollte nur mehr über diesen Kredithai herausfinden, mit dem Ihre Mutter Geschäfte gemacht hat.«
»Ich habe John gerade erzählt, dass der Mann ein wenig Ähnlichkeit hatte mit diesem einen Sänger aus dem Fernsehen.« Sie schnalzt mit der Zunge. »Wie heißt er noch gleich?« Jetzt kichert sie wie ein Mädchen. Sie steht offenbar auf den SJS-Mann. Dessen bin ich mir sicher. »Du weißt schon«, plappert sie und wird dabei rot. Seht ihr! Sie ist völlig daneben in seiner Gegenwart. »Ich meine den einen, mit dem Katie Price was hatte in diesem Dschungelcamp. Er sieht genau so aus.«
Ich spüre, dass meine Augen immer größer werden, während ich Mums Worte sinken lasse.
»Ein Italiener, der aussieht wie Peter Andre?«
»Peter Andre! Danke, Grace.«
Meine Mutter kichert wieder in Richtung des fiesen John. Aber der sieht mich an. Er hat meinen Gesichtsausdruck bemerkt.
»Denken Sie, dieser Mann ist Ihnen schon einmal begegnet?«, fragt er mich.
Ich stehe unbeweglich im Türrahmen und lege die Hände vor mein Gesicht.
»Wie heißt der Mann?«, keuche ich durch meine Hände.
»Laurence«, antwortet meine Mutter.
»Oh«, sage ich.
Einen Moment lang dachte ich, es wäre Ricardo, mein italienischer Klient. Ich dachte schon, ich hätte den Betrüger direkt bis vor die Tür meiner Mutter geführt. Wenigstens eine Katastrophe, für die ich nicht persönlich verantwortlich bin.
»Er heißt Laurence Olivier. Seine Mutter ist Engländerin, und offenbar hatte sie eine Schwäche für den Schauspieler.«
»Sag das noch mal.«
»Seine Mutter ist ein großer Fan von Laurence Olivier, darum hat sie ihren Sohn nach dem Schauspieler benannt. Kennst du Olivier? Aus alten Filmen?«
»Oh, Mum.«
»Grace, was hast du?«
»Laurence ist mein Kunde. Mir hat er erzählt, er heiße Ricardo beziehungsweise Richard, weil seine Mutter Richard Burton so verehrt. Er war sehr charmant. O Gott, es tut mir so leid.«
»Ich verstehe nicht. Hast du ihm gesagt, er soll mir ein Darlehen anbieten?«
»Nein, aber ich … Gott, ich habe ihm von deinen Geldsorgen erzählt.«
»Grace! Warum um alles in der Welt …?«
»Gott. Es tut mir so schrecklich leid! John, als Sie damals in der Sache mit dem Friedhof bei meiner Mutter waren, war sie hinterher ziemlich konfus und hat mich angerufen. Richard oder Olivier oder wie auch immer er heißen mag, war damals bei mir. Ich war mit ihm unterwegs, um für seine Mutter und seine ›Swester‹ ein verdammtes Haus zu finden. Jedenfalls habe ich auf dem Weg zu unserer Besichtigung kurz hier vorbeigeschaut. Ich habe Richard im Wagen zurückgelassen, während ich ins Haus gelaufen bin, um nach Mum zu sehen. Als ich wieder in den Wagen stieg, war ich ziemlich durcheinander und habe mit ihm darüber geredet. Er hat mich gefragt, wie viel das Haus wert ist und so Sachen. O Gott!«
»Grace, es ist nicht deine Schuld. Ich habe den Kredit aufgenommen, weil ich nicht fähig war, die zehn Minuten zur Bank zu gehen. Das war der Grund.«
»Rosemary, machen Sie sich keine Vorwürfe. Sie haben dieses Haus ganz allein gehalten«, sagt er und berührt sie an der Schulter.
Sie lächelt, und ich muss plötzlich an den gemähten Rasen und an Mums sexy Aufmachung denken, während ich mich ernsthaft frage, ob zwischen den beiden was läuft.
»Gott, er hat mich abends zum Essen eingeladen. Ich habe ihm viel mehr erzählt, als ich das normalerweise mache, und alles nur, weil er aus Rom ist.«
»Wo waren Sie essen?«
»Im Paradise.«
»Hat er bezahlt? Das ist vielleicht weit hergeholt, aber hat er zufällig mit seiner Kreditkarte bezahlt?«
»Äh … ich weiß nicht mehr. Doch. JA! Er hat mit seiner Karte bezahlt, und es schien ihm überhaupt nicht recht zu sein.«
»Gut, Grace, vielleicht können Sie mich ins Paradise begleiten. Die müssten den Kreditkartenbeleg noch haben. Hat er Ihnen vielleicht seine Telefonnummer gegeben?«
»Seltsamerweise nicht, und seit diesem Essen ist er komplett untergetaucht. Ich habe mich schon selbst deswegen verflucht.«
»Tun Sie das nicht, Grace, diese Leute sind Profis. Okay, fahren wir ins Paradise … Ach, du liebe Zeit«, sagt er. »So habe ich das natürlich nicht gemeint.«
Meine Mutter hält das natürlich für das Lustigste, was sie jemals gehört hat.
»Bis morgen«, sagt John und verneigt sich vor meiner Mutter, ergreift ihre Hand und drückt seine Lippen darauf.
Meine Mutter kichert wieder und ein wenig zu lange, dann spielt sie verlegen mit ihren Haaren.