Kapitel siebenunddreißig

Nachdem Anna Chas die Geschichte mit Mike Tetherton erzählt hatte, flehte sie ihn an, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Es gebe keine Beweise, und Krissie habe genug durchgemacht. Sie sei glücklich, sie erinnere sich an nichts, und so sei es das Beste, wenn man nicht daran rühren würde. Anna hatte die Angelegenheit wieder und wieder durchdacht, und sie hatte einen Großteil ihres Lebens damit verbracht, ihren Mann davon abzuhalten, das Dreckschwein umzubringen.

Chas hatte zu schweigen versprochen. Er hatte versprochen, Krissie Zeit zu geben, und so hatte er Schottland verlassen, ehe er seine Meinung ändern konnte.

Als Chas sechs Jahre später zurückkehrte, verbrachte er zwei Wochen damit, seine Wohnung und sein Atelier einzurichten, ehe er zu Krissie ging. Er wollte sie beeindrucken, wollte sie mit seinen Bildern umhauen, mit seiner neuen Frisur und mit seinen Anekdoten.

Chas wusste jetzt, dass er begehrenswert war. In den letzten drei Jahre waren ständig Frauen hinter ihm her gewesen. An welchen Ort er auch ging, immer war da eine Frau, die ihn begehrte. Er hatte nur selten widerstanden, denn er mochte Sex mehr als beinahe alles andere, aber er hatte sich nie länger als ein oder zwei Wochen auf etwas eingelassen. Er sei verliebt, hatte er ihnen erzählt, einer nach der anderen, und die Freude in ihren Gesichtern war einem Ausdruck der Enttäuschung gewichen, als er ihnen gestand, das er nicht in sie verliebt sei, sondern in eine tolle Frau namens Krissie, daheim in Glasgow.

Nachdem er seine neue Wohnung geputzt, seine neue Bettwäsche gebügelt und das Porträt von Krissie aufgehängt hatte, über das er weinen musste, als er es in Pokhara gemalt hatte, stand Chas in seinen besten schick-legeren Klamotten (Firetrap-Jeans und graugrünes Billabong-T-Shirt) vor Krissies Wohnung. Er hatte Blumen und Pralinen dabei, und er hatte eine Ansprache vorbereitet.

»Krissie Donald, ich liebe dich, seit du in Goa mit den Händen gegessen hast. Du bist wundervoll und schlau und lustig und schön und bezaubernd, und ich möchte den Rest des Tages mit dir verbringen.«

Er hoffte, sie würde daraufhin »Tages?« fragen.

Und dann würde er sagen: »Na gut, dann Lebens. Ich möchte den Rest meines Lebens mit dir verbringen.«

Er klingelte noch einmal und überarbeitete seine Ansprache. Zu viele Adjektive. Er strich »wundervoll« und tauschte »schlau« gegen »intelligent« sowie »schön« gegen »hinreißend«; dann nahm er »wundervoll« wieder hinzu und strich »hinreißend«. Er begann außerdem, den grauen Teil seines graugrünen T-Shirts nasszuschwitzen, und er fragte sich, ob er seine Unterarme mit dem Seidenpapier abwischen solle, in das die Lilien eingepackt waren.

Er riss gerade ein Stück Seidenpapier ab, als die Tür endlich geöffnet wurde.

Er nahm einen tiefen Atemzug.

Aber es war nicht Krissie. Es war ein riesiger, haariger, halbnackter, braunäugiger Adonis.

»Scheiße.«

Ja, er hatte das laut gesagt.

»Danke, gleichfalls«, sagte Adonis.

»Entschuldigung.«

»Sind die für mich?« Verdammt, Adonis war nicht nur ein griechischer Gott, sondern auch noch ein Witzbold.

»Nein.«

In der nun eintretenden Pause beobachtete der Typ, wie die Tränen sich hinter Chas’ traurigen Augen sammelten.

»Du willst zu Krissie.«

»Wollte ich.«

»Hör zu«, flüsterte Adonis. »Reg dich nicht auf. Es ist nichts Ernstes. Ich bin verheiratet. Wenn du sie willst, kannst du sie haben, aber warte ein Weilchen, bis ich es ihr gesagt habe.«

Ehe sich Chas die Hand an dem backsteinharten Brustkorb von Adonis brechen konnte, tauchte Krissie hinter ihm auf.

»Chas!« Sie packte und umarmte ihn. Dann sah sie die Blumen und Pralinen.

»Die sind für dich – ein Willkommensgruß«, sagte er.

»Danke!«, sagte sie und nahm sie, ohne auch nur einen Augenblick zu ahnen, dass sie eigentlich den Beginn echten Glücks ankündigen sollten.

»Komm rein! Wie ist es dir ergangen? Erzähl mir alles! Warum hast du nicht geschrieben?«

Chas bestand darauf, nicht hereinzukommen, und sie sprachen verlegen in der Tür, während Adonis seinen fantastischen Hintern ins Badezimmer schwenkte.

»Er ist die Liebe meines Lebens«, sagte Krissie. »So etwas habe ich noch nie zuvor empfunden. Hast du diesen Hintern gesehen?«

»Ich muss gehen«, sagte Chas.

»He, du Muffkopp«, protestierte Krissie, als er ging. »Komm zurück und trink einen Kaffee. Chas! Los, komm her.«

»Ein anderes Mal.«

Chas wäre nicht ins Gefängnis gekommen, wenn er an jenem Abend nicht auf seinen Neffen aufgepasst hätte. Der kleine Joey konnte nicht einschlafen, und so lagen sie zusammen auf dem Sofa und sahen sich Unmengen dröhnend langweiliger Kindersendungen an. Eine der Sendungen hieß »Der Bücherwurm«, und darin kamen eine reisende Bibliothek, ein großer sprechender/fahrender Wurm und Dutzende singender Kinder an verschiedenen Schauplätzen des Vereinigten Königreichs vor. Chas und sein Neffe schliefen fast schon, als der Abspann lief und der Name des Produzenten – Mike Tetherton – den Bildschirm füllte.

Chas rief Anna an, und sie riefen die Polizei an und warteten tagelang, bis sie erfuhren, dass man nichts unternehmen konnte. Mr. Tetherton arbeite nicht mehr mit Kindern, da die Sendung nicht verlängert worden war, und er sei kein registrierter Sexualstraftäter.

Am folgenden Abend war Chas damit beschäftigt, »Der Bücherwurm« wütend vor- und zurückzuspulen und die Gesichter der kleinen Mädchen in der Sendung anzusehen (glücklich? verängstigt? verletzt?), als Krissie heulend an seine Tür klopfte.

»Er ist verheiratet«, sagte sie.

Sie tranken gemeinsam zwei Flaschen Wein. Schließlich saßen sie auf dem Sofa, und Chas hatte seinen Arm um sie gelegt. Es fühlte sich sehr, sehr angenehm an. Da war er, der Augenblick, auf den er gewartet hatte, der Augenblick, da Krissie zulassen würde, von jemandem geliebt zu werden, der sie wirklich mochte.

»Krissie?«

»Ja?«

Eine Pause.

»Krissie Donald …«

Krissie warf Chas einen fragenden Blick zu, während sie darauf wartete, dass er ein weiteres Wort herausbekäme. Dann klingelte ihr Handy. Sie hörte zu, legte auf, und dann klingelte es erneut, und sie hörte zu und legte nicht auf, und ihr Arm zog sich von Chas’ Arm zurück, und sie wurde ganz schmachtend und weich, und dann zog sie kichernd ihren Mantel an, und während sie immer noch telefonierte, formte sie mit dem Mund die Worte: »Muss gehen.«

Nachdem er die zweite Flasche Wodka niedergemacht hatte, setzte sich Chas in den Zug nach London. Er wusste nicht recht, was er tun würde. Ihn anbrüllen? Ihn zur Vernunft bringen? Ihn auf frischer Tat ertappen?

Am nächsten Tag rief er bei der BBC an und sagte, er sei der Vater eines Mädchens in »Der Bücherwurm« und hoffe auf weitere Arbeit. Die Empfangssekretärin sagte, sie werde die Bitte weiterleiten.

Mike rief die Handynummer an, sobald er die Nachricht erhalten hatte, und erklärte sich bereit, Vater und Tochter in seiner Wohnung zu treffen, um die Angelegenheit mit ihnen zu besprechen. Als Chas in der Wohnung ankam, war er verkatert und erschöpft. Mike öffnete lächelnd die Tür.

»Mr. Worthington?«

»Ja, hallo«, sagte Chas. Dann erklärte er nervös, dass seine Tochter in der Schule sei, aber liebend gern wieder einmal schauspielern würde.

Chas setzte sich hin, während Mike einen Kaffee machte und sagte, er würde sie noch einmal sehen und vorspielen lassen müssen. Chas ließ seinen Blick prüfend durch die Wohnung schweifen – die modische, ordentliche Schlafzimmertür war verschlossen.

»Leben Sie allein?«, fragte Chas.

»Hab vor Kurzem den Laufpass bekommen! Beschreiben Sie mir doch Ihre Tochter noch einmal, ich kann mich nicht an sie erinnern.«

»In Ordnung, lassen Sie mich nachdenken. Sie hat … braunes Haar, sie ist witzig, und sie hat ein wunderschönes Lächeln. Sie sieht hübsch aus und hat einen tollen schottischen Akzent.«

»Aus Schottland?«

»Glasgow. Southside.«

»Wirklich?«

»Ja.«

Mike kam mit dem Kaffee herein und setzte sich.

»Erzählen Sie mir mehr.«

»Lassen Sie mich nachdenken, sie ist schlau und sie ist … verängstigt, lässt nicht zu, dass jemand sie liebt. Sie heißt Krissie Donald, und sie ist die beste Freundin Ihrer früheren Stieftochter Sarah. Erinnern Sie sich jetzt?«

Die samtweiche Raspelstimme verwandelte sich in reinen Granit. »Wer sind Sie?«

Chas stand auf und ging auf das Schlafzimmer zu. Er hatte über Pädophile gelesen und wusste, wonach man in ihren Häusern Ausschau halten musste – Kinderfallen wie Spielzeug und Süßigkeiten, wohlüberlegte praktische Einrichtungen wie Türen, die normalerweise kein Schloss benötigen.

»Warum haben Sie ein Schloss an Ihrer Schlafzimmertür?«

»Gehen Sie weg oder ich rufe die Polizei.«

Chas ging in das Schlafzimmer.

»In Ordnung, rufen Sie sie an, und sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie fertig sind.«

Chas hob einen der vielen Teddybären auf dem Bett hoch. »Warum haben Sie all diese Teddybären? Dieses Bett?«

Mike war dunkelrot angelaufen. »Was wollen Sie?«

»Am liebsten würde ich Sie umbringen, aber damit würde ich mein Leben ruinieren, und darauf habe ich keine Lust. Deshalb begnüge ich mich mit einem umfassenden Geständnis.«

Chas drückte die Aufnahmetaste des Diktaphons, das er am selben Tag in Kensington erworben hatte.

Mike verließ das Schlafzimmer, griff nach seinen Schlüsseln und ging aus der Wohnung.

Chas folgte ihm durch die Haustür auf die Straße.

»Er ist ein Pädophiler!«

Chas blieb immer einen Schritt hinter ihm. Leute drehten sich um und schauten ihnen hinterher, und eine Frau, die gerade ihren stets hilfsbereiten Nachbarn angelächelt hatte, wirkte verwirrt und aufgebracht, als Chas sie anschrie: »Er ist ein Monster.«

Mike beschleunigte seine Schritte und rannte fast, als sie den Parkplatz von Tesco erreicht hatten. Er war voll mit Leuten, die einkaufen gingen.

»Geben Sie zu, was Sie getan haben, hier, vor all diesen Menschen. Sagen Sie es!«

Manche Leute blieben wie angewurzelt stehen, als Mike nicht mehr weiterging, sich umdrehte und Chas in die Augen sah. Er stand einen Augenblick still und sah aus, als wäre er bereit, zu sprechen, während das Diktaphon leise pfeifend weiterlief. Dann flüsterte er: »So hieß sie also.«

Mike packte einen Einkaufswagen und stieß damit nach Chas, um ihn von einer Reaktion abzuhalten. Triumphierend stand er da, während die Menge sich zerstreute, dann ging er fort und verschwand in einer U-Bahn-Station.

Chas packte den Einkaufswagen, um ihn aus dem Weg zu schieben. Der Einkaufswagen war kaputt, und eine Metallstange löste sich in seiner Hand. Er betrachtete die gezackte Stange, hielt sie fest umklammert und rannte die Stufen zur U-Bahn hinab, um eine Straftat zu begehen, die ihn die nächsten vier Jahre seines Lebens kosten sollte.

Wenn Chas’ Lösung nur funktioniert hätte. Den Dreckskerl umzubringen.

Aber leider funktionierte sie nicht.

Stattdessen machte sie aus einem wütenden Kinderschänder einen noch wütenderen Kinderschänder.

Im Old Bailey sagte Chas kein Wort. Er wusste, dass Krissie noch nicht so weit war, mit der Sache umzugehen, und so kam es, dass mit Ausnahme von Krissies Eltern jeder annahm, Mike Tetherton sei das bedauerliche Opfer eines kiffenden Aussteigers geworden.

Mike zog nach Norden und verschwand eine Zeit lang in einem Meer aus Sprungseilen.