Here I go again on my own,
Goin’ down the only road I’ve ever known,
Like a drifter I was born to walk alone …
Mein iPod war voll aufgedreht, und Glasgow schwirrte am Fenster vorbei. Ich hatte mich mit Sarah und Kyle am Bahnhof Milgavnie verabredet, dreißig Minuten Zugfahrt von zuhause entfernt. Ich hatte es vermisst, allein zu verreisen. Niemand in diesem Zug wusste, wer ich war; niemand wusste, dass meine Vagina vor Kurzem genäht worden war und dass ich ein neun Monate altes Baby hatte. Ich war einfach eine junge Frau mit ihrem iPod in einem Zug. Die Dinge sahen allmählich gar nicht mehr so schlecht aus. Es würde mir gut gehen. Die Sonne schien, und selbst die Vororte von Glasgow mit ihren grauen, kiesdurchsprenkelten Bungalows wirkten hübsch.
Von der Musik bekam ich nach einigen Minuten Kopfschmerzen. Plötzlich fürchtete ich, dass Sarah und Kyle nicht kommen würden. Ich hatte Sarahs Missbilligung gespürt, als sie Zeugin des katastrophal verlaufenen Experiments mit dem kontrollierten Weinen geworden war. Vermutlich hielt sie mich für eine schlechte, undankbare Mutter. Sie hatte sich geweigert, zu gehen, ehe ich geduscht und einen Kaffee getrunken hatte. Zwei Stunden lang hatte sie gewartet, bis ich wieder nüchtern war. Ich hatte viel geweint und mich entschuldigt, deshalb hatte ich angenommen, dass wir im Guten auseinandergegangen seien, aber vielleicht hasste sie mich.
Bestimmt würden sie kommen. Sie mussten kommen.
Zu meiner großen Erleichterung warteten Sarah und Kyle am Bahnsteig auf mich. Sie liefen auf mich zu und lächelten. Wir hakten uns unter wie Schüler, hüpften ein paar Mal auf und ab und tanzten im Kreis. Dann bequatschten wir einen Typen mit langem, verfilztem Haar, uns vor dem Schild zu fotografieren, das den Beginn des West Highland Way markierte. Ich hatte Kyle seit Jahren nicht mehr kichern gehört. Was für ein Unterschied! Das wird ein ganz unglaublicher Urlaub werden, sagte ich mir im Stillen.
Und am Ende stimmte das ja auch.
Wir gingen durch den grünen Vorort, der an die Innenstadt grenzte, und hüpften mit den Eichhörnchen durch den großen, ländlichen Park. Mehrere Stunden lang folgten wir den Windungen des sattgrünen, flachen Ackerlandes. Dann rasteten wir an einem Bach, aßen frischen Bananenkuchen und tranken heiße Schokolade, die Sarah am Morgen in einer todschicken, superpraktischen Thermoskanne zubereitet hatte. Wir saßen neben einer Whiskybrennerei, und auf den angrenzenden Weiden standen Hochlandrinder. Wir fühlten uns wie in einer schottischen Tourismusanzeige.
Während unseres Mittagsmahls erzählten wir uns Geschichten über Leute, mit denen Kyle und ich zur Uni gegangen waren.
»Chas war unheimlich verliebt in dich«, sagte Kyle.
»Ach, Quatsch«, antwortete ich.
»Du wusstest es. Er ist dir hinterhergelaufen wie ein Hündchen!«
»Du erzählst Mist, McGibbon.«
Nachdem Chas das Medizinstudium geschmissen und angefangen hatte, zu arbeiten und Drogen zu nehmen, wohnten wir zwar immer noch zusammen und hatten jede Menge Spaß miteinander. Aber Arbeit und Universität waren für uns damals zwei verschiedene Universen. Einige Zeit darauf verschwand er plötzlich von der Bildfläche, ohne auch nur Auf Wiedersehen zu sagen. Als er wieder auftauchte, benahm er sich mir gegenüber komisch und landete beinahe sofort im Gefängnis von Sandhill.
Es war Kyle, der mir die Nachricht überbrachte.
»Du ahnst nicht, wer im Old Bailey acht Jahre bekommen hat!«, sagte er eines Abends am Telefon zu mir.
Normalerweise habe ich für Zeitverschwendung nichts übrig. Ich lese zum Beispiel keine Scherz-E-Mails und versuche auch nicht, Rätselfragen zu lösen. Aber Kyle blieb hartnäckig. »Na los, nun rate schon, da kommst du nie drauf …«
»Ewan McGregor.«
»Nein.«
»Deine Mutter.«
»Nö.«
»Dein Vater.«
»Mein Vater ist tot.«
»Oh, Scheiße, tut mir leid.« Ich erinnerte mich: »Er ist nicht tot!«
»Es ist Chas, du Schwachkopf. Chas!«, sagte Kyle.
Ich war platt. Chas war so sanftmütig, dass er mit Ameisen Freundschaft schloss, und er hatte meines Wissens höchstens mal ein Bonbon aus dem Geschäft an der Ecke geklaut.
»Warum? Was hat er getan?«
Kyle wusste nicht viel. Er hatte gehört, dass es versuchter Mord gewesen sei, dass der Vorfall in einer U-Bahn-Station stattgefunden habe und dass ein Einkaufswagen dabei zum Einsatz gekommen sei. Chas sei verrückt geworden, wahrscheinlich wegen all der Drogen. Gerüchten zufolge hatte er drohend den Einkaufswagen hin und her geschleudert und verkündet, die Wahrheit über irgendwas zu wissen.
Kyle und ich hatten den Verdacht, dass er durchaus die Wahrheit über irgendwas gewusst haben könnte, denn Chas hatte grundsätzlich mit allem recht. Was wir nicht begriffen, war, wie er an der Station Angel einen Einkaufswagen erst durch das Drehkreuz und dann zwei Rolltreppen hinunter bekommen hatte, und was er dort damit wollte. Hatte er Fahrgäste gerammt? Sie seinen Einkäufen hinzugefügt?
Nachdem Chas von London nach Glasgow verlegt worden war, hatte ich ihn dreimal besucht. Das war nicht leicht gewesen, weil ich nicht einfach so im Gefängnis auftauchen konnte. Chas musste seine Besuchstermine selbst beantragen. Dann musste er seine Besucher anrufen und ihnen Bescheid geben, wann sie kommen konnten. Aber er rief mich nicht an, und er schrieb mir auch nicht. Ich schickte ihm mehrere unbeholfene Briefe, in denen ich versuchte, nicht allzu heiter zu klingen. Ich wollte ihn nicht an das erinnern, was er verloren hatte, und ihn damit geradewegs vom Treppenabsatz im dritten Stock von Halle B stoßen. Aber ich wollte auch nicht zu ruppig klingen, ihn an die Sinnlosigkeit des Lebens erinnern und ihn damit geradewegs vom Treppenabsatz im dritten Stock von Halle B stoßen.
Hallo, Chas.
Ich sitze gerade in der Uni-Cafeteria, draußen pisst es, und selbst meine Fritten mit Currysauce schmecken irgendwie fad. Ich vermisse Dich! Ich verstehe nicht, warum Du mir nicht zurückschreibst, also tu’s bitte, und bitte beantrage einen Besuch für mich. Ich möchte Dich fragen, was passiert ist und Dir erzählen, wie’s bei mir so läuft.
Bitte ruf mich an. Ich bin abends meistens zuhause (mein Leben ist zurzeit sehr langweilig). Ich kann Dich jederzeit besuchen kommen, weil ich jetzt meinen gesamten Arbeitstag im Auto verbringe und nur manchmal anhalte, um Kinder zu stehlen. Für eine Stunde oder so kann ich mich leicht ausklinken.
Ich habe 10 £ für eine Telefonkarte beigelegt. Bitte ruf an!
Gib auf Dich acht, Chas.
Krissie
Nachdem ich einige Wochen lang ähnliche Briefe verschickt hatte, ging ich zu Plan B über. Das war ein teuflisch gerissener Plan, bei dem es unter anderem darum ging, das Sicherheitssystem des Gefängnisses auszuhebeln und den Bereich für offizielle Besucher zu infiltrieren. Prosaischer ausgedrückt: Ich wollte den Gefängnisbeamten sagen, das Chas’ Sozialarbeiterin gekommen sei, um ihn zu besuchen.
Ich schwitzte wie ein Schwein, als ich an der Reihe war und mein Ausweis, meine Tasche und mein Daumenabdruck überprüft wurden. Dann ließ man mich hinein. Klar, die Wachen machten mir Angst, aber nicht so sehr wie die Mutanten im Wartebereich. Ein schneller Rundblick zeigte mir, dass das Örtchen Sandhill die Heimat einer ganz speziellen Menschensorte sein musste und dass das Gefängnis einfach eine Erweiterung ihres Reviers darstellte. Sie schienen alle dieselben Erwartungen zu hegen: Ihre Söhne würden irgendwann hier enden, und die Wachen würden mit ihnen reden, als wären sie ein Stück Scheiße. Schlechte Zahnhygiene und ein unnachahmlicher Soziolekt, mit dem Fremde in Furcht versetzt werden sollten, gehörten ebenfalls zu den charakteristischen Merkmalen.
Schließlich wurden die Einheimischen in den Besucherbereich geführt, und ich wurde in den Bereich für offizielle Besucher geführt.
»Charles Worthington, Gefängnisnr. 15986, Halle B, 3/36«, schrieb ich auf mein Antragsformular, denn gerissen wie ich war, hatte ich den Sicherheitsdienst ausgetrickst und Zugriff auf die Gefängnisdatenbank erlangt (ich hatte in der Verwaltung angerufen, und sie hatten mir die Daten genannt). Dann nahm ich meinen Platz in Raum 7 ein, einem Glaskasten mit einem Tisch und zwei Stühlen.
Ich wartete eine Ewigkeit unter den Eckkameras im Befragungsraum, voller Sorge, dass man mir auf die Schliche käme. Ich war keine Sozialarbeiterin im Justizvollzug. Ich war beim Kinderschutz und hatte hier nichts zu suchen. Ich war ein Eindringling, und man würde mich ganz bestimmt erwischen. Dann würde man mich in der alten Hinrichtungszelle in Halle D hängen und in einem namenlosen Grab draußen hinter dem Gebäude bei den anderen verscharren.
Jedes Mal, wenn jemand in einem roten oder grünen Polohemd von seinen Handschellen befreit wurde, fragte ich mich, ob es Chas sein könne. Ich hoffte bei Gott, dass er nicht in einem grünen Polohemd aufkreuzen würde, denn diese Hemden, das wusste ich, trugen nur die Monster in Halle D.
Chas trug Rot, und obwohl er dünn und abgespannt aussah, brachte er es immer noch fertig, seine Kleidung mit einer gewissen Grandezza zu tragen. Vielleicht ein größeres rotes Polohemd als die anderen Typen, das von seiner muskulösen Brust weich nach unten fiel. Und obwohl seine Jeans von unmodisch gleichmäßiger Farbe waren, wirkten sie nicht so gerade geschnitten wie bei den anderen. Als er sah, dass ich es war, wollte er sich umdrehen und gehen, aber der uniformierte Rohling am Ende des Ganges stieß ihn in meine Richtung. Widerstrebend kam er näher und setzte sich. Sein Blick wanderte zu Boden und blieb dort haften.
Ich raschelte mit meinen Papieren und fing mit der Scheinbefragung an.
»Guten Tag, Chas, ich heiße Krissie Donald. Ich bin Sozialarbeiterin im Strafvollzug und wurde damit beauftragt, den Bericht über Ihren familiären Hintergrund zu vervollständigen. Zweck des Berichtes ist es, dem Bewährungsausschuss möglichst viele Informationen über Sie zukommen zu lassen, auf deren Grundlage dann über eine vorzeitige Entlassung entschieden wird. Aber der Reihe nach. Ich möchte gern überprüfen, ob meine Angaben stimmen. Sie haben acht Jahre bekommen. Wenn Sie ein braver Junge sind, kommen Sie in vier Jahren raus. Ihre Straftat ist …?«
Chas antwortete nicht.
»Ihnen ist doch klar, dass es nicht gut aussieht, wenn Sie bei dieser Sache nicht mit uns kooperieren und der Ausschuss eine Entscheidung treffen muss …?«
Keine Antwort für mehrere Sekunden. Mein Herz schlug so schnell und meine Handflächen waren so verschwitzt, dass ich wusste, es wäre nur eine Frage der Zeit, ehe sie zur Tür hereinplatzten und brüllten: »Los, an die Wand stellen, du, und du auch. Gebt keinen Ton von euch, ihr hirnverbrannten Idioten!«
Aber niemand kam. Stattdessen beugte sich Chas über den Tisch und sagte: »Sie können dich nicht hören, sie können dich nur sehen, und auch das nur, wenn sie gucken, was sie normalerweise nicht tun.«
»Herrje, warum hast du mir das nicht gleich gesagt?« Ich holte zum ersten Mal seit mehreren Minuten Luft.
Wir lächelten uns an, doch dann schrumpfte unser Lächeln zu etwas weniger Heiterem.
»Wie geht’s dir, Chas?«
»Prima.«
Eine Pause.
»Was tust du hier?«
»Tja, ich habe jeden Vormittag Sportunterricht, und an drei Nachmittagen in der Woche mache ich Aggressionstraining, und an den Abenden schaue ich mir auf dem Spielfilmkanal Filme an, zusammen mit meinem Zellenkumpel Rab, der manchmal miaut und manchmal nicht.«
Und mit diesen Worten stand er auf und verließ den Raum. Mir war klar, dass ich ihm nicht einfach hinterherschreien konnte, wie ich es in der normalen Welt getan hätte. Wenn ich es täte, würden Alarmglocken schrillen. Die Schlüssel von hundert Wachbeamten würden klirren, und Chas würde sich unter einem großen Haufen blauer Polyesteruniformen wiederfinden. Also kratzte ich einfach meine Papiere zusammen, meine Würde und mein Täuschungsvermögen und ging auf demselben Weg, den ich gekommen war.
Ich habe noch zwei Mal versucht, diese Nummer durchzuziehen, aber er lehnte es ab, mich zu sehen.
Ich rief bei seinen Eltern an. Sie lebten in Morningside in Edinburgh und waren ausgesprochen freundlich. »Wir wissen nur, dass er in einen Kampf verwickelt worden ist, Liebes. Es bricht uns das Herz, dass er uns nicht sehen will, unser lieber Junge. Sie haben ihn gesehen? Er sah gut aus? Ach, Gottseidank, diese Qualen. Unser kleiner Chas.«
Meine Mutter – die immer eine Schwäche für Chas gehabt hatte – sagte, dass er vielleicht seine Gründe habe, dass er ein guter Freund und ein guter Mensch sei und vielleicht nur etwas Zeit brauche. Und Zeit hatte er genug.
***
Als Sarah, Kyle und ich unsere Lunchpakete wegpackten, sprachen wir über Kyles Unikumpel, die jetzt steinreiche Schönheitschirurgen oder preisgekrönte Weltenretter waren. Es kam mir so vor, als würde ich mich zum ersten Mal seit Jahren mit Kyle unterhalten – er wurde offenbar ebenso von Selbsthass und Enttäuschung heimgesucht wie wir alle, die arme Seele. Neben seinen Ärztefreunden hatte er schon immer etwas deplatziert gewirkt, fand ich. Die waren von Geburt an Ärzte. Die hatten Pläne. Die wollten Patientenleben retten und in Villen wohnen und leichtfertigen Menschen vernichtende Blicke zuwerfen. Ich war schon immer der Meinung gewesen, dass Kyle einer der Leichtfertigen sein sollte, so wie ich. Er arbeitete hart, aber wenn er frei hatte, feierte er noch härter, als ob er die verlorene Zeit wieder aufholen wollte. Im Sommer rauchte er Dope mit Chas, sah sich im Fernsehen den letzten Scheiß an und las die Reiseführer von »Lonely Planet« so oft durch, als ob er durch Osmose zum Rucksackreisenden werden könne. Meiner Meinung nach zog ihn die Medizin runter und gab ihm ein schlechtes Gefühl, das er nie hätte haben sollen.
Da mir bewusst war, dass Sarah sich ausgeschlossen fühlen könnte, begann ich mit ihr über alte Freunde zu plaudern. In diesem Moment ging der Typ mit dem verfilzten Haar vorbei, der am Bahnhof das Foto von uns gemacht hatte. Wir luden ihn ein, sich uns anzuschließen, aber er sagte, das gehe nicht, da er noch auf einen Berg kraxeln wolle. Er lege jeden zweiten Tag eine zusätzliche Klettertour ein. Die sechsundneunzig Meilen von Glasgow waren anscheinend nicht anstrengend genug für ihn. Ulkigerweise hörte der Mann mit der verfilzten Haarmatte auf den Namen Matt.
Er sagte aber, dass er sich am Abend sehr gern mit uns treffen werde, und er schrieb seine Telefonnummer auf einen Zettel, den er Sarah gab. Dann lächelte er mich an und verschwand mit seinem sagenhaften Knackarsch in der Ferne.
Sarah sagte, das sei ein Déjà vu.
Sarah und ich waren gute katholische Schulmädchen gewesen. Unsere Eltern hatten sich beträchtliche Mühe gegeben, uns eine Fahrkarte in den Himmel zu sichern, indem sie uns auf eine von Nonnen geführte Privatschule schickten. Nachdem wir uns für die weiterführende Schule qualifiziert hatten, fuhren wir gemeinsam mit dem Zug nach Hause und unterhielten uns über Jungs. Es dauerte nicht lange, und wir hatten uns für Unterhaltungen mit Jungs qualifiziert.
Wir stiegen damals immer am Hauptbahnhof Glasgow um. Dort warteten Sarah und ich bei Burger King auf unseren Anschlusszug. Die Jungs aus St. Aloysius saßen auch bei Burger King, und es kam zu Kontakten, die ungefähr so abliefen:
Junge gab bestem Freund eine Nachricht, und bester Freund gab sie meiner besten Freundin (Sarah), und die Nachricht lautete: »Willst du Backsteine mit mir zählen?« Meine beste Freundin las mir die Nachricht vor, und ich lächelte für alle sichtbar und schrieb mit gespielter Schüchternheit »Ja«, und sie überreichte die Nachricht dem besten Freund, der sie an den besagten Jungen weiterreichte.
Dann begab ich mich zum Bahnsteig im Untergeschoss. Dort stand ich mit dem Rücken zur Wand und wartete darauf, dass der Junge auf mich zukäme, seine Hände gegen die Wand legte und mir einen Kuss-mit-offenem-Mund-aber-ohne-Zunge gäbe. Das hieß dann Backsteine zählen.
Sarah zählte nie Backsteine. Sie war zu hübsch und hatte nicht die Absicht, mit rotznäsigen Tunichtguten bei Burger King ihre Zeit zu vergeuden. Statt also Backsteine zu zählen, hörte Sarah ihnen zu, wie sie darauf wetteten, ob ich ihrem Kumpel einen Käpt’n Iglo durchgehen lassen würde.
Selbst damals bewahrte sie ihre Fürsorglichkeit mir gegenüber. Als sie auf die Schwesternschule wechselte und ich mit meinem Rucksack auf Tour ging, bemerkte ich, wie groß der Unterschied zu früher geworden war. Es gab niemanden, der mich aufhielt. Also ließ ich’s krachen, auf Teufel komm raus, und falls jetzt jemand fragen würde, müsste ich meine Strichliste auf die nächstgelegene Zehnerstelle abrunden.
Nach all diesen Jahren passte Sarah immer noch genauso auf mich auf wie damals am Hauptbahnhof. Der einzige Unterschied war, dass ich mit sechzehn darauf geachtet hatte, dass niemand in den Strafraum kam, während mit dreiunddreißig ein Elfmeter weitgehend garantiert war.
Mein sexuelles Erwachen hatte im Alter zwischen fünfzehn und neunzehn stattgefunden – auf schäbigen unterirdischen Bahnsteigen (siehe oben), in rostigen Geräteschuppen, dunklen Gassen und den Duschräumen in Pfadfinderheimen. Immer war ich ein zitterndes Nervenbündel gewesen, weil ich voll und ganz damit zu tun hatte, eine Hand davon abzuhalten, dass sie dahin wanderte, ihr einen Klaps zu geben, weil sie dorthin zu wandern versuchte, sie ein bisschen näher hierhin wandern zu lassen … Mein Gott!
Nachher betete ich in der Kirche und sagte dreiunddreißig Ave Marias auf. Später fragte ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, sie auf eine gerade Anzahl abzurunden oder dann und wann ein Vaterunser einzuschieben. Und dabei ging es noch nicht mal um richtigen Sex! Diese Gebete waren für »Rubbeln« und »Fingern« – wobei der erste Begriff sich auf das Reiben der Brustwarzen bezog, bis die fast einen Ausschlag bekamen, und der zweite auf das gnadenlose Herumstochern halbwüchsiger Finger an lauter falschen Stellen. Der Herr weiß: Wenn ich es wirklich mit allem Drum und Dran gemacht hätte, ich hätte den ganzen Tag gebetet.
Ich weiß nicht, wann mich mein Katholizismus verließ, aber er tat es. Ich hörte auf, meinen Eltern vorzulügen, dass ich in die Messe ginge, und schließlich – nur, um ihnen unzweifelhaft klarzumachen, dass ich wirklich der Sünde verfallen war – wurde ich von einem Typen in einer Toilette auf Teneriffa geschwängert.
Inzwischen weiß ich, dass mir das katholische Schuldgefühl den besten Sex meines Lebens beschert hat. Meinem treuen Freund hatte ich mindestens fünf Jahre lang versagt, es wirklich und richtig zu tun. Was würde ich jetzt dafür geben, wenn jemand wie er sich tagaus, tagein bei mir vortasten würde, vortasten und vortasten und vortasten! Diese Aufmerksamkeit, diese Motivation und Hingabe werde ich nie wieder finden. Und ich werde nie wieder ein so süßes, sündiges Schuldgefühl dabei verspüren. Wenn ich an diesen Jungen denke – er hieß Stewart –, dann denke ich an jemanden voll echter Hingabe.
Nachdem ich meinen Eltern erzählt hatte, dass ich nicht nur nicht wusste, was Vater O’Flaherty in seiner Predigt am letzten Sonntag gesagt hatte, sondern dass Vater O’Flaherty vermutlich mit seiner Haushälterin schlief, und dass ich nicht die Absicht hatte, jemals wieder in die Messe zu gehen, durchlief ich eine Art moralischer Revolution. Ich steckte das Schuldgefühl, das ich wegen Sex empfunden hatte, in eine Schachtel, wickelte sie ein und warf sie weg. Statt in die Messe zu gehen, wollte ich an den Sonntagen schöne Dinge tun. Fahrradfahren zum Beispiel oder Einkaufen. Außerdem vögelte ich so ziemlich mit jedem herum. Allerdings war ich immer sehr geschickt darin, niemanden zu nah an mich herankommen zu lassen. Ich hatte beschlossen, mir keine Sorgen darüber zu machen, ob ich respektiert wurde. Sex war Sex, das reichte völlig aus. Jeder Kerl, der glaubte, dass ein Mädchen anständig sein solle, war aus meiner Sicht sowieso eine chauvinistische Verschwendung von Lebensraum.
***
Als wir unser idyllisches Picknickplätzchen verließen und in Richtung Loch Lomond aufbrachen, fragte ich mich, ob meine moralische Revolution vielleicht ein Fehler gewesen sei, ob ich alles falsch gemacht hätte. Ich war eine alleinerziehende Mutter. Ich hatte keine längere Beziehung gehabt, seit ich mich mit neunzehn von Stewart getrennt hatte, ohne dass wir unsere Verbindung richtig vollzogen hatten. Ich war so einsam, wie man nur sein konnte. Wäre die Sache anders ausgegangen, wenn ich anständig geblieben wäre?