Kapitel sechsundzwanzig

Als Sozialarbeiterin hatte ich oft auf der anderen Seite gestanden. Ich war gegen Teenager vorgegangen, die der Kontrolle ihrer Eltern entglitten waren, und ich hatte über ihre Fortschritte in Assessment Centres oder geschlossenen Abteilungen berichtet. Ich hatte Berichte über Mütter verfasst, die nicht entschlossen genug versuchten, von ihrer Heroinsucht loszukommen, und ich hatte Vätern erklärt, dass sie keinen Kontakt mit ihren Kindern haben dürften, weil sie diesmal zu weit gegangen seien.

Und jetzt stand ich hier, auf der anderen Seite. Auf der wirklich schrecklichen Seite. Die Seite, auf der normalerweise die Armen von Glasgow stehen, während Mittelklasse-Arschlöcher wie ich auf der anderen Seite Entscheidungen über ihr Leben und das Leben ihrer Kinder treffen – auf Grundlage von Büchern, die sie gelesen, von Informationen, die sie gesammelt, von Besuchen, die sie gemacht haben, und ihrer Interpretation dessen, was man ihnen erzählt hat.

»Ich fürchte, so einfach ist es nicht«, sagte Perlenkette hochnäsig.

Ich seufzte, denn mir war klar geworden, wie tief ich in der Scheiße steckte. Diese Bagage würde meine Eignung als Mutter beurteilen. Und als sie mir ihre Bedenken mitteilten, schwankte der Boden, auf dem ich stand, mit jeder Sekunde mehr.

Ich hatte Robbie bereits früher allein gelassen, und mein neuerlicher Hinweis auf das ›kontrollierte Weinen‹ verfing nicht.

Ich hatte stressbedingt Urlaub genommen, wie Perlenkette nach einigen Telefonaten herausgefunden hatte, und so verfing mein Argument, ich sei eine kompetente Sozialarbeiterin, ebenfalls nicht.

Ich roch nach Alkohol, und in der Küche stand ein Dutzend leerer Weinflaschen. Mein Hinweis auf einen bevorstehenden Abstecher zur Mülltonne verfing nicht.

Alle außer Perlenkette hatten den Akzent der Arbeiterklasse, so dass der Hinweis auf meine Herkunft aus einer ›guten Familie‹ besonders deplatziert gewirkt haben musste.

Ich hatte ziemlich fragwürdige Bekannte, wie Perlenkette mit einem gezielten Blick auf Chas andeutete, und mein Argument, Chas sei trotz seiner Vorstrafe und der Kindesvernachlässigung an diesem Abend ein guter Kerl, verfing nicht.

Ich sah wild um mich, hatte blaue Flecken und eine Schnittwunde auf der Stirn, und mein Argument, ich bräuchte lediglich etwas Schlaf, verfing nicht.

Meine Eltern gingen trotz mehrfacher Anrufe nicht ans Telefon, und da ich sonst keine Verwandten in Glasgow hatte, verfing auch mein Argument nicht, dass meine Familie immer bereitstünde.

Und der Rat der Polizistin, meine Freundin Sarah anzurufen, die mir schon bei dem letzten Vorfall geholfen hatte, so dass sie bei mir übernachten könne, er verfing ebenfalls nicht, weil ich »keine Ahnung habe, wo sie ist, ehrlich nicht! Überhaupt keine Ahnung! Wir waren zwar gemeinsam zelten, aber woher soll ich wissen, wo sie jetzt ist?«

»Aber wenn wir mit ihr Verbindung aufnehmen könnten, wären sie dann einverstanden, dass Sarah sich um ihn kümmert, bis es Ihnen besser geht?«, fragte sie.

»Ja, natürlich«, sagte ich.

Ich gab ihnen mehrere Telefonnummern, und sie riefen mehrmals an, und dann stellte ich mich ihnen in den Weg, als Blasser Schwuler und Perlenkette auf Robbies Zimmer zusteuerten.

Nur für eine Nacht, sagten sie. Sie brauchen Ruhe, es ist nur, bis Sie sich wieder beruhigt haben. Es gibt nichts, worüber Sie sich Sorgen machen müssten.

Ich wehrte sie mit den Armen ab, als sie versuchten, das Zimmer zu betreten.

Wir werden versuchen, Ihre Mutter und Sarah anzurufen, sagten sie. Wir werden es weiter versuchen, aber für diese eine Nacht ist es gar kein Problem, er wird an einem sicheren Ort sein.

Ich stand vor dem Bettchen, als sie versuchten, ihn herauszuholen.

Wir veranlassen gleich morgen eine dringliche Anhörung, beschwichtigten sie mich, dann werden wir einen Weg finden.

Ich klammerte mich an Robbie, als sie ihn mir mit Gewalt entrissen.

Es ist nur für diese Nacht, sagten sie, nur bis Sie wieder nüchtern sind und jemanden haben, der Sie unterstützt.

Ich weinte mit weit geöffnetem Mund, als sie durch den Flur gingen.

Wir rufen weiter bei Ihrer Freundin an, sagten sie, und bei Ihrer Mutter.

Als sie über die flach auf dem Boden liegende Tür schritten, schrie ich: »Er hat eine Ohrenentzündung! Sie brauchen seine Medikamente! Achten Sie darauf, dass sein Fieber nicht steigt, sonst hat er schreckliche Schmerzen!«

Perlenkette nahm die Apothekentüte in Empfang und ging mit meinem hübschen kleinen Jungen auf dem Arm die Treppe hinab.

Ich saß auf dem Boden meiner schlampigen, seltsamen Wohnung, nach Alkohol und Schweiß riechend.

Meine Augen waren blutrot, ich dünstete mit jeder Pore Hysterie aus, und ich sagte mir: »Natürlich mussten sie ihn mitnehmen. Sie hatten keine andere Wahl … Ich hätte es genauso gemacht!«

Dann schaute ich hoch und sah Chas, der unbeholfen dastand.

»Du musst gehen«, sagte ich.

Er rührte sich nicht.

»Hau ab«, schrie ich. »HAU AB!«

Mein Gebrüll überzeugte ihn, sich zurückzuziehen. Er ging durch den Flur, stellte die kaputte Tür wieder in ihre wacklige aufrechte Position und ließ mich mit meinem ruinierten, leeren Scheißleben zurück.

***

Es dauerte vermutlich mehrere Stunden, ehe ich mich vom Fußboden kratzte und ins Wohnzimmer ging. Verständnislos starrte ich die Fotos auf meinem Kaminsims an – Sarah und Kyle in der Universitätskapelle; meine Eltern, die lächelnd in den Pyrenäen wanderten; Robbie in seinem Bettchen im Queen Mother’s Hospital. Dinge in meinem Leben, die sicher erschienen waren. Dinge, die nicht mehr existierten.

Aus welchem Grund sollte ich zuerst durchdrehen?

Weil ich Sarah umgebracht hatte?

Weil ich Robbie verloren hatte?

Chas?

Kyle? Der fuhr mit einer Säge und Messern und mehreren großen Müllsäcken im Kofferraum in Richtung Norden. Er würde mir lieber Ja simsen, um zu sagen, dass sein Werk vollendet sei, als mich jemals wiederzusehen. Fürs Erste blieb mir also nichts weiter zu tun, als auf das Piep-Piep zu warten.

Und dann fiel mir ein, dass ich mein Telefon nicht wieder aufgeladen hatte. Ich schloss es an und wartete darauf, dass es zum Leben erwachte, und als es so weit war, sah ich, dass ich nur einen Anruf verpasst hatte – nicht von der Polizei und auch nicht von Kyle, sondern von meinen Eltern.

Ich schaute auf die Uhr. Es war sechs Uhr früh. Kyle musste inzwischen fertig sein. Er hatte Sarahs Leiche in Stücke gehackt und sie in die unschuldigen schwarzen Säcke gesteckt.

Herr im Himmel, er musste damit aufhören. Er musste damit aufhören. Ich rief ihn an, aber er ging nicht dran. Ich versuchte es wieder und wieder. »Der Teilnehmer ist im Moment nicht erreichbar«, leierte eine Stimme vom Band. »Sie haben jedoch die Möglichkeit …«

Ich fasste einen Entschluss. Mit oder ohne Kyles Zustimmung würde ich duschen, mich anziehen und mich für ein Geständnis in der Drumgoyne Police Station bereitmachen. Robbie wäre bei meinen Eltern besser aufgehoben.

Ich sah mich ein letztes Mal in meinem Wohnzimmer um. Überall gab es Hinweise auf ein glückliches Leben – das Baby Gym, Dekorationsstücke aus Urlauben in Spanien und Italien, ein Foto meiner Eltern auf ihrer Hochzeit, das Foto von meiner Taufe, Chas, Kyle und ich an der Uni, Sarah und ich auf ihrer Hochzeit, ich und Robbie auf der Schaukel im Garten meiner Eltern. Als ich mich unter diesen Relikten einer glücklichen Vergangenheit umsah, wurde mir klar, dass mir das beste Leben geschenkt worden war, das ein Mensch haben kann.

Deshalb wollte ich, als ich dort saß und die Dekorationsstücke betrachtete und über mein wundervolles Leben nachdachte, vor allem eines wissen: Wie hatte ich es nur geschafft, dieses Leben so schrecklich zu vermasseln?