Kapitel dreizehn

Ich rief Matty an, als Sarah, Kyle und ich gerade »Stell dich« spielten. Nach drei Flaschen Wein waren wir blau und forderten uns gegenseitig heraus, uns unseren größten Ängsten zu stellen.

Da ich kein Blut sehen kann, meinte Kyle, ich solle in seine Hand schneiden, so dass genug Blut austreten würde, um ein kleines Papiertaschentuch zu tränken. Er sagte mir, ich solle mir keine Sorgen machen, er sei Arzt und würde mir sagen, sobald ich zu weit ginge. Dann gab er mir sein Schweizer Armeemesser und streckte seine Hand aus. Meine Schweißdrüsen begannen (wie sie es immer getan haben) sofort zu arbeiten, als ich seine Hand ergriff. Warmer Schweiß tropfte aus meiner Handfläche auf seine. Er drückte die Klinge des Messers fest gegen sein Fleisch. Es würde nie funktionieren, und mir wurde langsam schwindlig. Ich zögerte und sah Kyle in die Augen. Da bewegte er zärtlich seinen Daumen unter meiner Hand, und ein plötzlicher Adrenalinstoß brachte mich dazu, die Augen zu schließen und ihm ins Fleisch zu schneiden.

»Herr im Himmel!«, brüllte Kyle und zuckte vor Schmerz zurück.

Ich sah zu, wie das Blut aus seiner Hand schoss …

***

»Krissie! Krissie! Kriss! Hallo! Geht es dir gut?« Sarahs Gesicht tauchte verschwommen in meinem Blickfeld auf. »Du bist ohnmächtig geworden.«

Sie half mir beim Aufsetzen, und es dauerte eine Weile, ehe ich wieder ganz bei Bewusstsein war und mich an das Geschehene erinnern konnte. Kyle hielt seine Hand hoch (mit der alles in Ordnung war) und wedelte breit lächelnd mit einem blutverschmierten Papiertaschentuch.

»Jetzt bist du aber so was von an der Reihe«, sagte ich zu Kyle.

Kyle hatte immer Angst vor Spinnen gehabt. Zwischen seinem Schulabschluss und dem Beginn seines Studiums hatte er eigentlich ein Jahr in Australien verbringen wollen, aber nach einem kurzen Zwischenfall mit einer haarigen Riesenkrabbenspinne hatte er seinen Aufenthalt schnellstmöglich beendet. Er schnellte hoch, wenn sich eine Spinne auch nur im Fernsehen zeigte. Ich hatte diese mädchenhafte Eigenschaft immer recht bezaubernd gefunden. Es gefiel mir, wenn Männer verwundbar waren, wenn die Machofassade bröckelte. Vermutlich aus demselben Grund saß ich beim Sex gern oben und hatte die geheime Fantasie, zwei Männern dabei zuzusehen, wie sie es miteinander taten.

Also machte ich mich daran, die größte Spinne in der näheren Umgebung ausfindig zu machen. Das dauerte eine Weile, aber schließlich entdeckte ich eine von ungefähr fünf Zentimetern Durchmesser, die fröhlich zwischen zwei Zweigen einer Eberesche saß. Sie versuchte zu fliehen, aber ich schaffte es, sie einzufangen. Kyle schloss die Augen, doch sobald er ein Kitzeln auf seiner Hand spürte, wich er jäh zurück und kreischte wie ein Baby. Ich frage mich, ob die Spinne es zurück in die Eberesche geschafft hat oder ob sie emigriert ist.

Sarah kam als Nächste dran. Ihre größte Angst war es, in engen Räumen eingesperrt zu sein. Also steckten wir sie in ihren Schlafsack, zogen den Reißverschluss zu und befahlen ihr, zehn Minuten lang drinzubleiben.

»Vergesst mich nicht!«, sagte sie, als der Reißverschluss sich über ihr schloss.

Dann rief ich Matt an. Er hatte seinen Berg bestiegen. Jetzt lag er in seinem Zelt und war kurz vor dem Einschlafen. »Steh auf und komm rüber«, sagte ich.

Als ich auflegte, sah ich Robbie in seinem Kinderwagen. Es war das Foto, das ich an dem Ententeich aufgenommen hatte. Ich rief meine Mutter an.

Robbie gehe es gut, ihnen allen gehe es gut, sagte meine Mutter. Ich solle mir um nichts Sorgen machen.

Kyle schenkte mir noch einen Wein ein und wir plauderten eine Weile, ehe wir bemerkten, dass fünfzehn Minuten vergangen waren und wir Sarah in ihrem Schlafsack ganz vergessen hatten.

»Scheiße! Sarah!«, sagte ich, und drehte mich zum Schlafsack um. Dort rührte sich nichts.

»Sarah!«, sagte ich laut.

Keine Bewegung oder sonstige Reaktion. Langsam öffnete ich den Reißverschluss des Schlafsacks. Da lag Sarah, weiß wie ein Geist, mit geschlossenen Augen und so reglos wie der Tod in Person.

»Sarah?«

Nichts.

Ich schüttelte sie.

»Sarah!«

Kein Atemzug, kein einziges Lebenszeichen.

»Kyle! Sie … bewegt sich nicht.«

Kyle stellte seinen Wein hin und kam herüber. Unsere Gesichter näherten sich ihr bis auf wenige Zentimeter. Was hatten wir getan? Hatten wir sie umgebracht?

Viel schlimmer als meine Angst davor, Blut zu sehen, war meine Angst, etwas wirklich Schlimmes zu tun, jemanden ungewollt zu verletzen. Mein Gewissen würde für immer mit meinen schrecklichen Taten belastet sein. Ich würde ins Gefängnis gehen müssen, oder ich würde, noch schlimmer, nicht ins Gefängnis gehen müssen, weil ich nicht gestanden hätte oder nicht gefasst worden wäre, und dann würde ich ganz allein mit der Schuld weiterleben müssen, in einem dunklen, rauchgefüllten Raum, mit gespenstisch leerem Blick und zerzaustem Haar.

»AAAAHH!«

Sarahs Schrei ließ uns beide durch die Luft segeln. Als wir uns wieder aufgerappelt hatten, lachte sie so heftig, dass wir sie nur zum Schweigen bringen konnten, indem wir sie in den See warfen. Als sie mit wütendem Gesicht wieder auftauchte, wussten wir, dass wir zu weit gegangen waren. Kyle wurde nervös, und er streckte seine Hand aus, um ihr herauszuhelfen. Sarah ergriff sie, und dann zog sie ihn mit aller Kraft ins Wasser.

Ach, zum Teufel, dachte ich und sprang auch hinein. Was sprach gegen ein eiskaltes Bad mit viel Gekicher und Geplansche?

Wir planschten immer noch, als Matt kam. Für die Jahreszeit war es ein ungewöhnlich milder Abend, aber es war nicht mild genug, um fast nichts anzuhaben. Genau das war es, was Matt anhatte. Er hatte sein gelbes T-Shirt ausgezogen, auf dem in schwarzen Kursivbuchstaben »Ich bin nicht schwul!« stand, und ging jetzt die Pier entlang, bis er auf unserer Höhe war. Lächelnd stand er über mir. Dann sprang er ins Wasser.

Früher an diesem Tag hatte ich mir ein Versprechen gegeben: Ich musste versuchen, anständig zu sein. Nie wieder durfte ich mit einem Mann gleich bei der ersten Verabredung schlafen. Aber als Matt auf mich zuschwamm und meinen Kopf spielerisch unter Wasser drückte, kam ich zu dem Schluss, dass Ferien und zufällig vorbeikommende Matts eine Ausnahme bildeten.

Wir trockneten unsere Kleider am Feuer und tranken Bier. Sarah und Kyle kuschelten sich im Schein des Feuers aneinander und wirkten so entspannt und verliebt, dass ich sie kaum wiedererkannte.

Es war schön, sie so zu sehen, aber nach ungefähr fünf Minuten fing ich an, Sarah lang und bedeutungsvoll anzustarren. Sie schien das aber nicht zu bemerken. Ich wurde allmählich etwas ärgerlich, dass sie so lange herumhingen und plapperten, und als Sarah dann noch fragte, wie es Robbie gehe, wäre ich fast gestorben. Warum wollte sie mir den Spaß verderben, wenn Matt und ich allem Anschein nach gut zusammenpassten?

Zu meiner Beschämung muss ich sagen, dass ich Sarahs Robbie-Kommentar gegenüber Matt mit den Worten erklärte: »Das ist mein Wellensittich. Meine Mutter musste ihn zum Tierarzt bringen.«

Das nun folgende, unbehagliche Schweigen dauerte so lange, dass ich etwas sagen musste.

»Ich gehe dann schlafen.« Ich drehte mich zu Matt um. »Kommst du?«

Er wirkte überrascht, und dann, als ich seine Hand nahm und ihn zu meinem Zelt zog, hocherfreut.