Kapitel dreißig

Ich verabschiedete mich von dem perfekten Leben, das ich in den Wind geschossen hatte, und wollte mich gerade auf den Weg zur Polizeiwache machen, als zu meiner Überraschung das Telefon klingelte.

Meine Mutter war dran.

»Mum! Wo bist du? Die Leute von der Fürsorge haben Robbie mitgenommen, und ich habe etwas wirklich Schlimmes getan … Ich habe solche Angst. Ich wollte gerade zur Polizei gehen.«

Meine Mutter wurde aus meinen hysterischen Erklärungsversuchen nicht schlau. Sie beruhigte mich ein wenig, dann sagte sie: »Schätzchen, überstürz jetzt nichts. Warte, bis wir bei dir sind. Nimm dir ein Taxi zur Kenilworth, Kriss. Wir sind so schnell wir können zurück.«

Meine Mutter hatte recht. Ich schaffte das nicht allein. Nachdem sie aufgelegt hatte, empfand ich solche Sehnsucht nach ihr, dass es wehtat. Himmel, wenn ich an alles dachte, was mein Vater und sie seit Robbies Geburt auf sich genommen hatten, schämte ich mich in Grund und Boden. Sie hatten sich wunderbar verhalten, und ich war ein Albtraum gewesen. Und sie kannten noch nicht einmal die Hälfte dessen, was passiert war.

Ich schob die kaputte Tür beiseite und trat ins Treppenhaus.

Fast wäre ich über Chas gefallen, der auf der Treppe saß und mich mit roten Augen anschaute. Ich wusste jetzt, dass er mich liebte. Auch er hatte es vermasselt und fühlte sich schrecklich. Ich entschuldigte mich für meinen Wutanfall und setzte mich zu ihm.

Er verzog keine Miene, als ich ihm die Sache mit Sarah erzählte. Als ich fertig war, legte er sanft seine Hand auf meine und ließ sie dort liegen.

Wir schwiegen eine Zeit lang und sahen aus dem Fenster über das vertrocknete Grün. Dann nahmen wir gemeinsam ein Taxi zur Kenilworth Avenue. Ich fand den Hausschlüssel meiner Eltern in seinem Versteck in der Garage, und wir gingen hinein. Was für ein glückliches Haus: unordentlich und behaglich und glücklich.

Da ich wusste, dass ich in ungefähr einer Stunde von diesem Leben und meinem Sohn Abschied nehmen musste, entschloss ich mich, die Zeit zu nutzen und Ordnung in einige Sachen zu bringen. Robbie sollte, wenn er älter wurde, etwas über seine Mutter wissen, das nicht mit Ehebruch und Mord zu tun hatte. Ich bat Chas, mir dazu etwas Zeit und Raum zu lassen, und er verkrümelte sich in die Küche, um zu sehen, ob er schnell etwas zusammenbrutzeln konnte. Ich hatte seit mehr als vierundzwanzig Stunden nichts gegessen, und er würde mich dazu zwingen, egal, ob ich wollte oder nicht.

Ich holte eine der großen Schachteln mit Blumenmuster aus dem Kreativzimmer meiner Mutter. Dieses Zimmer hatte sie immer schon gehabt. Es war voll mit hübschen Schachteln und Aufklebern, interessanten Schreibwaren, Büchern und Wasserfarben. Sie bastelte umwerfende kleine Bücher für Robbie, stellte hinreißende Fotoalben zusammen und hatte das meiste nach einer sentimentalen, leicht verständlichen Ordnung sortiert.

Ich nahm mir also eine leere Schachtel mit Blumenmuster und etikettierte sie mit einem von Mums Aufklebeschildchen als ›Fotos für Robbie‹.

Ich kramte in den Fotos herum, die ungeordnet auf dem Schreibtisch lagen, lud ein paar Fotos neueren Datums von Mums Kamera herunter und legte alle Bilder, auf denen Robbie zu sehen war, in die Schachtel. Auf die Rückseite jedes Fotos schrieb ich eine kleine Geschichte.

Mami schneidet dir zum ersten Mal die Fingernägel. Sie waren winzig!

Mami lernt, dich zu füttern. Sie war nicht besonders gut darin!

Du und Mami im Park beim Entenfüttern. Du hast geschlafen!

Oma, Opa, Mami und Du essen Nudeln am Comer See.

Mami, als sie klein war. Sie geht raus – wahrscheinlich, um auf Bäume zu klettern.

Mami und ihre liebe Freundin Sarah …

Als Nächstes schrieb ich in meiner besten Handschrift einen Brief.

Lieber Robbie

ich schreibe dies bei Oma und Opa. Du machst für eine Nacht Ferien bei einigen Leuten, die Du nicht so gut kennst, und bald wirst Du nachhause kommen und bei Oma und Opa wohnen. Ich werde eine Zeit lang weg sein, weil ich etwas sehr Falsches getan habe und lernen muss, bessere Entscheidungen zu treffen.

Ich werde Dich sehr vermissen! Ich bin sehr traurig, dass ich nicht sehen werde, wie Du zum ersten Mal läufst oder alleine aufrecht am Tisch sitzt, oder zur selben Schule wie ich gehst. Ich wünschte, ich könnte das alles sehen, aber ich möchte, dass Du weißt, dass ich jeden einzelnen Tag an Dich denken werde, wenn ich im Trainingslager für bessere Entscheidungen bin. Jeden einzelnen Tag, Robbie, und ich werde die Minuten zählen, bis ich nachhause zurückkommen kann, um mit Dir und Oma und Opa zusammen zu leben.

Ich werde Dir jeden Tag schreiben, mein Kleiner!

Ich liebe Dich

Mami

xxxx

Ich weinte, als ich den Brief beendete. Das Papier war völlig durchweicht, als ich den Umschlag versiegelte.

Dann schrieb ich einen Brief an meine Eltern.

Liebe Mum, lieber Dad,

ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, alles zu vermasseln. Ihr habt alles richtig gemacht, und ich habe alles falsch gemacht. Ich weiß, dass Ihr für mich auf Robbie aufpassen werdet, aber bitte sorgt dafür, dass er mich nicht vergisst. Ich bin eine miserable Mutter gewesen, aber ich liebe ihn. Und Euch beide liebe ich auch, von ganzem Herzen. Es tut mir sehr, sehr leid.

Krissie

xxx

Ich holte noch eine Schachtel und füllte sie mit Sachen, die Robbie an mich erinnern sollten. Mein Deo (es war nur ein Nivea-Roller, aber so roch ich nun einmal), mein Lieblingsbuch von Enid Blyton, den Stoffhasen, den ich mit drei Jahren geschenkt bekommen hatte. Den Stoffhasen nahm ich gleich wieder heraus, weil er sehr furchteinflößend aussah, mit bösen Glasaugen und neu angenähten Ohren, die zu eng anlagen und zu dünn waren.

Ich erinnerte mich an ein anderes Stofftier namens Geoff. Geoff war ein rosa Teddybär, den ich auf seinen umstrittenen Namen getauft hatte, weil ich ein »interessantes« Kind war. Er befand sich nirgendwo im Kreativzimmer, und so ging ich auf den Dachboden.

Unser Dachboden hatte eine Leiter zum Herunterziehen, und er war winzig. An einem verregneten Wochenende hatte mein Vater da oben eine Lampe angebracht, und meine Mutter hatte begonnen, ihn zum Lagern von Sachen zu benutzen, die »wir wirklich mal wegwerfen sollten, Anna!«.

Es gab dort mehrere Plastikkisten voller Briefe. Meine Mutter ist eine große Briefeschreiberin. Sie liebt Menschen – und spricht den ganzen Tag darüber, was sie tun und was sie sagen und wieso sie so geworden sind, wie sie sind.

Die Briefe meiner Mutter waren eine wunderbare Lektüre.

Es gab dort Liebesbriefe an meinen Vater, aus der Zeit, als er in Afrika gearbeitet hatte: »Noch 133 Tage, bis ich Dich sehe, Davie-Boy. Wie soll ich ohne Deine Massagen und Pfannkuchen überleben? Schreib mir und nenne mir ein paar Möglichkeiten.«

Es gab dort Briefe an mich, als ich in Indien gewesen war. »Du bist mein Goldstück, Krissie. Ich erinnere mich, wie Du mit Sarah im Regen zur Schule gegangen bist. Damals habe ich im Stillen gedacht: Da laufen meine Goldmädchen mit ihren blauen Regenschirmen, rennend und lachend im Regen.«

Und ein Brief von mir, den meine Mutter in eine Plastikhülle gesteckt und abgeheftet hatte:

Liebe Mum,

ich sitze auf dem Ast eines Baumes in Goa, und die Sonne geht über dem Wasser unter, und alles ist unheimlich schön. Ich habe mich mit einem Typen namens Chas aus Edinburgh angefreundet und ihm alles über Dich erzählt. Er meint, dass Du nett zu sein scheinst, und sagt, dass ich ausgeglichener werden sollte. Ich denke dauernd an zuhause. Ich vermisse es, abends auf der Schaukel zu sitzen und irgendeinen Scheiß zu erzählen und zu dämlichen Wochenendausflügen mitgeschleppt zu werden.

Kx

PS: Mach Dir meinetwegen keine Sorgen. Mit einem asexuellen Schotten auf einem ziemlich unbequemen Baum zu sitzen, ist das Leichtsinnigste, was ich mache.

Es gab dort eine Kurzgeschichte, die meine Mutter geschrieben und jahrelang versteckt hatte. Die Geschichte handelte von einem kahlköpfigen Jungen auf einem Schiff, der schikaniert wird, und sie war großartig.

Ich fand zwar keinen Geoff, aber ich stieß auf zwei Sachen, die mich wirklich verwirrten. Die erste war ein Zeitungsausschnitt über einen Typen, der wegen eines Sexualdeliktes zu einer Geldstrafe verurteilt worden war. Er hatte es geschafft, dass die Summe herabgesetzt wurde, aber er war – wie die Zeitung es ausdrückte – ein frei herumlaufendes Scheusal.

Ich hatte das mit einem Achselzucken abgetan und weiter die Fotos durchgeblättert, als ich auf die zweite seltsame Sache

SCHEUSAL LÄUFT FREI HERUM

Ein Pädophiler wurde vor dem Grafschaftsgericht in Glasgow zu einer Geld strafe von £200 verurteilt, weil er ein sechs Jah re altes Mädchen sexuell belästigt hat. »Er war immer ein angenehmer Mensch«, sagte ein Nachbar. »Ich glaube immer noch nicht, dass er es getan hat.« Andere Anwohner sagten, sie seien außer

sich, dass der Mann es geschafft habe, durch ein Geständnis eine Strafverminderung zu erzielen, so dass er letztlich nur für Störung des öffentlichen Friedens belangt wurde. Der Straftäter – dessen Name nicht genannt werden darf – verließ heute Nachmittag das Gerichtsgebäude und wurde seit dem nicht mehr gesehen.

stieß. Etwas, das in Zeitungspapier eingewickelt war. Ich entfernte den Observer und erhaschte einen kurzen Blick auf ein schönes Schmuckkästchen, das mit rosafarbenen Blumen bestickt und mit silbernem Glitter besetzt war.

Dann übergab ich mich in gleichmäßigem Schwall über die Briefe meiner Mutter.

Als ich das Kästchen erneut ansah, fragte ich mich, warum ich mich gerade übergeben hatte. Ich öffnete den Deckel ein wenig, sah das Ballettröckchen einer winzigen Ballerina und hörte eine Spieluhr, die ein trauriges Lied leierte. Um nicht noch einmal zu erbrechen, knallte ich den Deckel zu, wickelte das Kästchen in die Zeitung und ging nach unten, um Mums Briefe sauberzumachen.

»Was ist los?«, fragte Chas, als ich in die Küche kam.

»Ich habe auf dem Dachboden ein Schmuckkästchen gesehen und mich dann übergeben.«

Chas wurde aus irgendeinem Grund noch blasser als ich.

»Erinnerst du dich, wo du das Schmuckkästchen bekommen hast?«

»Nein«, sagte ich und fragte mich, was das mit der Sache zu tun habe.

»Krissie …« Chas guckte tatsächlich sehr ernst, aber er kam nicht dazu, weiter zu sprechen, weil in diesem Augenblick meine Mutter und mein Vater in die Küche stürzten und mich umarmten. Sie hatten beide geweint und sagten, ich solle mich setzen und ihnen alles erzählen.

Das tat ich. Alles.

Wie reagieren Eltern, wenn ihr normales, glückliches Leben einen Salto schlägt und dann in Flammen aufgeht?

Meine blieben ruhig und stellten nacheinander jeder eine Frage.

»Bist du sicher, dass es deine Schuld war, Krissie?«

»Ich habe sie gestoßen, und sie ist gefallen.«

»Aber wolltest du das?«

»Ich weiß nur, dass ich sie versteckt habe, und das ist schlimm genug.«

»Manchmal wünschte ich, du wärst Sarah nie begegnet«, sagte mein Vater.