Ich hyperventilierte den ganzen Weg zu Sarahs Haus. Sie war von mir betrogen, belogen, attackiert und lebendig begraben worden. Sie hatte ihrem Mann die Augen ausgestochen und seine Arme abgesägt. Und jetzt hatte sie Robbie. Was würde sie als Nächstes tun? Was würde sie mit meinem kleinen Jungen anstellen?
Vielleicht gar nichts, redete ich mir ein. Vielleicht gar nichts. Vielleicht würde sie liebevoll auf ihn aufpassen. Schließlich hatte sie immer schon ein Baby haben wollen.
»Seine Medikamente«, sagte ich. »Findet heraus, ob sie seine Medikamente mitgenommen hat!« Wenn sie Robbies Antibiotika und sein Paracetamol mitgenommen hätte, dann, schätzte ich, würde das auf die ihr eigene verkorkste Art zeigen, dass ihr immer noch an Robbies Wohlergehen gelegen sei.
Alle machten sich daran, herauszufinden, ob Sarah die Medikamente bei Robbies Pflegeeltern abgeholt hatte. Nach zwölf Anrufen und sieben Minuten fanden wir heraus, dass sie das nicht getan hatte.
O Gott, dachte ich, sie hat gar nicht vor, für ihn zu sorgen.
***
Die Sturmtür zu Sarahs Doppelhaushälfte war abgeschlossen. In dem Sandsteinhaus brannten keine Lichter, und auf der Auffahrt stand kein Auto. Noch ehe wir hielten, öffnete ich die Autotür und rannte zu der Stelle, wo sonst der Ersatzschlüssel lag. Er war weg. Die Polizei trat die Tür ein. Niemand war im Haus. Ich sah in jedem einzelnen Zimmer nach, aber jedes sah leerer aus als das vorige, und am allermeisten das Kinderzimmer, das Sarah bis ins kleinste Detail ausgeschmückt hatte. Kullertränchen – zwanzig Jahre alt, aber immer noch in makellosem Zustand – lag auf dem Kinderbett.
Ich hechtete zurück in den Polizeiwagen, und die Sirene ging an. Wo konnte sie hingefahren sein?
Zu ihrer Mutter?
Ihrem Vater?
Loch Katrine?
Dem Flughafen?
Wir rasten den Weg zurück, auf dem wir gekommen waren, und hielten mit quietschenden Reifen vor dem Haus von Sarahs Mutter.
Ich sprang hinaus und drückte auf den Klingelknopf mit dem Namen Morgan.
Keine Antwort.
»Scheiße.« Ich versuchte es noch einmal.
Kein Glück. Beim dritten Versuch …
»Ja?« Die Stimme, die ich hören wollte.
»Mrs. Morgan, hier ist Krissie Donald.«
»Krissie! Hallo.«
»Ich muss reinkommen. Es ist dringend.«
Der Summer ertönte, und ich schoss die Treppe in den dritten Stock hoch.
Sie öffnete ruhig die Tür.
»Ist Sarah da?«
»Nein.«
»Haben Sie etwas von ihr gehört?«
»Nein.«
»Hören Sie, Kyle ist tot, und sie ist mit meinem Baby verschwunden.«
»Du meine Güte!«, sagte sie. »Warum ich? Dieses Mädchen! Werde ich nie meinen Frieden haben?«
Ich hatte keine Geduld für ihr selbstsüchtiges Drama. »Mrs. Morgan, wenn Sie sie sehen, müssen Sie sofort den Notruf wählen!«
Die Polizei machte mehrere Anrufe während der Fahrt. Ein anderer Polizist sagte uns über Funk, dass Sarahs Vater betrunken in seiner Sozialwohnung liege und sie nicht mehr gesehen habe, seit er sie zwei Jahre zuvor um Geld gebeten habe. »Korinthenkackerin«, hatte er anscheinend gesagt, ehe er sich ein weiteres Glas Pennerfusel einschenkte.
Sie habe nicht versucht, das Land zu verlassen, teilte uns die Polizeidirektion mit. Sie hätten die Flughäfen überprüft.
Sie hatte in Glasgow gegen halb neun morgens Geld abgehoben, aber keine Kreditkarten benutzt.
Wir brauchten vierzig Minuten bis Loch Katrine, und als wir ankamen, hatte die örtliche Polizei das Haus bereits durchsucht. Zwar hatten sie nichts gefunden, was auf einen Aufenthalt Sarahs in letzter Zeit schließen ließ, aber sie wollten uns etwas zeigen.
Ein Polizist wartete an der Haustür auf uns. »So, wie es aussieht, ist hier seit einiger Zeit niemand gewesen, aber kommen Sie mal mit und sehen sich das an.«
Ich folgte dem Polizisten in das große Schlafzimmer. Vor einem umgekippten Schrank blieb er stehen. Dahinter befand sich ein staubiger Alkoven.
So was gibt es in jeder Geschichte über Psychopathen, oder? Abgeschlossene Zimmer mit schlechter Beleuchtung und Bildern und Zeitungsausschnitten an der Wand. Nur, dass die Bilder meist potentielle Opfer zeigen und die Ausschnitte Verletzte. In diesem Fall kamen mit jedem Pendeln der einzigen Glühbirne Bilder eines lächelnden Gesichts in den Blick.
Der Mann bekommt einen Preis in L. A.
Steigt in London in sein Auto ein.
Heiratet in Glasgow.
Wird vom »Guardian« interviewt.
Kommt in Islington aus dem Krankenhaus.
Auf allen Fotos war mit einem schwarzen Stift wütend herumgekritzelt worden.
Und der Mann, um den es ging – war Mike Tetherton.
»Das ist Sarahs Stiefvater«, sagte ich.
Chas kam in den Raum und sah die Bilder. Sein Gesichtsausdruck änderte sich, und sein ganzer Körper wurde steif.
»Ich verstehe das nicht«, sagte ich. Ich wurde panisch, weil uns scheinbar die Hinweise ausgegangen waren, wo wir Robbie finden konnten. Mike Tetherton hatte in Sarahs Leben keine Rolle mehr gespielt, seit sie sechs Jahre alt war. Sie hatte ihn niemals erwähnt und ihn nicht einmal zu ihrer Hochzeit eingeladen.
Chas führte mich ins Wohnzimmer und sagte mir, ich solle mich auf das Sofa setzen. »Mike Tetherton ist der Mann, den ich angegriffen habe«, sagte er dann.
»Was? Was hat das mit der ganzen Sache zu tun? Wir müssen Robbie finden.«
»Erinnerst du dich daran, wie du dich bei deiner Mutter auf dem Dachboden übergeben hast?«
»Als ich das Schmuckkästchen gefunden habe?«
»Sarahs Stiefvater hat es dir gegeben.«
Er schaute mich eindringlich an und wartete offensichtlich darauf, eine Erkenntnis in meinen Augen zu sehen. Zunächst verwirrte mich das. Dann sagte er: »Als du sechs Jahre alt warst, Krissie.«
Es war so unschuldig, dieses Kistchen, sein Blumenmuster mit dem Besatz aus silbernem Glimmer. Ein so hübsches Ding, diese weiße Ballerina. Ein so schönes Lied, »Doktor Schiwago«, wie es klagend aus der Spieluhr tönte.
Tränen schossen mir in die Augen, als sie sich mit Erinnerung füllten.
Ich hatte nie an diesen ganzen Quatsch über verdrängte Erinnerungen geglaubt, und ich hatte all die Sozialarbeiter gehasst, die sich endlos darüber ausließen. Die Vorstellung, dass Menschen irgendwelches Zeug in ihrer Erinnerung vergraben und einfach so vergessen können, war mir lächerlich erschienen. Echte Erfahrungen konnten nicht durch einen Geruch oder einen Klang oder einen Gegenstand an die Oberfläche zurückgeholt werden.
Ich hatte mich geirrt. Es war, als würde ein kompletter Teil meines Lebens gegen die Fensterscheibe fliegen, das Glas durchbrechen und tot vor meine Füße fallen. Da war er. Sehr unvermittelt, sehr erschreckend und sehr hässlich.
Ich erinnerte mich daran, wie freundlich Mike gewesen war. Ich hatte immer darum gebettelt, zum Spielen zu Sarah gehen zu dürfen, weil wir dort Chips bekamen, wann immer wir wollten, und einmal sogar »Prisoner Cell Block H« sehen durften, eine Serie, die mein Vater verboten hatte, weil das »eine verdammte Lesbensendung« sei. Und selbst als wir zum ersten Mal in das Gästezimmer gegangen waren, um in Mikes »Noddy«-Büchern zu lesen, und als Sarah zum Pinkeln in das angrenzende Badezimmer gegangen war, und sogar dann, als er versehentlich ein Glas Johannisbeersaft über mich verschüttet hatte und mir die Kleider auszog, um mich mit einem Handtuch abzutrocknen, selbst nach diesem ersten Mal wollte ich dort immer noch lieber als irgendwo sonst auf der ganzen Welt spielen.
Erst nach dem nächsten Mal, als es keine Chips und keinen Johannisbeersaft und keine »Noddy«-Bücher gab, fing ich an, meine Meinung zu ändern. Sarah war wieder zum Pinkeln ins Badezimmer gegangen, und da es keine tollen Sachen gab, die mich ablenken konnten, bemerkte ich, dass er das Bad von außen und das Schlafzimmer von innen abschloss und dass er nicht mit seiner süßen, sanften Stimme sprach, sondern mit einer harten, als er sagte: »Lieg einfach da und sei still.«
Das Gästezimmer war voller Spielzeug. Das Gästebett mit seiner flauschigen, buntscheckigen, rosa- und malvenfarbenen Steppdecke war sehr hübsch. In der Ecke stand ein Videorekorder. Er war ein Mann, aber er schien Rosa und Malve sowie Noddy und andere Enid-Blyton-Charaktere zu mögen. Damals fand ich daran nichts Ungewöhnliches – einer Sechsjährigen kommt so etwas nicht in den Sinn.
Ich dachte daran, ihn zu fragen, ob ich Chips bekäme, und er sagte: Nur, wenn ich mich hinlegte und still bliebe. Und das tat ich, und danach bekam ich nicht nur Chips, sondern auch das allerschönste Schmuckkästchen, das ich jemals gesehen hatte.
Wenig später zwang meine Mutter mich fast dazu, bei Sarah zu übernachten. Man hatte sie überraschend zu ihrer Arbeit gerufen, und sie war verärgert über einen Wutanfall, den ich gehabt hatte, und darüber, dass ich ihr das Leben schwermachte.
Eine Stunde, nachdem Mike seine Frau generös zum abendlichen Freundinnenausflug verabschiedet hatte, hörte ich, wie Sarah gegen die Badezimmertür hämmerte, ohne mir helfen zu können.
Hinterher war ich überrascht über die Rückkehr seiner angenehmen, süßen Raspelstimme.
»Sie und Sarah haben Twister gespielt. Ich fürchte, ihr Beinchen hat einen blauen Fleck abbekommen«, sagte er, als meine Mutter mich abholte.
Danach gab es noch einen Vorfall. Und etwas Blut wollte nicht aufhören, zu fließen, so dass ich mir eine Geschichte ausdenken musste, wie ich vom Fahrrad gefallen sei. Und dann zog ich einen Schlussstrich unter Mike Tetherton und sein hartes Ding. Ich legte die Sache zu den Akten und dachte nie wieder an ihn – bis Loch Katrine.
***
Ich weinte immer noch, als Chas mir den Zeitungsartikel erklärte, den ich auf dem Dachboden gefunden hatte. Er bezog sich auf Marie Johnston. Auch sie war dort gewesen, hatte vor der Kamera, vor dem Aufnahmegerät gesessen, die süße Kleine. Sie hatte es ihrer Mutter erzählt, aber er war davongekommen.
Chas erklärte mir sanft, dass dies der Grund gewesen sei, warum meine Mutter die Sache habe ruhen lassen. Sie wollte nicht, dass ich dasselbe durchmachen musste, was Marie durchgemacht hatte. Wozu wäre das gut gewesen? Marie war von Sozialarbeiterinnen und Ärzten und der Polizei verhört und untersucht worden, und ihre Mutter hatte sich wochenlang geweigert, sie draußen spielen zu lassen, und ihr Vater hatte ihr gesagt, sie solle nie wieder Röcke tragen, und sie und ihr Bruder fingen an, sich in der Schule komisch zu benehmen, so dass niemand mit ihnen spielen wollte.
Ich verstand, dass dies der Grund gewesen war, weshalb Sarah immer auf mich aufgepasst hatte, wenn ich am Hauptbahnhof Backsteine zählte, warum sie mir Geld gab, wenn ich während meiner Studentenzeit etwas brauchte, warum sie mir Mahlzeiten auf Vorrat kochte und einfror, warum sie mich auf den West Highland Way mitgenommen hatte. Sie hatte mich seither immer beschützt, denn sie hatte mich nicht beschützen können, als wir klein gewesen waren.
Ich sah Chas an, der neben mir auf dem Sofa saß.
»Stopp!«, sagte ich und kehrte endlich in die Realität zurück. »Wir haben keine Zeit für diese Sachen.«
»Aber verstehst du denn nicht?«, sagte Chas. »Sie rächt sich jetzt – sie bringt Kyle um, sie entführt Robbie. Es ist wie eine Einkaufsliste …«
Ich führte Chas’ Satz zu Ende: »Sie wird sich Mike Tetherton schnappen.«