Kapitel fünfundzwanzig

Ich stieg aus dem Taxi, ging zur Tür, klopfte und stand einen Augenblick lang im Dunkeln. Der Vogelbeerbaum verstreute braungelbe Blätter im Wind. Ich glaubte ein Flüstern zu hören.

»Krissie! Krissie!«

Ich drehte mich um und sah, wie die Blätter zu Boden fielen. Und dann sah ich Sarah, ihren weißroten Körper – Fleisch und Blut.

»Krissie! KRISSIE!«

Beim Klang von Kyles Stimme fuhr ich zusammen und drehte mich keuchend um.

Im Flur standen mehrere halbgepackte Koffer.

»Krissie!«

Ich sah mich nach dem Baum um. Sarah war nicht dort, bloß ein Baumstamm.

»Ich muss mit dir sprechen«, flüsterte ich.

Er ließ mich hinein, und wir gingen verlegen in die Küche.

Kyle sagte, er habe Sarah nicht gesehen. Sie sei vermutlich immer noch im Cottage am Loch Katrine und ignoriere seine Anrufe. Er werde eine Zeit lang bei seiner Familie wohnen, damit sie in Ruhe nach Hause kommen könne, wenn sie das wolle und –

»Sie ist nicht am Loch Katrine«, unterbrach ich ihn.

»Hast du mit ihr gesprochen?«

»Nein.«

»Was meinst du dann?«

Ich platzte so schnell damit heraus, wie ich konnte, damit es endlich vorbei wäre: Wie sie mir in jener Nacht gefolgt sei, wie wir gestritten hätten und sie mich angegriffen hätte, wie ich sie gestoßen hätte, sie gefallen sei, ich gemerkt hätte, dass sie tot sei, und sie …

Er wankte und seine Augen füllten sich mit Tränen. Er nahm seine Hand vom Mund und atmete schwer und seltsam. Dann verzerrte sich sein Gesicht vor Kummer. Er gab ein wildes Stöhnen von sich und fiel auf die Knie.

Ich wollte ihn berühren und beugte mich herab, um ihn zu halten, aber er stieß mich von sich. Sein Verhalten änderte sich erneut.

»Du Mörderschlampe!«

Er stand auf und fing an, auf meine Brust zu trommeln. Ich wehrte mich nicht und sagte die ganze Zeit: »Es war ein Unfall, und ich war panisch vor Angst. Ich wollte es nicht!«

Er hörte auf, mich zu schlagen und vergrub sich unkontrolliert schluchzend an meiner Brust.

»Es tut mir so leid, so leid …« Ich weinte.

Über seine Schulter fixierten meine Augen die Küchenanrichte, auf der wartend das silberfarbene Telefon stand.

Ich umschloss sein Gesicht mit den Händen und sah ihm in die Augen.

»Ich rufe jetzt die Polizei an«, sagte ich.

Nass und fleckig von Tränen, starrte er mich an, doch dann kehrte ein Hauch seiner professionellen Ruhe zurück: »Nein! Krissie, nein! Du kannst die Polizei nicht anrufen.«

Er beschloss, dass wir niemanden anriefen. Wegen unserer Affäre sei er verdächtig und werde alles verlieren, und ich verlöre Robbie. Stattdessen werde er mit der erforderlichen Ausrüstung nach Glencoe fahren und Sarahs Leiche gründlich entsorgen. Er werde jetzt fahren, und beim Morgengrauen werde die Sache erledigt sein und er werde mir eine SMS schicken. Unter keinerlei Umständen solle ich mit ihm in Kontakt treten, und wir würden uns nie wieder sehen.

Ich stritt mit ihm. Ich sagte, es sei nutzlos, der Sache entkommen zu wollen. Sie würde immer da sein und uns verfolgen. Aber er beharrte verärgert auf seiner Haltung. »Wir gehen beide ins Gefängnis. Man hat uns im Hotel tanzen sehen, man hat gesehen, wie ihr in der Hotelhalle gestritten habt. Herr im Himmel, jeder muss mitbekommen haben, dass wir etwas miteinander hatten! Wie sähe das aus? Wir bekommen beide lebenslänglich!«

Er fing an, im Haus herumzulaufen und Sachen zusammenzusuchen. Er fragte mich, wo genau der Felsspalt sei, und kramte unter der Spüle nach schwarzen Müllbeuteln …

»Tritt nicht mit mir in Verbindung«, sagte er eindringlich und brachte mich zur Hintertür. »Ich schicke dir eine SMS, sobald ich fertig bin. Ich schreibe Ja, sonst nichts. Bloß Ja, und du weißt Bescheid. Geh jetzt.« Er ignorierte meinen Protest und schob mich durch die Tür.

»Geh hinten herum und pass auf, dass niemand dich sieht!« Dann schlug er die Tür hinter mir zu.

Ich lief zum Tor und in die dunkle Gasse, wo ich mit einer braunen Mülltonne zusammenstieß. Ganz in der Nähe ertönte ein gewaltiger Knall, der mir einen Mordsschrecken einjagte, bis mir klar wurde, dass es nur die Kinder aus der Nachbarschaft waren, die zum Guy-Fawkes-Tag Böller anzündeten. Ich rannte drei Meilen, als ob Sarahs abstoßender Geist mir auf den Fersen wäre.

Es war ungefähr zehn Uhr abends, als ich an meinem Haus ankam. In den meisten Gebäuden dieser Gegend wurden die Lichter nachts ausgemacht, aber in meinem schien jede einzelne Lampe an zu sein. Alle acht Wohnungen, zwei auf jedem Stockwerk, erstrahlten in hellem Licht. Ich betrat das Treppenhaus und hörte Stimmengewirr. Auf dem Weg nach oben wurden die Stimmen lauter und lauter. Mehrere Türen standen auf.

Die alte Schachtel von gegenüber spähte wieder einmal durch ihr Fenster, und meine Tür lehnte nicht mehr unsicher am Rahmen, sondern lag auf dem Boden. Ich stieg über sie hinweg und hörte mehrere Menschen, die im Wohnzimmer sprachen. Ich warf erst einen Blick in Robbies Zimmer, um zu sehen, ob mit ihm alles in Ordnung wäre (er schlief fest in seinem Bettchen), dann ging ich ins Wohnzimmer.

Dort auf dem Sofa saßen Chas, Wachtmeister Johnny Wallace und die allzu hübsche Polizistin, die in der Woche vor dem Urlaub vor meiner Tür gestanden hatten. Außerdem eine gediegene Sozialarbeiterin (Pullover mit passender Strickjacke plus Perlenkette) und ihr blasser, schwuler Azubi.

»Was ist hier los?«, fragte ich.

Wenn ich es jetzt im Rückblick betrachte, waren sie sehr höflich, aber ich reagierte nicht gut darauf. Marco hatte sie gerufen, nachdem Chas sich ausgeschlossen hatte und Robbie allein in der Wohnung zurückgeblieben war. Sie hatten Nachbarn befragt. Die Nachbarn hatten am Abend Schreie und Schläge gehört. Sie hatten gehört, wie ich auf dem Dachboden herumgekrochen war; sie hatten gesehen, wie ich seltsam gekleidet auf der Gardner Street versucht hatte davonzulaufen; und sie hatten schließlich einen Mann von der Straße aus hochrufen hören, dass ein Kind sich allein in der Wohnung befinde. Und es sei nicht das erste Mal, dass ich das Kind allein gelassen hätte, wie die junge Polizistin betonte. Ungefähr eine Woche zuvor habe es einen ähnlichen Zwischenfall gegeben.

»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich kontrolliertes Weinen angewandt habe!«, lautete mein kläglicher Einwand. »Und außerdem hat Chas diesmal auf ihn aufgepasst!«

»Mr. Worthington hat das Gebäude verlassen«, sagte die Polizistin.

»Ich bin kurz rausgegangen, als ich einen Alarm hörte, und dann ist die Tür hinter mir zugefallen!« wandte Chas ein.

Ich hätte ihn umbringen können.

»Ist Ihnen klar, das Mr. Worthington gerade erst auf Bewährung entlassen wurde?« Das kam von Perlenkette, der Sozialarbeiterin.

»Ja, ist mir klar«, sagte ich. »Also gut!« Ich setzte mich hin und versuchte, vernünftig zu sein. »Ich bin selbst Sozialarbeiterin im Bereich Kinderschutz. Ich arbeite seit Jahren für die Evangelische Mission und verstehe vollkommen, warum Sie hier sind. Ich habe Unmengen von Kindern unter Beaufsichtigung, die wirklich in Gefahr sind, deren Eltern wirklich nicht imstande sind, auf sie aufzupassen. Aber das hier ist nicht dasselbe. Ich weiß, was ich tue. Ich komme aus einer guten Familie! Die letzten Tage waren wirklich nicht leicht, und es tut mir auch sehr leid, aber jetzt bin ich wieder da, und Robbie geht es gut. Wenn es Ihnen also recht ist, bringe ich Sie einfach zur Tür …«