Der Tag am Loch Lomond war qualvoll für Sarah. Ihre Füße hatten an beiden Ballen und Fersen Blasen bekommen. Während der ersten zehn Meilen war sie oft stehengeblieben und hatte neue Pflaster auf die vier Druckpunkte geklebt, aber dann gingen ihr die Pflaster aus, und ihre Füße waren von dem ganzen Blut so rutschig, dass die alten Pflaster nicht mehr hielten, also blieb sie nur noch stehen, um den Schaden zu begutachten. Krissie und Kyle waren jetzt schon weit vorausgegangen, und es war ihr zu peinlich, zwei deutsche Wanderer zu bitten, ihnen Bescheid zu sagen. Warum ihre Füße? Warum mussten von sechs möglichen Füßen ausgerechnet ihre beiden diejenigen sein, die mit diesem endlosen Wanderweg voller Äste nicht zurechtkamen?
Während sie über Äste kraxelte und steinige Pfade erklomm, zählte sie bis zehn, nahm einen tiefen Atemzug und ging weiter.
Einige Techniken, die sie in der Therapie gelernt hatte, erwiesen sich jetzt als nützlich. Sie konnte innerlich Abstand nehmen und mit der Situation klarkommen. Aber wenn man dauernd innerlich Abstand nehmen muss, weil man seine Füße zu Fetzen gelaufen hat und der eigene Ehemann einen – am Hochzeitstag! – mit der besten Freundin im Stich lässt, dann fängt man an, mit zusammengebissenen Zähnen bis zehn zu zählen, und man fängt an, schnell und tief durch die Nase zu atmen. Und schließlich fängt man an zu schluchzen und einen Sprechgesang anzustimmen, der ungefähr wie folgt geht: »Dieses verdammte Arschloch! Diese verdammten Arschlöcher. Arschlöcher!«
Immer schlossen sie Sarah aus, wenn sie zusammen waren. Sie hatten eine gemeinsame Vergangenheit, sie hatten während ihres Studiums zusammengewohnt. Selbst jetzt schienen sie ein intuitives Verständnis füreinander zu haben und Sachen zu wissen, von denen Sarah nichts wusste und auf die sie liebend gern anspielten. Kyle hatte Dope mit Chas geraucht. Sie hatten gemeinsam »zwei Munros in der Tasche« (d. h. sie hatten grundlos zwei hohe Berge bestiegen). Sie hatten an der Uni eine Freundin namens Bridget gehabt. Sie mochten Pasta mit scharfen Würstchen.
Es überraschte und ärgerte sie, wenn sie dieselben Zeitungsartikel über die jüngste Schlacht um die Oppositionsführung gelesen hatten oder über einen bestimmten neuen Autorenfilmer, und endlos über solche Themen redeten.
All das war Sarah durch den Kopf gegangen, als sie ihren Rucksack vor dem Pub abnahm.
»Überraschung!«, schrien Krissie und Kyle aus einem Fenster im ersten Stock.
Aber sie hatte mehrere Stunden lang Schlechtes über die beiden gedacht, und es war gar nicht so leicht, sich zu freuen, als sie ihr das urige Zimmer zeigten, ein Glas Champagner einschenkten und sie drängten, in eine Wanne voller Badesalz und Schaumblasen zu steigen. Sie brauchte mehrere Minuten bei gedämpftem Licht in der Wanne, ehe sie aufhörte, die beiden über alles zu hassen, und allmählich begann, sie wieder zu mögen. Ihren Ehemann seit acht Jahren und ihre Freundin seit Ewigkeiten.
Als Sarah zum Abendessen hinunterging, war sie bereit für ein fantastisches Mahl und einen unterhaltsamen Abend.
Aber nach dem Garnelencocktail, den es als Vorspeise gab, und einem Glas australischen Cabernet Sauvignons kamen ihre Hassgefühle wieder hoch. Würden sie jemals aufhören, über die Uni zu sprechen? Was war so interessant an diesem Chas mit seinen schmierigen Haaren und großen Pupillen?
Ehe sie es recht bemerkte, hatte sie ihren Nachtisch verspeist und sagte: »Das war großartig, vielen Dank, aber ich bin erschöpft. Ich haue mich dann mal hin.«
Kyle reagierte angemessen, das musste sie ihm lassen: Mindestens dreimal bot er ihr an, mitzukommen. Aber sie lehnte ab … »Nein, nein, ihr bleibt hier. Ich sehe euch dann morgen.«
Während der nächsten Stunden lag sie kochend vor Wut im Bett. Wie hatte Kyle sie nur an ihrem Hochzeitstag allein ins Bett gehen lassen können? Es ist Pflicht, am Hochzeitstag miteinander zu schlafen; unter keinen Umständen sollte man das ignorieren.
Schließlich zog sie sich wütend an und ging nach unten. Zu ihrer Überraschung war niemand in der Gaststube, und auch die Bar war leer. Alles war totenstill.
Sie schaute aus dem Fenster in den Garten – nichts als Dunkelheit.
Dann tauchte wie aus dem Nichts das Gesicht von Matt hinter der Scheibe auf. Sarah fuhr zurück und sah, wie Matt sich umdrehte und auf sein Zelt zusteuerte.
Ihr Herzschlag normalisierte sich schließlich wieder, und sie wandte sich der nun anstehenden Aufgabe zu. Wo konnten sie hingegangen sein?
Aber in Wahrheit wusste sie es. Es war offensichtlich, wo sie waren.
Sarah ging mit angehaltenem Atem die Treppe hoch. Es schienen Stunden vergangen zu sein, ehe sie endlich im ersten Stock angekommen war. Sie schluckte, als sie den Gang hinab zu Krissies Zimmer schlich.
Sie blieb stehen und drückte langsam die Türklinke nach unten.
Öffnete langsam die Tür.
Ging langsam auf das Bett zu.
Machte blitzschnell das Licht an.
Aber niemand war da. Komisch, sie fühlte sich beinahe enttäuscht. Vier Stunden lang hatte Sarah sich ausgemalt, wie sie die beiden in flagranti erwischen würde. Sie hatte geplant, selbstgerecht zur Tür hinauszustolzieren. Sie hatte sich lebhaft vorgestellt, wie sie ihr Haus verkaufen und für immer nach Frankreich ziehen würde (samt nettem dreißigjährigem Nachbarn namens Jean-Luc, der ihr erst körbeweise Auberginen und dann mehrere Babys schenken würde).
All das würde jetzt nicht mehr passieren, und das war enttäuschend.
Sarahs Therapeutin hatte ihr diese Art des Denkens erklärt, die typisch für sie war. Wenn Kyle spät von der Arbeit kam, steigerte sie sich in ihre Sorgen hinein und stellte sich vor, dass er tot am Straßenrand oder ermordet in einer Tiefgarage läge. Frau Therapeutin hatte gesagt, dass solche Vorstellungen nicht auf Sorge beruhten, sondern auf Wut. Wenn Kyle sich verspätete, dann fühlte es sich besser für sie an, sich vorzustellen, dass ihm jemand die Kehle durchtrennt hatte oder dass ihn ein entflohener Sträfling vergewaltigt hatte, bis ihm der Anus eingerissen war. Es war Wut, und es war nicht gesund – erinnern Sie sich an die Techniken?
Also ging Sarah wieder hinab in die Stube. Sie zählte bis zehn und atmete eine gefühlte Ewigkeit tief ein und aus.
Gerade als Sarahs Herzfrequenz sich wieder beruhigt hatte, kamen Krissie und Kyle kichernd und verdreckt ins Foyer. Sobald sie Sarah sahen, verwandelte sich ihr sorgloser Gesichtsausdruck. Sie sahen nun aus wie ungezogene Schulkinder.
»Sarah!«, sagte Kyle.
»Matt läuft da draußen herum! Glaubst du, dass er ein Serienmörder ist?«, fragte Krissie. »Er hat dieselben Sachen an – immer noch diese Khaki-Shorts –, und seine Hände sind riesig!«
»Guck mal, was wir gefunden haben!«, sagte Kyle.
Sie zeigten ihr einen Beutel voller schmutziger Pilze.
»Lasst es uns tun!«, sagte Kyle.
»Was?«, fragte Sarah, als sie den Beutel von Krissie entgegennahm, um einen Blick hineinzuwerfen.
»Berauschende Pilze! Sie wachsen überall!«
Es folgte ein Streit, der sich wie folgt zusammenfassen lässt:
Sarah: »Wie alt bist du eigentlich?«
Kyle: Rollt die Augen.
Krissie: Wirft Kyle ein wissendes Lächeln zu.
Sarah: Bemerkt den Blickwechsel, schleudert Kyle den Beutel mit Pilzen entgegen und schreit: »Zur Hölle mit euch Arschlöchern.« Dann stakst sie die Treppe hoch.
Als sie kochend vor Wut im Bett lag, analysierte Sarah ihre scharfe Replik auf die ihr eigene, peinlich bemühte Art. »Zur Hölle« brachte nicht annähernd das Ausmaß und die Komplexität ihrer Beschwerde zum Ausdruck. Sie konnte gar nicht begreifen, dass das alles gewesen war, was sie gesagt hatte. Ebenso wenig konnte sie begreifen, dass niemand ihr nach oben gefolgt war, um sie um Verzeihung zu bitten. Es war, als ob sie nicht existieren würde. Wenn die Dinge sich morgen nicht entscheidend besserten, dann würde sie gehen. Würde gehen und diesen dämlichen Urlaub beenden. Würde Kyle verlassen und Schottland. Würde vielleicht – so dachte sie, wie sie es manchmal tat – sogar diese Welt verlassen.
Sie war so müde vom Weinen, dass sie einschlief und nicht hörte, wie Kyle hereinkam. Sie erwachte jedoch kurz darauf mit einem ungewohnten, wundervollen Gefühl. Nach einem Augenblick halbwacher Seligkeit wurde ihr bewusst, dass Kyle sie dort leckte, wo er sie niemals zuvor geleckt hatte. Sie war entsetzt über das, was er tat, und schlug ihm auf den Kopf.
»Igitt. Was machst du da? Was stimmt nicht mit dir? Hast du diese Pilze gegessen?«
»Nein!« Kyle tauchte auf und rieb sich den Schädel. »Ich dachte nur, ich mach mal was anderes.«
»Du dachtest, du ›machst mal was anderes‹! Herr im Himmel, Kyle, du ignorierst mich während unserer gesamten Hochzeitsnacht und dann – igitt! Geh dir die Zähne putzen!«
Kyle tat, wie ihm geheißen. Dann schlief er ein.
***
Während des Frühstücks am nächsten Morgen kicherten Krissie und Kyle wie blöd, weil der pedantische Gastwirt all den Nippes auf Regalen und Simsen und Kaminen und Fensterbänken neu ordnete.
Warum lachten sie? fragte sich Sarah. Lachten sie sie aus? Welche kleinen Geheimnisse teilten sie miteinander? Was war so verdammt komisch an dem Nippes auf den Fensterbänken?
So gerne sie laut geschrien hätte, aß Sarah doch ruhig weiter. Sie gab der ganzen Geschichte noch einen Tag. Sie würde vernünftig und logisch sein, und sie würde versuchen, den Urlaub zu retten.