»Bitte, Chas, bring mich nicht dazu, hinzugucken.«
Aber seine sanfte Hand und der Ausdruck auf seinem Gesicht brachten mich doch dazu, aufzustehen und ihm zu der Öffnung zu folgen.
Im Schatten der Felskante war es dunkel, und einen Moment lang sah ich nichts als Schwärze. Ich ging näher heran, und mir graute vor dem Anblick meiner besten Freundin Sarah, die ich umgebracht und hier zurückgelassen hatte. Ich war jetzt näher dran. Mein Kopf steckte in der Finsternis und meine Augen gewöhnten sich langsam an die Schwärze. Und jetzt sah ich etwas, etwas Weißes, Rotes …
»Krissie! Krissie, wach auf! Krissie, kannst du mich hören?«
Chas und einer der Kommissare tauchten über mir in meinem Blickfeld auf, und der riesige Himmel war blau und unschuldig für den kurzen Moment zwischen Bewusstlosigkeit und Realität.
Ich fuhr hoch und saß kerzengerade da.
»O Gott. Was? Wie?«
Dem Gesichtsausdruck des Kommissars nach zu urteilen, empfanden wir alle dasselbe: Wir alle wollten entsetzt losschreien angesichts der Blutlache, in welcher der Leichnam schwamm, des geöffneten Mundes, vor dem eine acht Zentimeter große Spinne inmitten ihres perfekt symmetrischen Netzes saß, angesichts der Sehnen, die aus den Stümpfen der abgetrennten Arme hingen, und der ausgestochenen Augen von Doktor Kyle McGibbon.
Chas brauchte eine Weile, bis er mich überzeugt hatte, dass ich Kyle nicht getötet hatte. Ich bekam das einfach nicht in den Kopf. Wie konnte Kyle sonst in die Felsspalte gelangt sein? Schließlich war ich seit dieser unerlaubten Vögelei völlig von der Rolle gewesen. Vielleicht war es Kyle gewesen, den ich gestoßen hatte, nicht Sarah? Vielleicht war Sarah an dem Abend nicht einmal auf der Klippe gewesen?
»Sarah war hier«, sagte Chas und zeigte in Richtung der Kriminalbeamten, die ein Stück Damenunterwäsche in eine Plastiktüte steckten.
»Oh Mann«, sagte ein Kriminaler, während er Sarahs verdreckte Unterhose zwischen zwei behandschuhten Fingern weit von sich weghielt.
***
Die polizeiliche Untersuchung kam mit dem Eintreffen des Hauptkommissars in Gang. Ich saß da und sah zu, wie sie überall schnüffelten und pinselten, ehe sie uns an den Ort zurückbrachten, wo alles begonnen hatte: das Kingshouse Hotel, wo wir zugeschaut hatten, wie Deutschland gegen England gewann, wo ich unter Kyles stoßendem Körper gelegen hatte, und wo ich in die Dunkelheit geflohen war, beschämt darüber, dass Sarah recht hatte, als sie sagte, dass ich es nicht verdient hatte und nicht wert war, eine Mutter zu sein.
Die Polizei schlug ihr Lager in dem Hotel auf und setzte alle in einer Reihe auf Stühle, um sie nacheinander zu verhören. Ich sah mich um.
Der einzige Mensch, an den ich mich wirklich erinnerte, war die blonde Kellnerin, die an dem Abend, als alles begann, mit Matt auf der Tanzfläche herumgeknutscht hatte. Und das machte mich nachdenklich.
Matt. Er war dagewesen, als ich an jenem Morgen fortgegangen war. Er hatte etwas gesagt – Kyle solle besser aufpassen, wie man in den Wald ruft, so schallt es heraus. Er hatte mich fast vergewaltigt. Er hatte mich mit bösem Blick in Inverarnan und in genau diesem Hotel angesehen. Er hatte uns nachgestellt. Vielleicht hatte er Kyle getötet. Vielleicht war er sexuell so abnormal, dass er Sarahs Leiche genommen hatte und … O mein Gott, was hatte er mit Sarahs Leiche getan?
Ich lief in das Verhörzimmer und erzählte ihnen von Matt, und dann hörte ich zu, wie der Kommissar die Polizeidirektion der Highlands anfunkte.
»Wir suchen nach einem fünfundzwanzig Jahre alten Mann, blaue Augen, blondes, verfilztes Haar, Wanderkleidung, mit einer Tätowierung ›Love‹ auf dem linken Oberarm, sehr großen Händen, der ein rotes Zelt auf seinem graublauen Rucksack trägt und vermutlich mit Khakishorts und einem hellgelben T-Shirt bekleidet ist, auf dem in schwarzem Kursivdruck ›Ich bin nicht schwul!‹ steht.«
Durch das Funkgerät prasselte ein unregelmäßiges Rauschen: »Haben Sie es nicht etwas genauer?«, gluckste die Stimme.
Ich wartete in der Bar, während das restliche Hotelpersonal der Reihe nach befragt wurde. Sie sahen mich alle argwöhnisch an, vor allem die Kellnerin, mit der Matt zusammen gewesen war. Nicht bloß argwöhnisch, sondern wütend, als ob sie »irre Mörderschlampe« sagen wollten.
Das Verhör der Kellnerin schien endlos lange zu dauern, aber schließlich öffnete sich die Tür. Es war nicht die Kellnerin, die zum Vorschein kam. Es waren die Kommissare – und sie riefen nicht den nächsten Hotelmitarbeiter auf, sondern kamen direkt auf mich zu. Was würden sie sagen? Hatten sie Matt gefunden? Ihn festgenommen? Würden sie sagen, dass er auch andere Morde gestanden hatte? Dass er Sarahs Leiche in seinen feuchten kleinen Keller geschafft hatte, um einen Satz Kaffeebecher aus ihren Oberschenkelknochen zu machen?
Einer der Polizisten führte mich in den behelfsmäßigen Verhörraum und setzte mich neben Matts kellnerndes Vögelchen.
»Krissie, Sie werden wegen Körperverletzung angeklagt. Vielleicht wegen des Versuchs der Rechtsbeugung. Aber Sie sind keine Verdächtige.«
»Sie haben Matt gefunden«, sagte ich nickend.
»Nein. Matt ist völlig unschuldig.«
»Sarah McGibbon …«
»Ja?«
»Sarah McGibbon lebt.«